D. Lexik / Grundzüge der Wortbildung

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Transkript:

Seite 1 Elemente einer Frühneuhochdeutschen Kurzgrammatik D. Lexik / Grundzüge der Wortbildung Das Frnhd. ist u.a. gekennzeichnet durch das Streben nach Klarheit und Genauigkeit des Ausdrucks vor allem in den Bereichen der aufstrebenden Wissenschaften und der geistigen Reformbewegungen. Der als dringend notwendig erkannte Ausbau der Lexik griff vor allem auf die Möglichkeiten der Wortbildung zurück. Komposition, Derivation und Zusammenbildung wurden als leistungsfähige Wortbildungsarten erkannt. Baumaterial lieferte v. a. die überkommende Lexik, die z.t. mit neuen Inhalten versehen wurde. Fremd- und Lehnwörter werden mit Hilfe deutscher Wortbildungsmodelle zunehmend besser in das deutsche Sprachsystem integriert. Aus Sicht der Gegenwartssprache muss konstatiert werden, dass einerseits eine Vielzahl der frnhd. Wortbildungsprodukte morphosemantisch motiviert und ihre Bedeutungen damit prinzipiell erschließbar sind, andererseits sind große Teile dieses neu gebildeten Wortschatzes heute nicht mehr gebräuchlich. (vgl. Abb.1) 400 350 300 250 200 150 FWB Frnhd. Frnhd. + Nhd. 100 50 0 ab- aber- an- auf- aus- be- bei- Abb.1: Vorkommen präfigierter Substantive nach Belegen im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch, ihrem ausschließlichen Gebrauch im Frnhd. und ihrem Gebrauch sowohl im Frnhd. als auch im Nhd. (nach HSK 2 2, S.1562)

Seite 2 1. Allgemeine Tendenzen in der Wortbildung (Vgl. v.polenz, Deutsche Sprachgeschichte I, 193f.) zunehmende strukturelle Unterscheidung zwischen Flexions- und Wortbildungsaffixen Weiterführung der bereits im Mhd. beginnenden Ersetzung lautlich unauffälliger/ multifunktionaler Suffixe durch deutlichere. Konzentration der WB-Produktivität auf bestimmte Affixe und auf bestimmte WB- Typen (z.t. nach lat. Vorbildern) also einer Reduzierung der Polysemie von Affixen (eindeutigere Zuweisung von Funktionen zu einzelnen Suffixen) Häufung mehrerer Suffixe (z.b. -ig + - keit, -bar + -keit) und Kombination von Präfix und Suffix (be- -igen) allmähliche Entstehung neuer Suffixe aus Kompositionsgliedern und trennbaren Verbzusätzen als Mittel bestimmter Ableitungstypen noch schwach ausgebildete Tendenz zur Zusammenschreibung der Komposita; bis ins 18. Jh. wird noch vielfach der doppelte Bindestrich für Neubildungen verwendet. Den Anteil der verschiedenen Wortbildungsprodukte am frnhd. Wortschatz veranschaulicht Abb.2: Verben präf. Verben Substantive präf. Subst. Komposita Adjektive präf. Adjektive Abb. 2: Verteilung von Simplexwörtern und Wortbildungsprodukten nach dem Frühneuhochdeutschen Wörterbuch (nach: HSK 2.2., S.1561)

Seite 3 2. Wortbildung des Substantivs 2.1. Komposition Typisch für das Frnhd. ist die Neigung, syntaktische Gruppen zu Komposita zusammenzufügen (Tendenz zur Univerbierung). Die Komponenten befanden sich dabei in Kontaktstellung, die Akzentuierung verschob sich auf den ersten Teil des neuen Wortes. Besonders häufig begegnet das bei herkömmlichen Genitivfügungen: der frawen kirche die Frauenkirche des bûren hûs das Bauernhaus Die Zusammenschreibung setzte sich erst nach und nach durch eine oft gebrauchte Zwischenstufe ist die Bindestrichschreibung: Wort=Geboht (Opitz). Oftmals wird auch die zweite UK mit einer Versalie eingeleitet, vgl. HauptSprache (Schottel). Zusammensetzungen sind von Syntagmen unterscheidbar durch die Verwendung des vom Genus des Phrasenkopfes bzw. der 2. UK der Wortbildung abhängigen Determinierers: der frawen kirche = Genitivfügung die frauen kirche = Zusammensetzung Viele der Komposita (uneigentliche K.) enthalten als Relikte der Flexion noch ehemalige Flexionsmorpheme, die nun ihre Funktion verlieren und zu Fugenelementen werden: Kriegsknechte, Glaubenskampf, Gottslesterer, Strassenreuber, Schafskleider [alle Beispiele sind WBP M.Luthers] 2.2. Derivation - Die Suffixableitungen werden im Frnhd. maßgeblich beeinflusst durch die Auswirkungen der Endsilbenabschwächung, die die Vielgestaltigkeit der alten Flexionsmorpheme auf Endungen mit /e/ reduzierte. Das alte Derivationssuffix -e (ahd. -î) (heute noch in Höhe, Länge ) verliert dadurch an Klarheit. An seine Stelle treten zur Bildung von Abstrakta die schon im Mhd. zu Wortbildungsmorphemen grammatikalisierten Elemente -heit, -keit (ursprünglich aus -g + -heit), auch -ung, -schaft, -tum bzw. kombinierte WB-Morpheme: schöne schönheit, stete stetigkeit; schaerpffigkeyt Abstrakta auf -heit/ -keit (adjektivische Basis): einfältigkeit, schönheit, dunkelheit, stetigkeit Abstrakta auf -ung (verbale Basis): fälschung, wahrnemung, verhörung, verheissung Nomina agentis auf -er (verbale Basis) und -ling (adjektivische Basis): straffer, vnfleter, lasser, weichling, frembling Die Varianten -heit und -keit weisen im 14./15. Jh. noch eine andere Distribution auf als im späten Frnhd. und im Nhd.: -heit verbindet sich z.b. auch mit mehrsilbigen Basen: unlauterheit, bitterheit,... Während der frnhd. Sprachperiode werden weitere Substantive reihenbildend verwendet und rücken in die Nähe von Suffixen (Suffixoide), so etwa: -schaft, -tum, -werk, - zeug : bildtwerck, babstthumb, yrthum, junckferschafftt, steinwerck, ruestzeug - ehemals selbständige Wörter (und trennbare Verbzusätze) fungieren jetzt zunehmend als Präfixe: ab-: abgott, abhuld, abscheu aber-: aberacht, abervater, aberwiz, aberglaube affter-, haupt-, miss-, un- - Zusammenbildungen, also Wortbildungsprodukte, in denen ein Syntagma als Ableitungsbasis dient, dienen verstärkt dem Lexikausbau: muessiggaenger, scharpffboererlin, scheinverkauffung, menschwerdung

