Zusammenfassung Die Kraft der Vergebung

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Transkript:

1 Konrad Stauss: Die Kraft der Vergebung Rezension: Marco Ferrari, www.paarpraxis.ch Zusammenfassung Die Kraft der Vergebung Der Friede der Versöhnung nimmt mit der Selbstversöhnung ihre Anfang (K. Wiederkehr) Versöhnung setzt Selbstliebe voraus. Vergebung ist die bewusste Entscheidung nicht weiter unter dem Vorfall leiden zu wollen und der anderen Person wieder mit Offenheit zu begegnen. Konrad Stauss analysiert in seinem Buch zwei Sichtweisen der Vergebung: Jene aus der Bibel und jene, die sich aus der Psychologischen Forschung ergibt. Die vorliegende Rezension beschränkt sich auf die zentralen Punkte aus der wissenschaftlichen Forschung und lässt die religiöse Komponente weitgehend weg. Interessant ist immerhin die Feststellung, dass sich viele in der Bibel befindliche Fundstellen zur Vergebung mit dem decken, was heute durch Forschung in Neurobiologie (Hirnforschung) und Psychologie mehr und mehr durch Fakten belegbar wird. Ergänzt wird die Rezension mit neueren Studien zur Kunst, sich richtig zu entschuldigen (mit entsprechenden Fundstellen gekennzeichnet). Die Bindungsforschung und die moderne Neurobiologie zeigen deutlich, dass Nähe, Bindung und soziale Akzeptanz zentrale menschliche Triebziele sind. Wir sind nicht dazu gemacht, unter Bedingungen fortgesetzter Aggression seelisch gesund leben zu können. Der Kern aller Motivationen des Gehirns ist die Befriedigung des Bedürfnisses nach zwischenmenschlicher Bindung, Anerkennung und Wertschätzung kurz: das Bedürfnis nach gelingenden Beziehungen. Die psychodynamische Psychotherapie und die davon abgeleiteten Verfahren wie beispielsweise Gestalttherapie und Transaktionsanalyse gehen davon aus, dass seelische Störungen ihre Ursache im Wesentlichen in biographisch erlittenen Bindungs- und Beziehungsverletzungen haben. Die mangelhafte Verarbeitung dieser Verletzungen führt zu einer Störung der Beziehung zu ihrem Selbst in Form eines beeinträchtigten Selbsterlebens, einer Entfremdung von den eigenen Motiven und zu einer Beziehungsstörung zu anderen. Die Tragik liegt darin, dass die Verletzten diese Verletzungen verinnerlichen und diese unbewusst in ihren jetzigen Beziehungen wiederholen. Die Wiederholung durch unbewusste Reinszenierung nennt man Wiederholungszwang. Dadurch wird das frühere Opfer unbewusst in seinen jetzigen Beziehungen zum Täter, wobei es sich weiterhin als Opfer der anderen erlebt. Werden die Tatfolgen vom Opfer nicht durch Vergebung bearbeitet, dann ist es aus psychologischer Sicht sehr wahrscheinlich, dass diese Reinszenierung mit dem Wechsel in die Täterrolle später geschieht. Unzureichend verarbeitete Beziehungsverletzungen beeinflussen auch dann, wenn sie Jahre zurückliegen, bewusst oder unbewusst die aktuelle Beziehungsgestaltung. Die psychologischen Voraussetzungen für das Opfer, um dem Täter zu vergeben, sind die konstruktive Bewältigung seiner erlittenen seelischen oder körperlichen Verletzungen, Empathie mit dem Täter und die Fähigkeit, sich in die Sicht- und Erlebensweise des Täters einfühlen zu können. Studien zeigten, dass die Vergebung einen positiven Effekt auf die Gesundheit und die Lebenszufriedenheit der Probanden hatte. Inzwischen gibt es eine Fülle von wissenschaftlichen Studien, die die Wirksamkeit von Vergebung bestätigen. Vergebung ist eine ausserordentlich stark wirksame Bewältigungsform von Leid.

