Unbewusstes bei Hahnemann und Freud ein Vergleich

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Jutta Gnaiger-Rathmanner Lebenskraft und ES Unbewusstes bei Hahnemann und Freud ein Vergleich Homöopathie und Psychotherapie sind im praktischen therapeutischen Alltag näher zusammengerückt. Hat schon Hahnemann über psychiatrische Patienten, behandelt mit Homöopathika, berichtet, so wenden sich psychisch kranke Patienten zunehmend häufig an die Homöopathie, sei es, um primär einen homöopathischen Therapieversuch zu starten, sei es, um Hilfe bei der Reduktion oder beim Ausschleichen einer laufenden Therapie mit Psychopharmaka einzuholen. Daraus entsteht die Aufforderung, die Grundlagen beider Therapieformen vergleichend zu durchforsten. Die Unterschiede der Settings sind bekannt, doch stoßen wir auch auf wichtige Gemeinsamkeiten. Unbewusstes ist in beiden Konzepten von Bedeutung. Dies soll in dieser Arbeit genauer untersucht werden. Grundlegend für diese Arbeit ist mein Buch: Homöopathie bei Psychotrauma, an dem sich die vorliegende Frage entwickelt hat. Es sind auch von Psychiatern/Psychotherapeuten, die homöopathisch arbeiten, viele Heilerfolge mit dem Simile dokumentiert und veröffentlicht worden: Ingrid Pfanzelt, Nikolaus Hock, Hansjörg Heé, um einige zu nennen. 1

Die Lebenskraft bei Samuel Hahnemann Zur genauen Bestimmung der Eigenschaften der Lebenskraft dient das Organon. Die wichtigsten Hinweise sind in den ersten Paragraphen enthalten. Es gibt dazu zunächst zwei Aspekte: die Lebenskraft im gesunden Organismus und im Krankheitsfall. Eigenschaften und Wirken der Lebenskraft nach Hahnemann im Organon Im gesunden Zustande 9 geistartig als Dynamis belebend Autokratie unumschränkt harmonisierend 10 immateriell bewirkt die Lebensverrichtungen verleiht dem Organismus Empfindung 11 im Organismus überall anwesend selbsttätig 15 unsichtbar im Inneren instinktartig ordnend 2

Im Krankheitsfall zeigen sich weitere Eigenschaften der Lebenskraft 7 Das innere Wesen der Krankheit, das Leiden der Lebenskraft 11 Wenn der Mensch erkrankt, so ist ursprünglich nur diese Lebenskraft verstimmt. Es ist die Rede von: einem lebensfeindlichen dynamischen Einfluss eines krankmachenden Agens, dem verstimmten Lebensprinzip dieses bewirkt die Krankheit dem bloß an seinen Wirkungen erkennbaren Kraftwesen die Lebenskraft es äußert sich in Krankheitssymptomen in Gefühlen und Tätigkeiten Weckt diese Zuordnung von Eigenschaften für die Lebenskraft das Interesse des Lesers, wird es ihm leicht fallen, diese im originalen Kontext des Organons wiederzufinden. Es wird ihm auch gelingen, die Betonung zweier wesentlicher Eigenschaft der Lebenskraft bei Hahnemann zu verfolgen: sie ist zum Einen geistartig und belebt, und sie ist zweitens unsichtbar, autokratisch, instinktartig, im Inneren tätig, dem inneren Wesen zugehörig. in heutigen Worten also unbewusst im Organismus tätig. Was insbesondere als Position Hahnemanns festzuhalten ist: das Leben per se nimmt eine eigenständige Dimension im gesamten Menschenbild ein. Dort spielt es sich nach seinen spezifischen Gesetzmäßigkeiten ab. Es bildet im Menschen die Basis für alle weiteren höheren Funktionen (siehe auch 9 des Organon). Es ist der Träger von Gesundheit, aber auch jedes Krankheitsmoments und des Krankheitsverlaufs. Konsequenterweise spielt sich auch in dieser Region echte Heilung ab, für Hahnemann, neben der Selbstheilung, allein der Wirkung des homöopathische Simile zuzuschreiben. 3

