Warum wir wollen können, was wir sollen. Über die Bedingungen der Handlungsverantwortung in engster und weitester Reichweite.

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Transkript:

Warum wir wollen können, was wir sollen. Über die Bedingungen der Handlungsverantwortung in engster und weitester Reichweite. Zusammenfassung Nora Hangel Meine Dissertation untersucht, wie das Phänomen der Verantwortung in Personen überhaupt verankert ist und welche Bedingungen erfüllt werden müssen, damit Personen verantwortlich handeln. Daraus ergeben sich zwei Problemfelder: Erstens das Problem der Zurechenbarkeit: Wie Zurechnung begründet und von Zuschreibung abgegrenzt werden kann. Dabei greife ich die Diskussion von Bernd Ludwig 1 auf, der zeigt, wieso Kant in seiner praktischen Philosophie das Moralgesetz vor der transzendentalen Freiheit epistemisch priorisiert. Die Argumentation zeigt, warum die (Handlungs)Freiheit nicht unabhängig von unserem Bewusstsein, zur Moralität fähige Wesen zu sein, gesehen werden kann, sondern in Abhängigkeit unseres Sollens erkannt wird. Das zweite Problemfeld setzt diese Diskussion fort. Die Arbeit untersucht, welche Bedingungen in den Subjekten selbst angelegt sind und entwickelt werden müssen, um Verantwortung sich selbst und anderen gegenüber übernehmen zu können. Aus diesen zwei Problemfeldern ergeben sich drittens zeitgenössisch relevante Verantwortungsimplikationen, welche die Entwicklung moralischer Zuverlässigkeit hinsichtlich der engsten Reichweite der Selbstverantwortung und der weitesten Reichweite der Mitverantwortung auch gegenüber kommenden Generationen in den Blick nehmen. Die Beweisführung meiner Arbeit verläuft historisch von Kants älteren Schriften zu den neueren: Von Kants Religionsschrift, über die Tugendlehre in Kants Metaphysik der Sitten (MSTL), über die Kritik der praktischen Vernunft (KpV) bis zur Grundlegung der Metaphysik der Sitten (GMS) und der Kritik der reinen Vernunft (KrV). Dabei bildet die Reichweite der Verantwortung den die Arbeit überspannenden Bogen. 1 Ludwig, Bernd (2010) Die consequente Denkungsart der speculativen Kritik. Kants radikale Umgestaltung seiner Freiheitslehre im Jahre 1786 und die Folgen für die Kritische Philosophie als Ganze in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58 (4), S. 595-628. 1

1) Die Begründung der Zurechnungsfähigkeit: Um die Relevanz des Hauptarguments dieser Arbeit hervorzuheben, muss zunächst kurz erläutert werden, warum das Zurechnungsproblem dabei verwendet Kant den Begriff der Imputatio 2, das in der transzendentalen Deduktion der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft auch ohne Rückgriff auf die Sittlichkeit für geklärt schien, 1786 nicht mehr aufrecht zu erhalten war. Deshalb nimmt Kant in der Kritik der praktischen Vernunft eine Neuorientierung der Transzendentalphilosophie vor, diesmal mit veränderten Vorzeichen, d.h. Moralgesetz vor transzendentaler Freiheit. 3 Bis zum dritten Abschnitt der Grundlegung (GMS) von 1785 galt, zusammen mit der ersten Ausgabe der KrV 1781, die transzendentale Freiheit als Erkenntnisgrund (ratio cogniscendi) für das Moralgesetz. Bis dahin stand die transzendentale Freiheit für das Vermögen absoluter Spontaneität als Grund der Imputabilität und zwar ohne Rückgriff auf die Sittlichkeit. Diese Darstellungsmöglichkeit endete mit einer Rezension der ersten Ausgabe der KrV von Hermann Andreas Pistorius 1786, der darauf hinwies, dass es nach der transzendentalen Deduktion nicht möglich sei, innerhalb der nicht sinnlichen Anschauung (im intelligiblen Ich) ein Noumenon auszuweisen, weil dafür innerhalb des nicht erkennbaren Ding an Sich, das das Subjekt ohne auf den Substanzbegriff zu rekurrieren ist, keine Möglichkeit bestünde. Kant hat Pistorius Kritik dankend aufgenommen. 