2 Konrad Stauss: Die Kraft der Vergebung Rezension: Marco Ferrari, www.paarpraxis.ch Der kleinste gemeinsame Nenner zur Definition von Vergebung ist, wenn Ärger, Groll und Hass auf einen Menschen verringert werden. Übereinstimmung besteht darin, dass vergeben nicht gleichbedeutend damit ist, dass man den Täter von den Konsequenzen seiner Tat entbindet, diese entschuldigt, toleriert oder vergisst. Ein wichtiger Bestandteil des Vergebungs- und Versöhnungsprozesses ist, dass das Opfer der erlittenen Verletzung einen Sinn zuweist. Das könnte zum Beispiel bedeuten, dass das Opfer erlebt, wie es durch das Erlebte einen wichtigen Reifungs- und Entwicklungsschritt vollzogen hat. Im neuen Testament bekommt die Vergebung im Unterschied zum alten Testament eine neue Bedeutung, nämlich, dass man dem Täter vergeben kann, völlig unabhängig davon, ob er seine Tat einsieht oder bereut. Damit kann sich der Vergebende unabhängig vom Täter machen. Die Initiative liegt nun nicht mehr beim Täter, sondern beim Opfer, beim Vergebenden selbst. Damit wird dem Täter eine Macht genommen, die ihm nicht zusteht. Die psychologische Forschung kommt zum selben Ergebnis: Es ist wichtig für die seelischen Gesundheit des Opfers, dass es die Last der Nichtvergebung durch Vergebung ablegen kann. Denn wer nicht vergibt, trägt nach und dieser Zustand ist kontraproduktiv für das Wohlbefinden. Nicht das Schuldprinzip ist also für die Vergebung massgebend, sondern die Heilung der Beziehungsstörung und damit die Heilung insbesondere auch der Verletzung des Opfers. In Bezug auf die Auseinandersetzung mit der Vergebung ist die Konsequenz aus diesen Überlegungen, dass wir zum ehrlichen Schluss kommen können, dass wir einem bestimmten Menschen noch nicht oder nie vergeben können. Diese ehrliche Akzeptanz unserer Grenzen ist allemal positiver zu bewerten als eine aus vorauseilender Frömmigkeit motivierte vorschnelle Vergebung, die im Kern keine ist. Wenn es um Vergebung geht, ist auch die Nachsicht mit sich selbst ein wichtiges Thema. Wir Menschen haben oft das Bestreben, unseren eigenen Idealbildern entsprechen zu wollen. Daraus können sich im Extremfall normative Schemata herausbilden mit dem Inhalt: ich bin nur liebenswert, wenn ich perfekt bin. Die Erfahrung zeigt, dass die Messlatte zur Erfüllung dieser Idealwerte auch dann, wenn sie erreicht werden, immer höher gelegt wird. Gerade beim Streben nach religiöser Vollkommenheit macht sich die dunkle Kehrseite der Medaille des Perfektionismus unbewusst breit. Die Kirchengeschichte ist voll von Beispielen davon. Das Gute im Übermass zu wollen, produziert das Böse, das wir nicht wollen. Religiös perfektionistische Menschen üben ihr religiöses Leben zwanghaft neurotisch aus. Freud hat dieses Phänomen zur Auffassung geführt, dass Religion nichts anderes als eine kollektive Zwangsneurose sei. In der Psychotherapie hat sich gezeigt, dass gerade das im eigenen Ü- ber-ich verankerte Idealbild des Selbst mit seinen unerfüllbaren Anforderungen gemildert werden muss. Es geht eher darum, seine negativen Anteile zu erkennen, zu akzeptieren und zu integrieren, als sie zu bekämpfen oder auszumerzen. C.G. Jung hat in diesem Zusammenhang betont, es gilt, den eigenen Schatten, wie er die negativen Selbstanteile nannte, zu integrieren, ihn zu sich zu nehmen und sich damit auszusöhnen. Tun wir dies nicht, dann wird der eigene Schatten verdrängt und oft projektiv den anderen zugeschrieben und dort bekämpft. Vergebung fällt leichter, wenn der Täter sowohl Einsicht in das eigene Fehlverhalten als auch Reue zeigt (Mc Cullough et al. 1997). Eine ehrliche Entschuldigung bedeutet, die Tat beim Namen zu nennen, das eigene Unrecht und die Verletzung des Opfers anzuerkennen. Sie lässt das Gefühl tiefen Bedauerns und empfundener Reue erkennen. Es gibt eine Art Idealform der Entschuldigung: das eigene Ego zurückstellen, tut mir leid sagen ohne Wenn und Aber und mit dem Risiko, zurückgewiesen zu werden (Psychologie Heute, August 2013 mit Forschungshinweisen). Nicht angebracht, aber leider häufig, sind Entschuldigungen, die

