APÜ Höpfel (SS 2012) Fälle zum Fahrlässigkeitsdelikt ( 80, 81, 88 ivm 6 StGB) Fall 7 A, LKW-Lenker, nähert sich einem Zebrastreifen, hinter welchem eben ein Linienbus angehalten hat. Er verringert seine Geschwindigkeit auf 30 km/h, weil zwei Buben vor dem Bus den Zebrastreifen überqueren. Eine Vollbremsung leitet er erst ein, als 2 Sekunden nach diesen Buben plötzlich der siebenjährige B auftaucht: Dieser ist neben dem Linienbus zum Schutzweg gelangt und läuft nun ohne auf den Verkehr zu achten über den Schutzweg. Der Bub wird von der Stoßstange zu Boden gestoßen und vom rechten hinteren Zwillingsreifen überrollt, wodurch tödliche Schädelverletzungen entstehen. Fall 8 Wenn ein Mann mit dem Motorrad in ein Gasthaus fährt, um Freunde zu treffen, und mit seiner Frau vereinbart, sie soll ihn abends mit dem Auto abholen, sie aber nicht kommt, weil sie aufgehalten wird, der Mann dann mit 1,3 % 0 sein Motorrad in Betrieb nimmt und ein gehbehindertes Mädchen, das die Straße langsam überquert, mangels richtiger Einschätzung der Verhältnisse niederstößt, wodurch diese mehrfache Brüche der Beine erleidet wie ist dies dann strafrechtlich zu beurteilen? Prüfen Sie jeweils die Voraussetzungen nach dem Fallprüfungsschema für das Fahrlässigkeitsdelikt*) samt der in Betracht kommenden Qualifikation nach 88 Abs 4 zweiter Strafsatz ivm 81 Abs 1 Z 2! *) Prägen Sie sich folgende Schritte ein: I. Tatbestandsmäßigkeit (bei 88 können zusammengefasst Abs 1+4 erster Strafsatz geprüft werden; wenn Abs 1 allein bejaht wird, dann Abs 2 und 3 prüfen; wenn auch Abs 4 erster Strafsatz erfüllt ist, den zweiten Strafsatz) 1) obj Sorgfaltswidrigkeit (hier nicht erst am Maßstab des Verhaltens eines einsichtigen und besonnenen Kraftfahrers, sondern anhand der StVO, zb Vertrauensgrundsatz) 2) Erfolg und Kausalität 3) objektive Zurechnung (Adäquanz, RZH, rechtmäßiges Alternativverhalten) II. Rechtswidrigkeit III. Schuld beim Fahrlässigkeitsdelikt: besonders die subj SF-widrigkeit und die Zumutbarkeit zu prüfen! Bei Verneinung einer dieser Voraussetzungen: Übernahmefahrlässigkeit? (zb Antritt der Fahrt in einem die Verkehrstüchtigkeit [nicht: die Zurechnungsfähigkeit!] ausschließenden Zustand)
APÜ aus Strafrecht (SS 2012) Univ.-Prof. Dr. Frank Höpfel Univ.-Ass. Dr. Karin Bruckmüller Fall 9 M leidet an paranoider Schizophrenie. Eines Tages wird sie wieder von Wahnvorstellungen geplagt. In einem akuten schizophrenen Schub befiehlt ihr eine innere Stimme unwiderstehlich, sich gemeinsam mit ihrem 6 Monate alten Kind aus einem Fenster im 3. Stock zu stürzen, um zu sterben. Von diesem Wahn bestimmt, nimmt sie ihr schlafendes Kind aus dem Bett und springt mit ihm in die Tiefe. Das Kind stirbt beim Aufprall auf dem Boden. M hingegen landet weich und überlebt mit zahlreichen Knochenbrüchen und einer schweren Gehirnerschütterung. Prüfen Sie die Strafbarkeit der M (unter Einbeziehung der Möglichkeit einer vorbeugenden Maßnahme)! Fall 10 In der Wiener Innenstadt wird gerade ein Film gedreht. Eine Szene stellt einen bewaffneten Banküberfall dar, worin der Täter X mit einem Paket an erbeuteten Geld die Flucht antritt. Als X die Bank verlässt, ruft ein Schauspieler, der einen Bankangestellten spielt: Hilfe, Polizei!. Das hört der Student A, der auf dem Weg zur Arbeit soeben die Bank betreten hat. Er ist nämlich, um sein Studium zu finanzieren, als Privatdetektiv tätig und trägt zulässigerweise eine Schusswaffe bei sich. Ohne zu zögern, zieht er diese Waffe. Er ruft: Halt, stehenbleiben oder ich schieße! und gibt einen Warnschuss ab. In Gedanken war A noch auf der Uni und hat deshalb die deutlichen Schilder Achtung Filmaufnahme sowie die Filmcrew gar nicht bemerkt. Als der Täter nicht stehen bleibt, schießt A diesem gezielt ins Bein. X muss zwar operiert werden, hat aber, da er sehr schnell versorgt wurde, keine bleibenden Schäden am Bein. Die Heilungsdauer beträgt fünf Wochen. Prüfen Sie die Strafbarkeit des A (Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit, Schuld)! Variante: Wie wäre die Strafbarkeit des X zu beurteilen, wenn es sich um keine Filmszene, sondern um einen echten Überfall handeln würde?