4 In der KpV 1788 wird dann das numero idem der transzendentalen Apperzeption in ein homo phaenomenon und ein homo noumenon aufgespalten, die in einen reflexiven Dialog im Ich treten können. Um die Einheit von transzendentaler Freiheit und Sittengesetz zu wahren, musste also das Sittengesetz der Erkenntnisgrund der transzendentalen Freiheit werden und nicht wie in KrV(A) und der GMS umgekehrt. Die Freiheit ist dann nur mehr bloßer Grund der Möglichkeit (ratio essendi) der Moralität, wohingegen im dritten Abschnitt der GMS die Autonomie die Freiheit zur ratio essendi des Moralgesetzes erhoben hatte, die als solche innerhalb der theoretischen Philosophie lediglich negativ bestimmt bleibt. Sie bekommt erst dann auch eine positive Bedeutung, wenn sie, wie Kant in der KpV zeigt, durch das Faktum der Vernunft bereits immer schon im Bewusstsein vorgefunden wird, und zwar ohne dabei die Erbittung eines Prinzips (petitio principii) zu begehen, was Kant im dritten Abschnitt der Grundlegung durch die Priorisierung der Freiheit ja vermeiden wollte. Das unbedingt 2 Vorlesung zur Moralphilosophie/Immanuel Kant Hrsg. von Werner Stark (2004) De Gruyter, S. 87ff. 3 Siehe Ludwig (2010) S. 608f, 617. 4 Siehe Ludwig (2010) S. 617. 2

Praktische hebt mit dem Bewusstsein des Moralgesetzes an und die Freiheit wird aus ihren Folgen erkannt. 5 Die epistemische Begründung, warum wir uns als zurechnungsfähig denken müssen, liegt genau in dem Punkt, dass uns die Freiheit erst durch das Bewusstsein, dass wir zur Moralität fähige Wesen sind, gegeben ist. Die Teilhabe am Intelligiblen ist so nicht mehr die hinlängliche Bedingung für die transzendentale Freiheit, und dadurch macht das intelligible Ich den Menschen zwar zur Person, aber nicht auch zur Persönlichkeit und die Vernunftfähigkeit ist folglich auch nur noch notwendige, aber nicht mehr hinreichende Bedingung für die Zurechnungsfähigkeit. Die Zurechnungsfähigkeit bekommt dadurch einen zentralen systematischen Stellenwert in der praktischen Philosophie. 6 2) Die Bedingungen für die Zurechnungsfähigkeit der Person als Selbst- und Mitverantwortliche. An diese Diskussion schließt die Argumentation an, die die Entwicklung der Bedingungen für Verantwortung in Personen als Selbstverantwortung und Mitverantwortung untersucht. Zudem kann gezeigt werden, dass die von Kant so genannte consequente Denkungsart sich bis in seine Spätphilosophie fortsetzt. Zunächst stellt sich die Frage wie vom Bewusstsein des moralischen Sollen-Können moralische Zuverlässigkeit entwickelt werden kann. Was sind die Bedingungen dafür, damit ein moralisches Sollen im Bewusstsein als ein eigenes, moralisches Vermögen als Selbstgesetzgebung wahrgenommen werden kann? Um einen intelligiblen Charakter zu entwickeln, bedarf es der Bedingungen für Verantwortung als Voraussetzungen für Selbstverantwortung. Sie bestehen einerseits (a) in den menschlichen Anlagen, (Physis, Vernunftfähigkeit und Zurechnungsfähigkeit), die entwickelt werden müssen, und andererseits (b) in den Gemütsbedingungen, welche die Voraussetzung dafür sind, dass ein Sollen überhaupt affiziert (passiv erwirkt) werden kann. 5 Vgl. Ludwig, B. (2010) S. 598. 6 Siehe Ludwig, B. (2010) S. 617 Fn. 39. 3