3 Konrad Stauss: Die Kraft der Vergebung Rezension: Marco Ferrari, www.paarpraxis.ch keine sind: sich eine Entschuldigung abringen und dennoch abstreiten, irgendetwas falsch gemacht zu haben. Oder zu betonen: falls sich jemand verletzt fühlt durch meine Handlung, dann entschuldige ich mich. Oder: Tut mir leid, aber eigentlich seid ihr ja krank. Dabei ist der Effekt einer guten Entschuldigung gut erforscht. Sie kann die Rachegelüste der Opfer mindern und sie ist nötig, um Vertrauen wiederherzustellen. Eine Entschuldigung wirkt auch viel besser als das Anbieten von Geld als Entschädigung: 630 e-bay Benutzer, die eine schlechte Bewertung abgegeben hatten, wurden angeschrieben inklusive des Satzes: Ich möchte mich entschuldigen und Sie darum bitten, Ihre Bewertung zurückzuziehen. 45 Prozent der Kunden, die eine Entschuldigung erhalten hatten, strichen ihre schlechte Bewertung, aber nur 21 Prozent der Kunden, denen Geld angeboten worden war, egal in welcher Höhe. Forschungen zeigen auch, dass wer sich entschuldigt, sich nachher besser fühlt, obwohl die Entschuldigung an sich als Stress empfunden wird. Eine Entschuldigung birgt also im Vorfeld relativ hohe Kosten, aber genau das will das Gegenüber sehen (De Cremers, Psychological Science, 22, 2011). Drei Komponenten gelten für eine glaubwürdige Entschuldigung als unverzichtbar: eine Erklärung des Bedauerns für das, was passiert ist (bzw. die Folgen davon, nämlich dass es das Gegenüber verletzt hat), ein klares Bekenntnis Ich entschuldige mich und schliesslich die Bitte um Vergebung. Dazu braucht es idealerweise noch etwas mehr: nämlich Mitgefühl ausdrücken und irgendeine Form von Wiedergutmachung (Schadenersatz) anbieten (Fehr et al. Organizational Behavior and Human Decision Process, 113, 2010). Vergebung bedeutet nicht, dass man den Täter von seiner Schuld entbindet, sondern sie eröffnet den Weg, um die Wunden des Opfers zu heilen. Vergebung ist die ureigenste Entscheidung des Opfers. Es braucht die Vergebung, um dem Täter die Macht zu nehmen, die er durch die Hassgefühle ausübt. Vergebung wird oft als Schwäche gewertet, aber sie bewirkt, dass das Opfer in eine Position der Stärke kommt. Nur das Opfer hat nämlich den Schlüssel zur Vergebung in der Hand. Im Verzicht auf Rache liegt der Triumpf des Opfers: Ich will das Böse nicht zurückgeben, das du mir angetan hast. Die Vergebungsforschung zeigt, dass Vergebung die Gefühle, die Gedanken und das Verhalten der beteiligten Menschen verändert. Auch wenn die Teilnehmer mit Vorbehalten an die Vergebungsarbeit gingen, berichteten sie nach erfolgreicher Vergebungsarbeit von einer befreienden Wirkung. Der positive Zusammenhang zwischen Vergebung und psychischer Gesundheit ist durch eine Vielzahl von Querschnittstudien belegt. Eine der wichtigsten psychologischen Bedingungen für Vergebung ist Empathiefähigkeit. Sie ermöglicht einen Perspektivenwechsel und das Einfühlen in die Situation des andern. Empathie und Vergebungsbereitschaft sind in zufriedenen Partnerschaften deutlich ausgeprägter als in gestörten. Geschiedene Partner, die ihrem Ex vergeben haben, sind emotional stabiler, als jene, die nicht vergeben haben. Frauen, die ihren Ex-Männern nicht vergeben hatten, projizierten in dieser Studie ihre Wut auf ihre Kinder und bestraften sie hart. Zu vergleichbaren Ergebnissen kam eine Studie, in der es um Untreue des Partners ging. In einer weiteren Studie wurde gezeigt, dass Vergebung chronische Rückenschmerzen und Depressionen lindern kann. Die Vergebung ermöglicht es, sich von den erlittenen Verletzungen zu befreien. Diese Befreiung ist die Frucht der Vergebung und Versöhnung.

