Körperhaltung und empfundene Anstrengung bei Pflegekräften 7 7 Körperhaltung und empfundene Anstrengung bei Pflegekräften eine experimentelle Studie s. FreitAg, r. seddouki, M. Dulon, J. F. kersten, t. J. larsson, A. nienhaus Zusammenfassung Ziele: Untersuchung des Einflusses der beiden folgenden Faktoren auf den Zeitanteil, den Pflegekräfte in vorgeneigter Haltung arbeiten: 1. die Betthöhe bei Grundpflegetätigkeiten am Bett und 2. die Arbeitsweise bei Grundpflegetätigkeiten im Bad. Zusätzlich wurde der Zusammenhang zwischen dem Zeitanteil in vorgeneigter Haltung und der empfundenen Anstrengung untersucht. Methoden: Zwölf Pflegekräfte einer Altenpflege-Einrichtung führten jeweils einen standardisierten Pflegeablauf am Bett und im Bad durch. Dabei wurden mit dem CUELA-Messsystem alle Oberkörperneigungen erfasst. Am Bett absolvierte jeder Proband drei Versuche mit unterschiedlichen Betthöhen (Kniehöhe, Oberschenkelhöhe, Leistenhöhe) und im Bad drei Versuche in unterschiedlichen Arbeitsweisen (stehend, kniend, sitzend). Nach jedem Versuch bewerteten die Probanden die empfundene Anstrengung auf der 15-stufigen Borg- Skala (6 = überhaupt keine Anstrengung, 20 = maximale Anstrengung). Ergebnisse: Wurde das Bett von Knie- auf Oberschenkelhöhe gestellt, erhöhte sich der Zeitanteil in aufrechter Haltung um 8,2 Prozentpunkte; der Unterschied war jedoch nicht signifikant (p = 0,193). Erst wenn das Bett auf Leistenhöhe gestellt wurde, zeigte sich eine signifikante Erhöhung um 19,8 Prozentpunkte (Referenz: Oberschenkelhöhe; p = 0,003) bzw. 28,0 Prozentpunkte (Referenz: Kniehöhe; p < 0,001). Bei den Versuchen im Bad führten im Vergleich zur Arbeitsweise stehend die Arbeitsweisen kniend und sitzend zu einer signifikanten Erhöhung des Zeitanteils, der in aufrechter Haltung verbracht wurde, um 19,4 Prozentpunkte (p = 0,003) bzw. 25,7 Prozentpunkte (p < 0,001). Je höher der Zeitanteil in aufrechter Haltung war, desto geringer war der angegebene Borg-Wert (p < 0,001) und damit die empfundene Anstrengung. Schlussfolgerungen: Je höher das Bett eingestellt ist, desto höher ist der Zeitanteil, den Pflegekräfte in aufrechter Haltung arbeiten und desto weniger anstrengend empfinden sie die ausgeführten Tätigkeiten. Daher ist die Leistenhöhe die optimale Betthöhe für grundpflegerische Tätigkeiten. Im Bad führt die Arbeitsweise sitzend zum größten Zeitanteil in aufrechter Haltung. Pflegekräfte können einen entscheidend höheren Zeitanteil in ergonomischer Körperhaltung arbeiten, wenn Hocker und höhenverstellbare Betten in den Einrichtungen zur Verfügung stehen. 101
7 Körperhaltung und empfundene Anstrengung bei Pflegekräften Einleitung Pflegekräfte leiden häufiger unter Rückenbeschwerden im Lendenwirbelsäulenbereich als andere Berufsgruppen [16, 19]. In diesem Zusammenhang wurden manuelle Patiententransfers in vielen Studien untersucht und als Risikofaktor nachgewiesen [4, 8]. Jedoch machen Patiententransfers weniger als 4 % einer Arbeitsschicht aus [15] und Pflegekräfte haben zusätzlich viele andere Tätigkeiten zu bewältigen: Patienten waschen, Betten machen oder Verbände wechseln [9, 13]. In einer vorherigen Studie [9] fanden wir heraus, dass Pflegekräfte sich bei vielen dieser Aktivitäten häufig nach vorn beugen (sagittale Neigung) oder für längere Zeit in vorgeneigter Haltung arbeiten (statische Neigung). Diese Oberkörperhaltungen werden als zusätzliche Risikofaktoren für die Entstehung von Rückenbeschwerden diskutiert [12, 15, 17]. Altenpflegekräfte beispielsweise arbeiten durchschnittlich zwei Stunden pro Frühdienst in