Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich! (Art. 3, Abs. 1 GG)

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Transkript:

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich! (Art. 3, Abs. 1 GG) Parlamentarischer Abend der BAGüS zur Gleichstellung behinderter Menschen in der Pflegeversicherung 19. September 2016

Inhalt Zusammenfassung des Seite 3-5 Gutachtens von Prof. Dr. jur. Felix Welti, Universität Kassel Position der BAGüS und Seite 6 7 der kommunalen Spitzenverbände Impressum Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe (BAGüS) Vorsitzender: Matthias Münning Warendorfer Straße 26-28, 48133 Münster, www.bagues.de - 2 -

Zusammenfassung des Gutachtens von Prof. Dr. jur. Felix Welti, Universität Kassel Die Sonderregelung der Pflegeversicherung in Wohneinrichtungen für behinderte Menschen nach 36 Abs. 1 Satz 2, 43a Sozialgesetzbuch (SGB) Elftes Buch (XI) Soziale Pflegeversicherung und die Einschränkung des Wahlrechts zwischen Behinderteneinrichtungen und Pflegeeinrichtungen nach 55 Sozialgesetzbuch (SGB) Zwölftes Buch (XII) Sozialhilfe Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz (GG) und der Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) 1. Rechtliche Würdigung Die Regelungen in 36 Abs. 1 Satz 2 2. Hs., 43a SGB XI sind verfassungswidrig. Sie verletzen behinderte pflegebedürftige Versicherte der Pflegeversicherung in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe nach 71 Abs. 4 SGB XI in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG, im Benachteiligungsverbot wegen einer Behinderung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und im allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG. Betroffen sind jedenfalls diejenigen behinderten pflegebedürftigen Versicherten in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe, die Selbstzahlerin oder Selbstzahler sind oder dem Träger der Sozialhilfe einen Kostenbeitrag zahlen müssen, der ohne diese Regelungen niedriger ausfallen würde. Betroffen sind weiterhin diejenigen behinderten pflegebedürftigen Versicherten in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe, deren Pflege in diesen wegen der Regelungen nicht sichergestellt werden kann und die deshalb auf stationäre Pflegeeinrichtungen verwiesen werden. Die Regelung in 55 Satz 2 SGB XII ist im Zusammenwirken mit 36 Abs. 1 Satz 2 2. Hs., 43a SGB XI verfassungswidrig. Sie verletzt behinderte pflegebedürftige Versicherte in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe in ihrem Recht - 3 -

auf Freizügigkeit nach Art. 11 Abs. 1 GG, soweit sie nur deshalb auf stationäre Pflegeeinrichtungen verwiesen werden, weil die Ansprüche auf häusliche Pflege nach 36 Abs. 1 Satz 2 2. Hs. SGB XI ausgeschlossen sind. Die Regelungen in 36 Abs. 1 Satz 2 2. Hs., 43a SGB XI und 55 Satz 2 SGB XII verstoßen im Zusammenwirken gegen das Diskriminierungsverbot in Art. 5 UN- BRK, gegen das Recht auf unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft nach Art. 19 UN-BRK und gegen das Recht auf Gesundheit nach Art. 25 UN-BRK. Es sprechen gute Argumente dafür, dass die Menschenrechtspakte allgemeine Regeln des Völkerrechts kodifiziert haben und deshalb ihre Inhalte Art. 25 GG unterfallen. Auch wenn dies nicht der Fall ist, sind Art. 5 UN-BRK und Art. 19 UN-BRK als unmittelbar anwendbar anzusehen. Die Verstöße gegen das Grundgesetz und die UN-BRK können von den betroffenen Personen auf dem Sozialrechtsweg gegen die Pflegekassen und die Träger der Sozialhilfe geltend gemacht werden. Halten die Gerichte eine der entscheidungserheblichen Normen für verfassungswidrig, haben sie den Rechtsstreit nach Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG vorzulegen. Eine Verfassungswidrigkeit könnte sich auch aus einem rechtsstaatswidrigen Normwiderspruch zur UN-BRK ergeben, wenn deren Normen als allgemeine Grundsätze des Völkerrechts nach Art. 25 GG oder aus anderen Gründen als unmittelbar anwendbar eingestuft werden. Die Sozialgerichte haben keine eigene Verwerfungskompetenz, auch wenn sie die UN-BRK für unmittelbar anwendbar halten. Ist für die Sozialgerichte zweifelhaft, ob eine Regel der UN-BRK eine allgemeine Regel des Völkerrechts nach Art. 25 GG ist, so hat es nach Art. 100 Abs. 2 GG die Entscheidung des BVerfG einzuholen. 2. Politische Würdigung 36 Abs. 1 Satz 2 2. Hs., 43a SGB XI und 55 SGB XII statuieren Sonderrecht für behinderte Menschen in Einrichtungen. Sie laufen damit nicht nur im beschriebenen Umfang dem Grundgesetz und der UN-BRK zuwider, sondern auch den politischen Bestrebungen der Behindertenpolitik, der Pflegepolitik und der Gesundheitspolitik, behinderte Menschen so weit wie möglich gleichzustellen, in die allgemeinen Institutionen einzubeziehen und Sondereinrichtungen abzu- - 4 -