Das unbewusste ES bei Sigmund Freud Folgen wir den Ausführungen eines Lehrers der Psychoanalyse, Siegfried Elhardt aus München. Freud hat der Seele des Menschen drei Schichten zugeordnet. Das Über-Ich, das Ich und das ES. Das ES gehört dem Unbewussten des Menschen an, zählt als ein Teilbereich des gesamten menschlichen Unbewussten. Es ist eine Instanz intrapsychischer Art. Es ist Freuds Verdienst, das Unbewusste zum Focus der Seelenforschung gemacht zu machen. Das ES ist Speicher für frühkindliche Erlebnisse. Prägende Eindrücke der Früherfahrungen aus der Kindheit machen das Persönlich-Unbewusste aus, neben den phylogenetischen Inhalten, der archaischen Erbschaft. C. G. Jung schuf für Letzteres den Begriff des kollektiven Unbewussten. Dies ist ein gesunder Vorgang. Das ES ist der älteste psychische Bereich. Freud wandte sich vor allem den krankhaften, psychopathologischen Vorgängen zu: sie entstehen durch Verdrängen von Seeleninhalten ins Unbewusste. Dort finden sich jene Inhalte, die in irgendeiner Lebensphase ins Bewusstsein vordringen wollten bzw. vordrangen, jedoch abgewehrt und ins Unbewusste verdrängt wurden durch den Zensor (in der späteren Nomenklatur: durch die Abwehrmechanismen des ICH). (Elhardt S. 22) Als Symptome und Zeichen für Verdrängung gelten Ängste, Zwänge, Neurosen und Trauminhalte. Das Es... ist nach Freud das Reservoir der primitiven Motive und Triebe, vor allem der sexuellen und aggressiven Kräfte. Es hängt eng mit dem somatisch-biologischen Bereich zusammen und enthält auch die erblichen Dispositionen. Es ist das eigentliche Kräftepotential. Im topologischen Modell entspricht es einem Teilbereich des Unbewussten; auch das Es steht als ältester psychischer Bereich unter der Herrschaft des Lustprinzips, will sofortige und vollständige Triebbefriedigung ohne Rücksicht auf Objekt, Realitätskontext und Folgen für die Eigenperson. Es kennt keine Vergangenheit und Zukunft, 4

keine Logik und Kausalität, keine Beständigkeit und Moral. Es ist unbelehrbar und unausrottbar, aber in ihm leben die dynamischen Urkräfte, aus denen heraus unser Leben energetisch gespeist wird, aber auch alle die Inhalte, die bereits einmal vorbewusst und bewusst waren, aber verdrängt wurden....die relativ starre Instinktwelt (alles aus Elhardt, S.32) Die Lebenskraft und das ES in Gegenüberstellung Der Psychiater Freud bezieht sich mit seinem ES-Begriff vor allem auf ein Erklärungsmodell für die Psychopathologie seiner Zeit. Er beschränkt sich auf den intrapsychischen Bereich, auf die Erforschung von Seelenvorgängen. Beim Arzt Hahnemann finden wir zuerst eine allgemeine Beschreibung des Wirkens der Lebenskraft im gesunden Zustand, dann folgen die Ausführungen über den Krankheitsfall. Psychische und somatische Vorgänge werden in gleicher Weise berücksichtigt. Mögen der Einfluss des Zeitgeistes und die Fragestellung bei beiden Persönlichkeiten unterschiedlich ausfallen, so lässt sich doch ein gemeinsames Verständnis vom Heilgeschäft entdecken. 1. Das Wirken von Lebenskraft und ES im Gesunden: Zuerst sollen die Eigenschaften des ES aus dem Zitat von Elhardt mit den Eigenschaften der Lebenskraft, wie sie das Organon anführt, gegenübergestellt werden. Das Unbewusste ES bei Freud Das Reservoir der primitiven Motive und Triebe Vor allem der sexuellen und aggressiven Kräfte Hängt eng mit dem somatisch-biologischen Bereich zusammen Lebenskraft bei Hahnemann triebhaft belebend 5