APÜ SoSe 2012 (Univ.-Prof. Dr. Frank Höpfel) Lösungsskizzen zu Fällen 7-9: Fälle 7 und 8 ergeben sich aus den damals beigefügten Hinweisen zur Bearbeitung eines Fahrlässigkeitsdelikts (siehe auch das Lösungsschema zur Probeklausur vom 25. 4. 2012) Lösungsskizze zu Fall 9* M hat nicht nur sich selbst gefährdet (straflos), sondern ihr Kind gewollt, sohin vorsätzlich getötet. Mangels Anwendbarkeit einer Privilegierung (zb 76, 79) ist der Tatbestand des Mordes nach 75 StGB zu prüfen. M erfüllt den strafrechtlichen Handlungsbegriff, da der Sprung aus dem Fenster ein vom Willen beherrschbares menschliches Verhalten ist. (Bloß für Schlafende und Bewusstlose, bei bloßen Körperreflexen sowie in Fällen von vis absoluta fehlt die Möglichkeit einer solchen willensmäßigen Beherrschung des Verhaltens. Keine dieser Konstellationen ist hier jedoch gegeben.) I) Tatbestandsmäßigkeit: a. obj. Tb.: - Tatobjekt: ein vom Täter verschiedener Mensch, hier die Tochter der M - Tathandlung: das Springen aus dem Fenster ist eine Tötungshandlung. - Erfolg: der Tod des Kindes, also der Erfolg ist eingetreten. - Kausalität: conditio sine qua non-formel: Ist die Handlung ursächlich für den Verletzungserfolg in seiner konkreten Gestalt? Ja, denn die Handlung der M (der Sprung aus dem Fenster) kann nicht weggedacht werden, ohne dass auch der Erfolg in seiner konkreten Gestalt, also der Tod der Tochter, entfiele. - Objektive Zurechnung: ist hier unproblematisch, da keine Anzeichen für einen atypischen Kausalverlauf oder Probleme des Risikozusammenhangs ersichtlich sind. b. subj. Tb.: - Vorsatz auf alle Tatbildmerkmale ( 5/1): nämlich Tatobjekt (dass es sich dabei um einen Menschen handelt), Tathandlung (Tötungshandlung) und Erfolg (Eintritt des Todes). M handelt sogar mit Absicht. Es kommt ihr geradezu darauf an ihr Kind zu töten. Die Geistesstörung nimmt der Tat nicht die subjektive Tatbestandsmäßigkeit. M handelt somit tatbestandsmäßig isd 75 StGB. II) III) Rechtswidrigkeit: Die Tatbestandsmäßigkeit indiziert die Rechtswidrigkeit. Für einen Rechtfertigungsgrund fehlt aber jeglicher Anhaltspunkt. Schuld: M folgt bei ihrer Tat einer inneren Stimme. Im Mittelpunkt der Fallprüfung steht daher die Frage der Schuldfähigkeit (insb 11 StGB), das ist die Fähigkeit das Unrecht der Tat
einzusehen (Diskretionsfähigkeit) und nach dieser Einsicht zu handeln (Dispositionsfähigkeit). M war zum Zeitpunkt der Tat aufgrund einer Geisteskrankheit (nämlich eines schizophrenen Schubes) dispositions(=steuerungs-)unfähig und handelte daher nicht schuldhaft. Ergebnis: M ist nicht strafbar gem 75 StGB, da sie zum Zeitpunkt der Tat schuldunfähig war. Da Schuld die Voraussetzung einer Strafe ( 4 StGB) ist, kann eine solche hier nicht verhängt werden. Wohl aber kommt bei weiterem Bestehen einer Gefährlichkeit isd 21 Abs 1 StGB die Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher (vorbeugende Maßnahme) in Betracht. * Die Angabe hatte gelautet: Fall 9 M leidet an paranoider Schizophrenie. Eines Tages wird sie wieder von Wahnvorstellungen geplagt. In einem akuten schizophrenen Schub befiehlt ihr eine innere Stimme unwiderstehlich, sich gemeinsam mit ihrem 6 Monate alten Kind aus einem Fenster im 3. Stock zu stürzen, um zu sterben. Von diesem Wahn bestimmt, nimmt sie ihr schlafendes Kind aus dem Bett und springt mit ihm in die Tiefe. Das Kind stirbt beim Aufprall auf dem Boden. M hingegen landet weich und überlebt mit zahlreichen Knochenbrüchen und einer schweren Gehirnerschütterung. Prüfen Sie die Strafbarkeit der M (unter Einbeziehung der Möglichkeit einer vorbeugenden Maßnahme)!