Seite 4 3. Wortbildung des Adjektivs Ausgebaut wird die adjektivische Lexik im Frnhd. in erster Linie durch desubstantivische Ableitungen. - typisch sind Suffixderivationen auf -bar,-ig, -lich, -haftig, vorübergehend (bis ins 18. Jh.) auch -icht (heute noch töricht), das unter Umständen wegen der Homophonie mit dem substantivischen Kollektivsuffix -icht (Dickicht) zugunsten von -ig aufgegeben wurde. Die verwendeten Suffixe, v. a. -bar, -lich, -sam konkurrieren im Frnhd., eine semantische Differenzierung wird erst im 18. Jh. greifbar. wunderbar, wunderlich, wundersam geltdorstig, standhaftig, schmeichelhaftig, wehrhaftig, bittlich, foerstlich, steinicht, zotticht - Der Verdeutlichung bzw. Abgrenzung von anderen Funktionen (Morphologie!) dient die Erweiterung des Suffixes -en zu -ern zur Bildung von Stoffadjektiven: mhd. hulzîn, hülzen hölzern, so auch beinern, silbern, ströhern Erhalten bleibt die alte Endung u.a.in: golden, seiden, fichten Diese Adjektive konnten dann als 1.UK in Substantivkomposita verwendet werden: das seiden gewant, das fichten bette. Offensichtlich wurde diese adj. Komponente der Determinatikomposita schon bald als substantivisch empfunden (-n- bildet dann ein Fugenelement) und konnte Grundlage für ein weiteres Bildungsmuster werden: Goldkette, Beinhaus etc.

Seite 5 4. Wortbildung der Verben 4.1. Transposition Die Ableitung von nichtverbalen (adjektivischen, substantivischen) Basen ist das am häufigsten gebrauchte Verfahren zur Bildung neuer (schwacher) Verben. Zur Anwendung kommen -en, -igen (bes. md.) - heute nicht mehr produktiv: bußen, festen, sünden, peinen; festigen, sündigen, heiligen, mäßigen -iren /-ieren ist vor allem in der frühneuzeitlichen Wissensliteratur anzutreffen, da es in erster Linie bei fremdsprachigen (lateinischen und französischen) Ableitungsbasen angewendet wurde: absoviren, alliciren, tituliren, fabuliren, disputiren, distillieren Oft wurde auch kombiniert mit Präfix /Präfixoiden (vgl. auch 4.2.): absteinen, ablausen, abzäunen, anklagen, auswintern aussenbleiben > ausbleiben 4.2. Modifikation Verbale Basen wurden im Frnhd. außerordentlich oft mit Präfixen/Präfixoiden versehen, um die Semantik zu differenzieren. Die neu gewonnenen Verben wurden oftmals ihrerseits zur Grundlage neuer Substantive. Häufig eingesetzte Präfixe sind: ab-: abhelfen, abfreien, abschatzen, abstimmen, abraten abfreiung, abstimmung an-: anmelden, anmuten, anneiden, anrichten, anrufen anmeldung, anmutung be-, ent-, ver-, zer-, Die eingesetzten Präfixe konkurrierten oft anfänglich, später setzte sich eine semantische Differenzierung der Wörter durch oder einer der Konkurrenten wurde ungebräuchlich. er- ~ ver-: ersterben / versterben; erhungern / verhungern; erschrecken / verschrecken