Zu 2 a) Erst die dritte Anlage die Zurechnungsfähigkeit ist jedoch, so kann gezeigt werden, auch die notwendige Bedingung für die Entwicklung der moralischen Zuverlässigkeit und so für den intelligiblen Charakter ausschlaggebend. 7 Sie muss auf die Entwicklung der zweiten Anlage der Vernunftfähigkeit aufbauen, denn ohne eine bestimmte Stufe an Vernunftfähigkeit, kann von Zurechnung nicht gesprochen werden. Genauso liefert die erste Anlage überhaupt die physischen Voraussetzungen dafür, dass sich Vernunftfähigkeit und Zurechnungsfähigkeit entwickeln können. Durch eine nun notwendig gewordene Unterscheidung zwischen bloß vernünftigen Wesen (homo phaenomenon) und Vernunftwesen (homo noumenon) kann der qualitative Schritt zwischen Vernunftfähigkeit, der für die Zuschreibung hinlänglich ist, und moralischer Zurechnungsfähigkeit dargestellt werden. So kann auch Zuschreibung von Zurechnung unterschieden werden. Die Zuschreibung ist an die Vernunftfähigkeit gebunden, die mit Hilfe guter Gründe handelt. Der empirische Charakter wird anders als der intelligible mit Hilfe allgemeiner Verhaltensregeln zu bilden versucht und zu pflichtgemäßem Handeln erzogen; er bleibt jedoch soziokulturell bedingt. 8 Die Zurechnungsfähigkeit ist in ihrer moralischen Dimension erst dadurch gegeben, dass Personen sich als zur Moralität vermögend bewusst sind (was gleichzeitig die aktuale moralische Zurechnungsfähigkeit von Kleinkindern und Personen mit bestimmten psychischen Einschränkungen begrenzt). Erst durch die Zurechnungsfähigkeit kann die moralische Verbindlichkeit auch hinreichend bestimmt werden. Die positive und transzendentale Freiheit ist epistemisch so wird argumentiert an das Bewusstsein gebunden, dass wir zur Moralität fähige Wesen sind, denn die Handlungsfreiheit ist uns nicht unabhängig von unserem Sollen-Können, gegeben. Das Moralgesetz wird so der Erkenntnisgrund der Freiheit, wobei das Bewusstsein, dass wir zur Moralität fähige Wesen sind, gleichsam wie ein Faktum als Faktum der Vernunft anklopft. 9 Damit Kant die Moralität in der Person als transzendentale Freiheit auch praktisch verankern kann, muss ein positiv bestimmter, praktisch verfügbarer Begriff gegeben sein. Das Bewusstsein, dass wir zur Moralität fähige Wesen sind, ist dieser positiv verfügbare Begriff der praktischen Vernunft. Die Freiheit war als dritte Antinomie in der KrV zwar möglich, aber nur negativ bestimmbar. Erst in der praktischen Philosophie Kants bekommt sie, mit Hilfe des Moralgesetzes, eine 7 Vgl. Kant, I., Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, (MSTL) Bd. VI, S. 27f. 8 Vgl. Kant, I., Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft, Bd. VI, S. 47. 9 Vgl. Ludwig, B. (2010) S. 598. 4