I. Zusammenfassung der Tb-mäßigkeit Fall 10 (Fortsetzung) A handelt tatbestandsmäßig isd 87 StGB, indem er dem vermeintlichen Bankräuber gezielt (und damit absichtlich) eine Schussverletzung am Bein, sohin eine an sich schwere KV, zufügt. Strafbarkeit des A gem 87? Filter -Funktion der Fallprüfung: Erfüllung des Handlungsbegriffs? Tatbestandsmäßigkeit II. RECHTSWIDRIGKEIT Rechtswidrigkeit Schuld Ergebnis Nothilfe ( 3)? Tatbestandsmäßigkeit indiziert Rechtswidrigkeit. Aber: hier Anzeichen für einen Rechtfertigungsgrund Nothilfe (Notwehr nach 3)? Notwehr auch zugunsten Dritter denkbar => sog. Nothilfe 3 Strukturelemente: Nothilfesituation (das Ob der Nothilfe) Nothilfehandlung (das Wie der Nothilfe) Subjektives Rechtfertigungselement Univ.-Prof. Dr. Frank Höpfel 1
Nothilfesituation? Liegt ein gegenwärtig oder unmittelbar drohender rechtswidriger Angriff auf ein notwehrfähiges RG vor? => Nein! Nach objektiver ex-ante Betrachtung liegt kein Angriff vor, da in Wirklichkeit keine RG-beeinträchtigung (Wegnahme des Geldes) zu befürchten ist; X will nicht mit Geld fliehen, sondern ist bloß Schauspieler. Mangels Nothilfesituation scheidet Nothilfe als RFG aus A handelt daher tatbestandsmäßig und rechtswidrig Handelt A auch schuldhaft? III. Schuld (Überblick) III. SCHULD 4 Strafbar ist nur wer schuldhaft handelt Schuldelemente: 1. Schuldfähigkeit? 2. Unrechtsbewusstsein? 3. Entschuldigungsgründe? 1. Schuldfähigkeit Keine Anzeichen für Schuldunfähigkeit => A ist schuldfähig. 22. Unrechtsbewusstsein A nimmt irrtümlich eine Nothilfesituation an: er hält X für einen Bankräuber, der mit der Beute fliehen will (aus seiner Sicht liegt also ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff auf das Vermögen der Bank vor). A unterliegt Irrtum => 8 prüfen Univ.-Prof. Dr. Frank Höpfel 2
8 (Irrtümliche Annahme eines rechtfertigenden Sachverhalts) Wer irrtümlich einen Sachverhalt annimmt, der die Rechtswidrigkeit der Tat ausschließen würde, kann wegen vorsätzlicher Begehung nicht bestraft werden. Er ist wegen fahrlässiger Begehung zu bestrafen, wenn der Irrtum auf Fahrlässigkeit beruht und die fahrlässige Begehung mit Strafe bedroht ist. Voraussetzungen des 8 Täter muss über die rechtfertigende Situation irren. Er muss sämtliche übrigen (obj und subj) Merkmale des betreffenden RF-grundes erfüllen. (Der irrende Täter darf nicht mehr tun als in einer tatsächlichen Rechtfertigungssituation) Putativnothilfe Hypothetische Prüfung: nach der Ansicht des A ist der Fluchtversuch ein rechtswidriger Angriff (da kein Rf-Grund) des X, auf das Vermögen der Bank. Der Angriff ist gegenwärtig, da X bereits im Begriffe ist davonzulaufen. Der Schuss des A wäre notwendig, da es das schonendste Mittel ist, um den vermeintlichen Angriff sofort und endgültig abzuwehren. Subj. Rechtfertigungselement ist aus A s Sicht auch gegeben, denn er glaubt (irrtümlich), es liege eine Rf-situation vor. Prüfung der doppelt bedingten Fahrl.: 1.) Irrtum des A beruht auf Fahrlässigkeit. Er hat die deutlichen Hinweisschilder ( Achtung Filmaufnahme ) übersehen und damit die gebotene Sorgfalt außer Acht gelassen. Eine Maßfigur (einsichtiger und besonnener Zeuge) wäre diesem Irrtum nicht unterlegen. Kein Zweifel an Fahrl.- schuld (Fähigkeit zur Einhaltung der obj. gebotenen Sorgfalt; keine Umstände, die diese Einhaltung unzumutbar machen würden) 2.) ein entsprechendes Fahrl.