4 Konrad Stauss: Die Kraft der Vergebung Rezension: Marco Ferrari, www.paarpraxis.ch Phasen der Vergebungsarbeit: 1. Auseinandersetzung mit dem Unschuldswahn. Die meisten seelischen Verletzungen geschehen in Liebesbeziehungen. In einer Studie über Scheidungsfamilien wurde festgestellt, dass die Wunden bei den meisten Probanden nach fünf Jahren noch nicht verheilt waren: Es ist unglaublich, dass die Hälfte aller Frauen und ein Drittel der Männer noch sehr wütend auf ihre früheren Partner sind, obwohl die Scheidung zehn und mehr Jahre her ist. Weil sich die Gefühle dieser Menschen nicht verändert haben, ist deren Wut auch im Leben ihrer Kinder dauerhaft und manchmal auf dominante Weise präsent. Das chronische sich Erleben als Opfer ist eine Form der Unfreiheit und führt zu einer eingeengten Sicht, die neue gelingende Beziehungen verunmöglichen kann. Bei genauerer Analyse zeigt sich, dass sich hinter dem Opferstatus nichts anderes verbirgt als Selbstidealisierung und Selbstmitleid. Mahatma Gandhi kommentierte es so: Schwache Menschen können nicht vergeben. Die Auseinandersetzung mit dem Unschuldswahn beinhaltet deshalb insbesondere das Anerkennen der eigenen Anteile, welche zur Verletzung mitbeigetragen haben. 2. Auseinandersetzung mit dem Gesetz des Wiederholungszwangs: Die Bezeichnung als Wiederholungszwang stammt von Freud. Er entdeckte bei seinen Patienten, dass sie in der Beziehung zu ihm Beziehungsmuster wiederholten, die denjenigen von früheren Beziehungspersonen nachgebildet waren. Die moderne Bindungsforschung bestätigt, dass negative Beziehungsmuster mit einer Wahrscheinlichkeit von circa 80% an die nächste Generation unbewusst weitergeben werden. Man kann davon ausgehen, dass es keinen Täter gibt, der nicht vorher Opfer war. Im Wesentlichen gibt es zwei Möglichkeiten, sich aus diesem Muster zu befreien: Durch Psychotherapie und durch Vergebung. In der Psychotherapie werden folgende Schritte vollzogen: wieder erinnern, emotionales Durcharbeiten und annehmen der Verletzungen als Teil seiner Biografie sowie schliesslich das dysfunktionale Muster durch ein funktionales zu ersetzen. 3. Emotionales Nacherinnern und Perspektivenwechsel: Das Nacherleben des Erlittenen kann ein schmerzhafter emotionaler Prozess sein. Aber es ist der einzig mögliche Weg, um die schmerzhaften Erfahrungen innerseelisch so zu bewältigen und zu integrieren, dass sie sich nicht mehr schädigend in der jetzigen Beziehungsgestaltung auswirken. Dazu gibt es Belege aus der Therapieforschung: Die Tiefe des emotionalen Nacherlebens der verdrängten schmerzlichen Emotionen im Kontext von Beziehungsverletzungen steht in direktem Zusammenhang mit einem guten Therapieergebnis. Das Ausdrücken negativer Gefühle kann man mit dem Öffnen eines eitrigen Abszesses vergleichen. Der Arzt untersucht die Wunde, öffnet sie mit einem Skalpell, damit der Eiter abfliesst, und hält die Wunde offen, damit sie von Grund auf heilen kann. Bezogen auf Vergebung bedeutet dies, dass wir uns bevor wir vergeben können mit unseren bewussten und unbewussten Motivationen, negativen Gedanken und Gefühlen auseinandersetzen müssen. Es geht also in einem ersten Schritt um das Bewusstmachen und Ausdrücken der inneren Verfasstheit; empathisches und wertfreies Erforschen der Motive, Gedanken und Gefühle. Oft hilft die Frage Was hat Sie verletzt? oder Was haben Sie vermisst, um den Schmerz zu aktivieren. Je intensiver der emotionale Ausdruck, umso besser die Entgiftung von den toxischen Gefühlen Im zweiten Schritt geht es um den Perspektivenwechsel, um sich in den Täter einzufühlen und sich mit ihm und seinen Motivationen insoweit zu identifizieren, ohne damit das, was er getan hat, zu