positive Wirklichkeit. 10 So wird der transzendentale Idealismus durch das Faktum vom Bewusstsein unserer Moralität ergänzt, ohne dass er damit gänzlich aufgegeben wird. 11 Die Bedingung der Zurechnungsfähigkeit liegt in der praktischen Philosophie 12 in der Anlage eine Persönlichkeit mit transzendentaler Freiheit zu entwickeln, begründet. Denn das, was uns als Personen auszeichnet, ist die Fähigkeit zur positiven Freiheit. Als homo noumenon sind Personen nicht nur vernunftfähig, sondern auch fähig, sich selbst Gesetze zu geben und diese auch zu befolgen. 13 Wir sind frei, zu wollen, was wir sollen. Auch das reflexive Selbstbewusstsein, als handlungsfreie und zugleich zurechnungsfähige Person, ist demnach erst durch unser Bewusstsein als zur Moralität fähige Wesen gegeben. Dass wir anders hätten handeln können, ohne wenn und aber, liegt alleine im reflexiven Selbstbewusstsein unserer Fähigkeit zur Moralität begründet. Anders gesagt, wir müssen nicht sollen, sondern wir können wollen, was wir sollen. Andererseits können wir uns aber auch gegen das, was gesollt ist, entscheiden, weil wir wirklich handlungsfrei sind. Und weil wir zugleich zurechnungsfähig für unsere inneren Entscheidungen sind, sind wir für diese auch verantwortlich. Während die Vernunftfähigkeit für die Zuschreibung von Handlungsentscheidungen ausreichend ist, steht am Weg zur moralisch zuverlässigen Persönlichkeit die Auseinandersetzung mit dem homo noumenon, dem intelligiblen Charakter. Damit ein moralisches Sollen in der Ersten-Person-Perspektive, also in Bezug auf ein reflexives Selbstverhältnis, überhaupt angetroffen werden kann, müssen die Gemütsanlagen, die es ermöglichen, von diesem Sollen affiziert zu werden, auch entwickelt werden. 2 b) Nach der Analyse der menschlichen Anlagen als Bedingungen für Verantwortung war es mein Anliegen, darzustellen, was genau vor sich geht, wenn wir moralisch zuverlässig handeln. Dafür kommen jene Bedingungen in den Blick, die es ermöglichen, dass so etwas wie ein Sollen überhaupt angetroffen werden kann. Kant identifiziert die Achtung, das moralische Gefühl, das Gewissen und die Menschenliebe als die dafür zu entwickelnden Gemütsanlagen. Aufgrund der transzendentalen Freiheit zusammen mit der Zurechnungsfähigkeit kann das, was gesollt ist, auch hinreichender Bestimmungsgrund der inneren Handlungsweise sein. Die 10 Siehe Ludwig, B. (2010) S. 266f. 11 Vgl. Ludwig, B. (2010) S. 604ff, 620 Fn. 46. Sowie Kapitel 1.3.2. folgende dieser Dissertation. 12 Kant, I., Religion, Bd. VI, S. 26f. 13 Siehe Kapitel 1.1. dieser Dissertation. 5

Überprüfung der eigenen Handlungsweise findet in einem inneren Dialog zwischen dem, was aus praktischer Vernunft erkannt werden kann und gesollt ist (homo noumenon), und den subjektiven Bestimmungsgründen und Motiven des Wollens eines Handlungssubjekts (dem homo phaenomenon), statt. Der Ort, an dem der Dialog zwischen noumenon und phaenomenon, als Entwicklung der intelligiblen Persönlichkeit, stattfindet, ist das Gewissen. Dabei steht die Entwicklung der eigenen moralischen Zuverlässigkeit nicht vor irgendeiner äußeren Instanz, sondern alle Instanzen, die an der Entwicklung beteiligt sind, befinden sich im Handlungssubjekt selbst. Der Exkurs in meiner Dissertation führt so in das reflexive Selbstverhältnis der eigenen Persönlichkeitsstruktur. Kant beschreibt das Bild eines inneren Gerichtshofs, in dem eine Person mit sich selbst in einen inneren Dialog tritt, indem sie überprüft, ob ihre Handlungsentscheidungen der eigenen Würde (Selbstachtung durch transzendentale Freiheit) bzw. der Gleichwürdigkeit anderer nicht widerspricht. Das homo noumenon steht für den inneren Richter / die innere Richterin, mit der die Überprüfung der eigenen Handlungsweise, nach den