Das Unbewusste ES bei Freud Enthält die erblichen Dispositionen Disposition Es ist das eigentliche Kräftepotenzial will sofortige und vollständige Triebbefriedigung ohne Rücksicht auf Objekt, Realitätskontext und Folgen für die Eigenperson kennt keine Vergangenheit und Zukunft keine Logik, keine Kausalität keine Beständigkeit, keine Moral Unbelehrbar, unausrottbar, in ihm leben die dynamischen Urkräfte Eine starre Instinktwelt Lebenskraft bei Hahnemann erblich vital, dynamisch reflexartig, triebhaft selbsttätig zeitlos, Dauer selbsttätig selbsttätig dynamisch, belebend instinkthaft Diese Gegenüberstellung deckt die vielen Entsprechungen der beiden Konzepte auf, auch wenn der Focus sich unterscheidet. Freud zielt auf die Beschreibung der unbewussten Seelenanteile. Hahnemann gründet seine Methode auf den Boden der gesamten Vitalsphäre, deren hervorstechendes Merkmal ebenso das Unbewusstsein ist. 2. Das Verständnis von Krankheitsentstehung in beiden Modellen Die Lebenskraft bzw. das Unbewusste sind der Boden für Krankheitsentstehung und Heilung. Es soll noch ein Blick darauf aus der Sicht der beiden Konzepte geworfen werden. Das Wirken der Lebenskraft im Krankheitsfall zitiert aus dem Organon 6

In 7 ist vom nach außen reflektierenden Bild des inneren Wesen der Krankheit, d..i. das Leiden der Lebenskraft die Rede. Das gilt unter Beachtung der Nebenumstände, womit auf Ätiologie und Miasma von 5 verwiesen wird. 11 führt den Ansatz weiter aus: Wenn der Mensch erkrankt, so ist ursprünglich nur diese geistartige, in seinem Organismus überall anwesende, selbsttätige Lebenskraft (Lebensprinzip) durch den dem Leben feindlichen dynamischen Einfluss eines krankmachenden Agens verstimmt; nur das zu einer solchen Innormalität verstimmte Lebensprinzip kann dem Organismus die widrigen Empfindungen verleihen und ihn so zu regelwidrigen Tätigkeiten bestimmen, die wir Krankheit nennen... Das psychodynamische Krankheitsmodell der Tiefenpsychologie Sitz der Krankheit ist das ES, das Unbewusste. Krankheit entsteht durch einen Auslöser, eine Ätiologie, nämlich durch das Verdrängen von Seeleninhalten ins Unbewusste: In ihm (dem ES) leben alle die Inhalte, die bereits einmal bewusst und vorbewusst waren, aber verdrängt wurden. (Elhardt, S. 32) 3. Das Verständnis von Heilung folgt bei beiden Methoden daraus. Freud wie Hahnemann betonen in gleicher Weise, dass die von ihnen beschriebenen Krankheitsprozesse niemals durch die autonomen Selbstheilungskräfte (der unbewussten Lebensvorgänge) dauerhaft genesen. Das heißt: Ohne gezielte Therapie ohne Heilkunst keine Heilung. Zusammenfassend hat sich bisher gezeigt: Die Lebenskraft ist bei Hahnemann mit vielen Eigenschaften beschrieben, die sich bei Freud finden in seiner Definition des unbewussten ES. Auch die Vorstellung der Dynamik bei Krankheitsentstehung, Krankheitsverlauf und Hei- 7

lung zeigen so manche Übereinstimmung, in dem Sinn, als sich alle diese Prozesse dynamisch auf dem Boden der Lebenskraft bzw. des ES abspielen. Das Aufzeigen dieser Entsprechungen von Lebenskraft und ES soll nicht bedeuten, dass ab jetzt diese beiden Begriffe vereint werden müssten. Aber eine Frage stellt sich: Lässt die Übereinstimmung der beiden Begriffe die Schlussfolgerung zu, dass beide Elemente, Lebenskraft wie ES, in der gleichen Schicht des ganzheitlichen Menschbildes angesiedelt sein könnten? Die Verortung des Unbewussten im Menschenbild In einem ganzheitlich angelegten Menschenbild lassen sich vier Schichten/Sphären erfassen: der unbelebte, tote Körper die Lebenskraft, heute als Lebenssphäre, als Vitalleib oder als Region der Eigenregulation fassbar die als bewusst erlebte Seelentätigkeit der Geist, die Region des unantastbaren Individuums und seines Wesens. Sowohl Lebenskraft als auch unbewusstes ES sind derselben Region zuzuordnen, der Lebenssphäre. Die Lebensvorgänge in Pflanze, Tier und Mensch laufen dort im Unbewussten ab, autoregulativ, selbsttätig. Das unbewusste ES der Tiefenpsychologie, der Seelenheilkunde mit seinen Attributen deckt insbesondere denjenigen Teilbereich der Lebenssphäre ab, der sich in der Nähe der Seelenfunktionen befindet. Die Lebenskraft bei Hahnemann entspricht der Ebene der Lebenssphäre im Gesamten. Es ist zu bedenken, dass Hahnemann als praktizierender Arzt spricht und denkt. Er bezieht somit beim Menschen auch die physischen Gegebenheiten seiner Existenz, den Körper ein. Dieser sei von der Lebenskraft ganz durchdrungen, solange er belebt und lebendig ist. 8