-delikt existiert ( 88) A strafbar nach 88. versch. Lehrmeinungen, auf welcher Ebene 8 zu prüfen ist Höpfel, Kienapfel: bei Schuld, denn Täter fehlt Unrechtsbewusstsein (er will mit Handlung kein Unrecht verwirklichen; sein Vorsatz ist aber unberührt) Vermeintlicher Angreifer wäre selbst zur Notwehr berechtigt. am Burgstaller, Fuchs: bei Rechtswidrigkeit, denn Vorsatzunrecht des Täters entfällt (dessen Vorstellung von der Rechtslage sei richtig) => Vermeintlicher Angreifer darf nur Notwehr üben, wenn Putativnotwehrübender fahrlässig handelt VARIANTE Strafbarkeit des X bei einem echten Überfall Univ.-Prof. Dr. Frank Höpfel 3
Strafbarkeit des X? Welches Delikt / welche Delikte kommen hier in Betracht? 142/1, 143 (Raub) Strafbarkeit des X gem 142 f? Filter -Funktion der Fallprüfung: Erfüllung des Handlungsbegriffs? Tatbestandsmäßigkeit Rechtswidrigkeit Schuld Ergebnis I. Tatbestandsmäßigkeit (Überblick) 1. Äußerer Tatbestand tatbestandsmäßige Handlung Erfolg und Kausalität objektive Zurechnung 2. Innerer Tatbestand Tatvorsatz + erweiterter Vorsatz 142 Abs 1 (Raub) Wer mit Gewalt gegen eine Person oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben ( 89) einem anderen eine fremde bewegliche Sache mit dem Vorsatz wegnimmt oder abnötigt, durch deren Zueignung sich oder einen Dritten unrechtmäßig zu bereichern, ist [ ] zu bestrafen. Täter? => Jeder (kein Sonderdelikt) Tatobjekt? jede diebstahlsfähige Sache, hier das Geld Innerer Tatbestand Tathandlung? => Drohung mit ggw. Gefahr für L od. L durch Inaussichtstellen des Schusswaffengebrauchs Erfolg? => Wegnahme oder Abnötigung; Begründung eigenen Gewahrsams am Geld Tatvorsatz ( 7 Abs 1) + erweiterter Vorsatz Univ.-Prof. Dr. Frank Höpfel 4
erweiterter Vorsatz Wer mit Gewalt gegen eine Person oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben ( 89) einem anderen eine fremde bewegliche Sache mit dem Vorsatz wegnimmt oder abnötigt, durch deren Zueignung sich oder einen Dritten unrechtmäßig zu bereichern, ist [ ] zu bestrafen. II. RECHTSWIDRIGKEIT X will, uzw sogar absichtlich, mit dieser Drohung abnötigen mit Bereicherungsvorsatz. Tatbestandsmäßigkeit indiziert Rechtswidrigkeit. Keine Anzeichen für Rf-gründe => X handelt tatbestandsmäßig und rechtswidrig. III. SCHULD 4 Strafbar ist nur wer schuldhaft handelt III. Schuld Kein Anhaltspunkt für Zweifel an irgendeinem der Schuldelemente: 1. Schuldfähigkeit Zwischenergebnis X ist strafbar nach 142 StGB (Grunddelikt!). 2. Unrechtsbewusstsein 3. keine Entschuldigungsgründe Univ.-Prof. Dr. Frank Höpfel 5
Qualifikationen? Waffenbegriff Ist 143 Satz 1 zweiter Fall ( unter Verwendung einer Waffe ) erfüllt? Drohung erfolgt mit einer Schusswaffe. enge Auffassung: Waffen im technischen Sinne ( 1 WaffenG) dagegen funktionaler Waffenbegriff (strsp und hl): auch Ggstände die nach Anwendbarkeit und Wirkung Waffen gleichkommen Verwendung einer ungeladenen Waffe oder einer Waffenattrappe Ungeladene Schusswaffe? => Qualifikation aufgrund der erhöhten Effizienz der Drohung erfüllt (OGH bereits 1978 [12 Os 59/78] als verstärkter Senat; am Fuchs/Reindl- Krauskopf) Ergebnis Bei einem tatsächlichen Überfall hätte sich X des Verbrechens des schweren Raubes nach 142, 143 zweiter Fall StGB schuldig gemacht. Scheinwaffe (zb Spielzeugpistole) => erfüllt nicht den Waffenbegriff; daher keine Qualifikation Univ.-Prof. Dr. Frank Höpfel 6