5 Konrad Stauss: Die Kraft der Vergebung Rezension: Marco Ferrari, www.paarpraxis.ch rechtfertigen. Vergebung geht nicht am eigenen Schmerz vorbei, sondern mitten hindurch. Und ohne Fähigkeit zum empathischen Perspektivenwechsel ist Vergebung nicht möglich. Vorsicht ist nach dem Gesagten bei vorschneller Vergebung geboten. Es braucht die beschriebene Aufarbeitung zum Beispiel im Rahmen einer Paartherapie. Eine vorschnelle Vergebung ist häufig nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Die Frage nach der Vergebung stellt sich erst gegen Ende der Therapie. Vorsicht ist weiter geboten bei bedingten Vergebungen: Ich vergebe dir nur, wenn du dich entschuldigst, dich änderst, etc.. Eine bedingte Vergebung ist im Kern die Verweigerung der Vergebung. Aus diesen Gründen muss vor der Vergebungsarbeit sorgfältig geprüft werden, ob man innerlich bereit und gewillt ist, dem Täter zu vergeben. Vergebung ist nicht vergessen. Man vergisst nicht, was einem angetan wurde, aber die Erinnerung daran ist nicht mehr schmerzhaft: Eine alte Wunde ist geschlossen und verheilt, die Narbe in Form der Erinnerung bleibt. Vergebung versus Versöhnung Wer ver-gibt, gibt etwas her. Er verzichtet auf den Schuldvorwurf und auf seinen Anspruch der Wiedergutmachung, ohne die erlittenen Verletzungen zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. Vergebung ist damit ein innerseelischer Prozess, der unabhängig von Einsicht und Reue des Täters vollzogen werden kann. Versöhnen setzt demgegenüber voraus, dass der Täter seine Tat einsieht, sie bereut und beide Parteien den Wunsch haben, aufeinander zuzugehen, einen Schlussstrich unter das Vergangene zu ziehen, verbunden mit dem Wunsch nach einer zukünftigen guten Beziehung. Vergebung gipfelt in der Versöhnung. Sie setzt Vergebung voraus. Versöhnung ist ein interpersonelles Geschehen. Je intensiver die innerseelische Vergebungsarbeit war, umso eher ist eine Versöhnung möglich. Zur Versöhnung gehören zwei. Es hat keinen Sinn, sich mit jemandem versöhnen zu wollen, der seine Tat nicht einsieht oder sich nicht versöhnen will. Da Verletzungen in Beziehungen normal sind, kann man langjährige gelungene Beziehungen als eine Verbindung von zwei Vergebenden und Versöhnenden bezeichnen. Für den Alltag ist wichtig zu wissen, dass sich die Chance zur Vergebung durch den anderen erhöht, wenn man signalisiert, dass man nachvollziehen kann, wie der andere diese Kränkung erlebt haben könnte. Wann ist Vergebungsarbeit angebracht? 1. Anklagendes Verhalten gegenüber einer Person, die einen intensiv verletzt hat. Dieses anklagende Verhalten wird durch bestimmte Reize in der Gegenwart ausgelöst. Bsp: Ein Klient beschwert sich über seine geschiedene Frau, von der er sich hintergangen und ausgenutzt fühlt.