bauen oder umzuwandeln. Bezogen auf Wohneinrichtungen für behinderte Menschen bedeutet dies, dass alle Sonderregelungen, die das Wohnen in ihnen vom Leben in anderen Wohnmöglichkeiten unterscheiden auf den Prüfstand gestellt werden müssen. Die Rechtfertigung der genannten Sonderregelungen lag von vornherein nicht zwingend in den Besonderheiten der behinderten Menschen, sondern in den historisch gewachsenen Besonderheiten der Einrichtungen und Hilfssysteme begründet. Mit den Veränderungen der Wohneinrichtungen und der angestrebten konsequenteren, vom Leistungsort gelösten Personenzentrierung der Leistungen zur Teilhabe sind sie nicht mehr vereinbar. In der Pflegeversicherung wurden Sonderregelungen für behinderte Menschen in Einrichtungen zudem damit gerechtfertigt, dass die Pflegeversicherung bei ihrer Einführung zunächst Leistungen für eine andere Zielgruppe sicherstellen sollte, die erst im Alter pflegebedürftig wurde. Diese Begründung war schon zur Entstehungszeit der Pflegeversicherung fragwürdig. Ihr politischer Sinn ist aber heute entfallen, wie auch an der bevorstehenden Reform der Leistungsvoraussetzungen nach dem SGB XI deutlich wird, mit der Nachteile für geistig und seelisch behinderte Menschen abgebaut werden sollen. Die rechtliche und politische Argumentation gewinnt an Glaubwürdigkeit, wenn sie konsequent nicht die Interessen der Einrichtungen und der Sozialleistungsträger, sondern die Wahlfreiheit der behinderten Menschen im Hinblick auf ihren Lebensmittelpunkt und die für sie erbrachten Leistungen in den Mittelpunkt stellt. Von diesem Standpunkt aus geht es nicht darum, ob die Pflege in Behinderteneinrichtungen oder Pflegeeinrichtungen besser ist, sondern es geht darum, die Beurteilung dieser Frage so weit wie möglich den auf Pflege angewiesenen Personen zu überlassen. Dies ist ein Grundgedanke der Pflegeversicherung ebenso wie des Rechts der Leistungen zur Teilhabe. Er sollte auch an der Schnittstelle beider Systeme gelten. - 5 -

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich! Diskriminierung behinderter Menschen in der Pflegeversicherung aufheben Inwiefern werden pflegebedürftige Menschen mit Behinderung in der Pflegeversicherung benachteiligt? Menschen mit Behinderungen sind wie Menschen ohne Behinderungen in der Regel in der Pflegeversicherung versichert und zahlen die vollen Beiträge. Trotzdem erhalten sie nicht die vollen Leistungen der Pflegeversicherung, wenn sie in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe wohnen. 43a SGB XI bestimmt, dass sie unabhängig vom Umfang der Pflegebedürftigkeit lediglich eine Pauschale bis zu 266 Euro pro Monat erhalten. Die Differenz zu den vollen Leistungen der Pflegeversicherung wird durch die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen aufgefangen. Sie ist verpflichtet, die Pflege mit abzudecken. Sind die Betroffenen nicht leistungsberechtigt in der Eingliederungshilfe, müssen sie die Differenz aus eigener Tasche tragen. Würden pflegebedürftige Menschen mit Behinderung nicht in der Behinderteneinrichtung leben, erhielten sie gestaffelt nach den Pflegestufen stationär ein Vielfaches, nämlich 1.064 in der Pflegestufe I, 1.330 in der Pflegestufe II und 1.611 in der Pflegestufe III bzw. 1.995 im Härtefall. Diese Ungleichbehandlung widerspricht nicht nur der UN-Behindertenrechtskonvention, sondern verstößt auch gegen das Diskriminierungsverbot in Artikel 3 Abs. 3 des Grundgesetzes. Wie viele Menschen sind betroffen? In Deutschland leben etwa 200.000 Menschen mit Behinderung in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe. Zirka 80.000 davon gelten als pflegebedürftig i. S. d. Pflegeversicherungsrechts. Durch die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs zum 01.01.2017 werden mehr Menschen als bisher leistungsberechtigt sein, da kognitive Beeinträchtigungen - 6 -

bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit stärker berücksichtigt werden als bisher. Dadurch kommt es insgesamt zu einer Erhöhung der Zahl der Leistungsberechtigten in der Pflegeversicherung. Dies gilt auch für Menschen in Wohneinrichtungen. Nach Expertenschätzungen steigt die Zahl der Berechtigten dort von 80.000 auf 140.000. Für die Betroffenen ist das Einlösen eines Versicherungsanspruchs vorzugswürdig im Vergleich zur Fürsorgeleistung der Eingliederungshilfe, bei der sie ihre Bedürftigkeit nachweisen müssen. Die BAGüS und die kommunalen Spitzenverbände fordern: Menschen mit Behinderung müssen unabhängig von ihrem Aufenthaltsort einen gleichberechtigten Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung haben. 43a SGB XI und die damit zusammenhängenden Vorschriften sind entsprechend zu ändern. Die Finanzierung in der Pflegeversicherung kann, muss aber nicht über eine Beitragserhöhung erfolgen. Denkbar ist auch ein Steuerzuschuss des Bundes, wie er in der Krankenversicherung und der Rentenversicherung erfolgt. Schließlich entlastet die steuerfinanzierte Eingliederungshilfe die Pflegeversicherung seit Jahren. Warum jetzt? Bundestag und Bundesrat beraten derzeit das Gesetz zur Reform der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung (Bundesteilhabegesetz - BTHG) und das Dritte Pflegestärkungsgesetz (PSG III), mit dem der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff auch in der Sozialhilfe eingeführt werden soll. Vorgesehen ist, dass beide Gesetze bis zum Jahresende 2016 verabschiedet werden. Die bisher vorliegenden Gesetzentwürfe sehen aber nicht nur ein Festhalten an der diskriminierenden Regelung des 43a SGB XI vor, sondern erweitern diese noch auf ambulante Wohngruppen. Der Gesetzgeber sollte die laufenden Gesetzgebungsverfahren nutzen, um die seit Jahrzehnten bestehende Benachteiligung pflegebedürftiger Menschen mit Behinderungen endlich aufzuheben. Berlin, September 2016-7 -