Anforderungen des kategorischen Imperativs, vollzogen werden kann. Da es in Bezug auf diesen Prozess keinen moralischen Spielraum zwischen Wahrhaftigkeit 14 und Lüge gibt, ist die innere Lüge, da sie das Vermögen der transzendentalen Freiheit zwar wahrnimmt, aber sich trotz besseren Wissens eine Privatregel oder Ausnahme entwirft, auch Heuchelei genannt, der größte Feind am Weg zur moralischen Zuverlässigkeit. Die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit kann nicht an andere delegiert werden. Unter der Prämisse, dass eine Person moralische Zuverlässigkeit entwickeln will, ist es geboten, dass sie sich in ihrer Bedürfnisstruktur und ihren Motiven kennen lernt, sich erforscht und Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst pflegt. Neben der (inneren) Lüge zählt Kant zu den Lastern, welche die transzendentale Freiheit und damit die Entwicklung der moralischen Zuverlässigkeit bedrohen, auch die Kriecherei und den Geiz. 15 Für Kant steht in diesem Punkt noch nicht die Ausgestaltung des Miteinanders in der Dritten-Person-Perspektive im Fokus, sondern das Interesse der Wahrhaftigkeit, das ein reflexives Selbstverhältnis in der Ersten- Person-Perspektive zur Stärkung der transzendentalen Freiheit darstellt. Glückt die Überprüfung der eigenen Handlungsmotive zu einer Handlungsweise, die sich mit der Achtung gegenüber der Gleichwürdigkeit aller nicht widerspricht, so trifft in diesem inneren Dialog das Moralgesetz mit Achtung auf das moralische Gefühl, das aus 14 Vgl. Kant, I., MSTL, Bd. VI, S. 433*. Siehe Kapitel 2.3.1 dieser Dissertation. 15 Vgl. Kant, I., MSTL, Bd. VI, S. 420, Meiner 57. Siehe Kapitel 2.3.1 dieser Dissertation. 6

Selbstachtung dem objektiven Bestimmungsgrund als stärkerem Verpflichtungsgrund Raum gibt. Die Achtung nimmt als Grund gewisser Pflichten 16 unter den Gemütsbedingungen eine Sonderstellung ein. Die Selbstachtung entsteht durch das Bewusstsein als eines zur Moralität fähigen Wesens. Dadurch gelten wir als Zweck an sich und nicht als bloßes Mittel zum Zweck anderer. Objektiv hingegen folgt aus der Achtung vor dem moralischen Gesetz, alle anderen Personen ebenso als Zwecke an sich zu respektieren und diese mit der Achtung vor ihrer Gleichwürdigkeit in unseren Handlungsweisen zu berücksichtigen. Die Menschenliebe als Nächstenliebe wird einerseits als Voraussetzung und andererseits als Folge der verdienstlichen Liebespflicht, anderen wohlzutun, gesehen, denn Kant erläutert, dass Wohltun in weiterer Folge auch Menschenliebe bewirken wird. Sie drückt ein grundsätzliches Wohlwollen gegenüber anderen aus, das dem Wohltun vorhergehen kann. 17 Anderen wohlzutun stellt zugleich die zweite Menschheitspflicht in Kants Tugendethik dar. 3) Implikationen moralischer Zuverlässigkeit in zeitgenössischer Relevanz Sowohl in engster wie auch in weitester Reichweite zurechnungsfähig zu sein, bedeutet, dass wir sowohl für unsere Persönlichkeit und unseren Charakter Verantwortung übernehmen, als auch für andere Mitverantwortung übernehmen können. Es wird argumentiert, dass der kategorische Imperativ eine Überprüfungsmöglichkeit für die eigenen Handlungsweisen in der Ersten-Person-Perspektive darstellt. Dafür stellt Kant in seiner Tugendlehre zwei Menschheitspflichten vor, die er aus dem Zweck an sich ableitet. In Hinblick auf die transzendentale Freiheit, wird gezeigt, dass die erste