6 Konrad Stauss: Die Kraft der Vergebung Rezension: Marco Ferrari, www.paarpraxis.ch 2. Die Existenz eines anhaltend negativen Gefühls gegenüber einer Person in der Vergangenheit. 3. Diese Emotionen werden intensiv in der Gegenwart erlebt und sind frisch wie am ersten Tag, obwohl die Verletzung schon lange zurückliegt. Gerade bei langjährigen Partnerschaften beobachtet man häufig, dass Beziehungsverletzungen, die schon Jahre zurückliegen und scheinbar verarbeitet sind, auf tieferer Ebene eine Eigendynamik entfaltet haben. Diese kann etwa dazu führen, dass man sich dem Partner nicht mehr vorbehaltlos emotional öffnet. Die Folge ist dann ein emotionales Beziehungsleben mit angezogener Handbremse. Im Therapieprozess ist es wichtig, dass der Berater den Klienten über die wichtigsten Schritte der Vergebungsarbeit aufklärt, damit dieser sich ein genaues Bild davon machen kann, was auf ihn zukommt. Im ersten Schritt geht es dann darum, das verletzende Ereignis auszumachen. Das kann zum Beispiel das Geständnis des Ehemannes sein, dass er seit Jahren eine Geliebte hatte. Dies führte bei der Frau zum verinnerlichten und generellen Täter-Schema, dass Männer nicht vertrauenswürdig sind. Dieses Schema führte zur Vermeidung von auslösenden Situationen: Sie vermied in der Folge nähere Beziehungen zu Männern. Es geht im Therapieprozess also darum zu klären, wie die frühere Verletzung die heutige Beziehungsgestaltung in dysfunktionaler Weise beeinflusst. Durch das Bewusstmachen besteht dann die Möglichkeit, sich gegen den Einfluss dieses massive Kosten verursachenden Schemas zu entscheiden und nach der Vergebungsarbeit neue Verhaltensweisen auszuprobieren. Nachdem das Vergebungsritual durchlaufen ist, ist es die Aufgab des Therapeuten, den Klienten darauf aufmerksam zu machen, dass das erneute Auftauchen von schmerzlichen Gefühlen bei der Erinnerung der Tat kein Zeichen von Nichtvergebung ist. Denn vergeben ist nicht vergessen. Die Narben der Wunden bleiben, aber die Intensität der schmerzhaften Erinnerungen nimmt durch Vergebungsarbeit deutlich ab oder ist bei manchen kaum noch spürbar. Das Geheimnis der langanhaltenden Vergebung besteht im immer wiederkehrenden Aussteigen aus den schmerzlichen Erinnerungen und im Einsteigen in die positiven emotionalen Erfahrungen, die man im Rahmen der Vergebungsarbeit gemacht hat. Vergebung ist eine Fähigkeit, die mit seelischer und körperlicher Gesundheit korreliert (Maltby et. al. 2001). Ob Vergebung vorliegt, lässt sich an der Abnahme der feindseligen Gefühle, Gedanken und Handlungsimpulse erkennen sowie an der Abnahme der Vorwürfe und Anklagen. Vergebung heisst nicht das Ja zu einer vergangenen Schuld, wohl aber das Ja zu einem Menschen mit seiner vergangenen Schuld (Otto Herrmann Pesch).