Das bedeutet, dass die Lebenskraft bei Hahnemann sich auf alle Ebenen der Vital-Sphäre bezieht, sowohl in ihrer Berührung mit dem Körperlichen als auch mit dem Seelischen. Sie ist weiter gefasst als das unbewusste ES bei Freud. Resümee Die Lebenssphäre ist der Ort, an dem sich Krankheit, Therapie und Heilung ereignen. Jede Art von chronischer Krankheit hat ihren Sitz und Ursprung in der vitalen Lebenssphäre, sprich auf der Ebene der Regulation. Nachhaltige Heilung geschieht ebenso dort, in der Region der Lebenskraft, und nur dort. Daraus folgt, dass jede effiziente Therapie die Ebene der Lebensvorgänge ansprechen muss. Beide Therapiekonzepte fußen auf einem dynamischen Krankheitsmodell und Menschenbild, welches das Unbewusste am Menschen einbezieht. Die Therapieansätze beider Methoden unterscheiden sich bekanntermaßen wesentlich: Homöopathie arbeitet mit der potenzierten Arznei im Sinne einer gezielten Regulationsmedizin. Die klassische Psychotherapie bedient sich der Gesprächstherapie mit dem Einstieg über den kognitiven Bereich im Bewusstsein des Patienten. Ein Grundwissen aus der Psychotherapie muss jedem Homöopathen heute empfohlen werden. Kenntnisse aus der Regulationsmedizin können umgekehrt dem Psychotherapeuten dienlich sein. Nichts spricht gegen eine Polypragmasie in Bezug auf die beiden Methoden, wegen ihrer gemeinsamen Tiefgründigkeit, und ebenso wegen ihrer Verschiedenartigkeit. Wo Gesprächs- oder Traumatherapie angezeigt sind, soll diese zeitgleich zur homöopathischen Therapie empfohlen werden. Umgekehrt sollte nichts im Wege stehen, wenn ein Patient sich Homöopathie im Rahmen eines psychiatrischen Therapiemanagements begleitend oder prophylaktisch wünscht. Eine Präzisierung der beiden Standpunkte fördert den interdisziplinären Dialog, die gegenseitige Wertschätzung und die fruchtbare Zusammenarbeit zugunsten des Patienten. 9

Literatur Elhardt, S.: Tiefenpsychologie. Eine Einführung, Kohlhammer/ Urban, Stuttgart, 17. Auflage, 2011 Gnaiger, J., Mayr R.: Homöopathie bei Psychotrauma, Haug, Stuttgart 2012 Hahnemann, S.: Organon der Heilkunst, textkrit. Ausgabe der 6. Auflage, hrsg. von J. M. Schmidt, Haug, Stuttgart, 6. Aufl., 1999 (früher Richard Haehl 1921) Heé, H., Foerster, G.: Homöopathische Behandlung im Jugendalter, Haug, Stuttgart 2008 Pfanzelt, I.: Homöopathie und Psychotraumatologie, Haug, Stuttgart 2015 Der Artikel ist ein Auszug zweier Vorträge: 1. Kommt die Homöopathie ohne das Unbewusste ES aus? Gehalten in Arbon, Schweiz, 17. Mai 2014, Tagung von ÖGHM (Österreichische Gesellschaft für Homöopathische Medizin) und SVHA (Schweizer Verein Homöopathischer Ärztinnen und Ärzte) 2. Weisen die Lebenskraft und das ES der Psychotherapie Gemeinsamkeiten auf? Denkwerkstatt Wien, 6. März 2015, Leitung: Susanne Diez Anschrift der Verfasserin: Dr. med. Jutta Gnaiger-Rathmanner, A-6800 Feldkirch, Hirschgraben 15 dr.jutta.gnaiger@aon.at 10