Menschheitspflicht als Entwicklung der eigenen moralischen Zuverlässigkeit verstanden werden kann, während die zweite Menschheitspflicht auf die Relationalität der Menschen als gleichwürdige Mitmenschen verweist. Aus beiden Menschheitsverpflichtungen (mit dem einen Verpflichtungsgrund des Zweck an sich) werden in Folge die unterschiedlichen Tugendpflichten auch hinsichtlich ihrer Zweckanwendung (material) formuliert. Die zweifache Ausrichtung der Achtung, als Selbstachtung und Achtung vor dem Gesetz, spiegelt sich in den zwei Menschheitspflichten wider. So ist die Selbstachtung eine der menschlichen Bedingungen, damit sich die transzendentale Freiheit (durch das homo noumenon) im Gewissen Gehör verschaffen kann, und damit essentiell für die Entwicklung 16 Kant, I. MSTL, Bd. VI, S. 403. 17 Vgl. Kant, I., MSTL, Bd. VI, S. 457. 7

des intelligiblen Charakters wie Kant meint zur Vollkommenheit. Die Achtung vor dem Gesetz beinhaltet die Pflicht, einerseits andere als Personen gleichwürdig zu berücksichtigen, und andererseits sich als Teil der Menschheit (mit der ersten Menschheitspflicht) würdig zu erweisen, indem man sich der Pflicht, die eigene moralische Zuverlässigkeit zu entwickeln, nicht entzieht. Dadurch, dass keine Person von der Menschheit in moralisch weitester Reichweite ausgeschlossen ist, kann jede Person von den anderen wechselseitig einfordern, gleichwürdig als Person unter Personen behandelt zu werden. Da in Kants Auffassung die Anforderungen der Moralität mit der transzendentalen Freiheit dem Menschenverständnis zu Grunde liegen, denn dieses Vermögen zur Moralität ist es letztlich, das uns moralisch zurechnungsfähig und damit in besonderer Weise verantwortlich macht, sind die Anforderungen sowohl in der Ersten-Person-Perspektive, in der Zweiten- als auch in der Dritten-Person-Perspektive gültig. Die Anforderungen der Moralität gelten gegenüber dem eigenen Charakter, wie für Mitmenschen in weitester Reichweite, also auch als Zukunfts- oder Langzeitverantwortung für kommende Generationen. Mit Hilfe der maximenethischen Ausrichtung ist es nicht möglich, am reflexiven Selbstverhältnis vorbei moralisch zu handeln. Zwar haben wir als Menschen die Willkürfreiheit und damit die Möglichkeit, unser Vermögen zur Moralität zu vernachlässigen, jedoch können wir uns durch die epistemische Priorisierung und das Bewusstsein, zur Moralität fähige Wesen zu sein, der Verantwortung, dass wir uns der Verantwortung entzogen haben, letztlich nicht verweigern. Wollen wir moralische Zuverlässigkeit beanspruchen, bleiben wir frei, zu wollen, was wir sollen und können uns dadurch auch der Verantwortung, die Gleichwürdigkeit anderer auch in weitester weltbürgerlicher Reichweite zu berücksichtigen, nicht verweigern. So enthält die zweite Menschheitspflicht einerseits eine reziproke Forderung der Gleichwürdigkeit aller und impliziert andererseits die relationale Rücksichtnahme entlang der moralischen Anforderung, sich andere zum Zweck zu machen. Diese Anforderungen inkludieren, sich gegenüber gleichwürdigkeitsmindernden Bedingungen nicht indifferent zu verhalten. Damit schließt sich der Bogen der Verantwortung in engster und weitester Reichweite und liefert eine argumentative Grundlage für weitere Arbeiten, welche die Langzeitverantwortung sowohl in rechtsphilosophischer wie politischer als auch in sozialer Dimension berücksichtigen. 8