einer vorgeneigten Haltung und dieser Zeitanteil wächst mit steigender Pflegebedürftigkeit der Bewohner [10]. Nur wenige Studien untersuchten sagittale Neigungen bei Pflegekräften [5, 14, 15] und die meisten davon fokussierten sich auf Patiententransfers; andere Pflegetätigkeiten wurden kaum untersucht. Bisher ist die Frage, wie die große Anzahl an Neigungen bei Pflegekräften reduziert werden kann, unbeantwortet. Außerdem ist noch offen, ob die Pflegekräfte eine Reduktion der Neigungen überhaupt als körperliche Entlastung empfinden. Wir führten eine Laborstudie durch, um herauszufinden, ob die beiden folgenden Faktoren einen Einfluss auf den Zeitanteil haben, den Pflegekräfte in vorgeneigter Haltung arbeiten: 1. die Betthöhe, wenn Grundpflegetätigkeiten am Bett durchgeführt werden und 2. die Arbeitsweise (stehend, sitzend, kniend), wenn Grundpflegetätigkeiten im Bad durchgeführt werden. Zusätzlich untersuchten wir den Zusammenhang zwischen dem Zeitanteil in vorgeneigter Haltung und der empfundenen Anstrengung. Methode Studienpopulation Zwölf Pflegekräfte (Gelegenheitsstichprobe) stellten sich als Probanden zur Verfügung (Tab. 1). Alle Pflegekräfte, die an der Studie teilnehmen wollten, mussten zum Zeitpunkt der Messungen überwiegend frei von Rückenbeschwerden sein. Pflegekräfte, die aufgrund von akuten Rückenschmerzen bestimmte Tätigkeiten nicht ausführen konnten, wurden von der Teilnahme an der Studie ausgeschlossen. 102
Körperhaltung und empfundene Anstrengung bei Pflegekräften 7 Tabelle 1: Beschreibung der Studienpopulation (n = 12) Merkmal Alter (Jahre) 36,0 (± 11,3) Größe (cm) 166,1 (± 6,6) BMI (kg/m²) 23,4 (± 3,3) Berufserfahrung (Jahre) 7,6 (± 7,1) Geschlecht (weiblich) 10 (83,3 %) examinierte Pflegekraft 6 (50,0 %) Metrische Werte sind dargestellt als Mittelwerte (Standardabweichung). Kategoriale Werte sind dargestellt als Anzahl (Prozent). Messablauf Die Untersuchungen wurden in der Altenpflege-Einrichtung durchgeführt, in der alle 12 Probanden arbeiteten. Die Einrichtung stellte einen Raum mit zwei Pflegeplätzen und zwei identische Badezimmer zur Verfügung. Zwei Mitarbeiterinnen unserer Forschungsgruppe stellten sich als pflegebedürftige Bewohner zur Verfügung. Sie waren angewiesen, den Probanden weder zu helfen noch sich gegen die Pflegetätigkeiten zu wehren. Jeder Proband führte zuerst einen standardisierten Ablauf verschiedener Pflegetätigkeiten am Bett und danach im Bad durch. Zu den Pflegetätigkeiten am Bett gehörten: waschen und abtrocknen von Armen, Beinen, Füßen und Rücken der zu pflegenden Person und wechseln des Bettlakens. Alle Probanden lernten den standardisierten Ablauf auswendig und führten diese 2-mal probeweise durch. Danach absolvierte jeder Proband den Pflegeablauf 3-mal hintereinander an drei unterschiedlichen Betthöhen (Tab. 2): 1. Matratzenoberkante auf Kniehöhe, 2. auf Höhe Mitte Oberschenkel (nachfolgend Oberschenkelhöhe genannt) und 3. auf Leistenhöhe (Abb. 1). Die Betthöhen wurden jeweils an der Körpergröße des Probanden ausgerichtet. Direkt nach jedem Versuchsabschnitt gaben die Probanden eine Einschätzung ab, wie körperlich anstrengend sie die Ausführung der Pflegetätigkeiten in der jeweiligen Tabelle 2: Beschreibung der Messungen und Messdauer Messungen am Bett Betteinstellung auf Kniehöhe Betteinstellung auf Oberschenkelhöhe Betteinstellung auf Leistenhöhe Messungen im Bad Arbeitsposition: stehend Arbeitsposition: hockend/kniend Arbeitsposition: auf einem Hocker sitzend Messdauer (Minuten) 7,45 (± 0,92) 7,79 (± 1,24) 8,47 (± 1,66) 2,44 (± 0,53) 2,27 (± 0,74) 2,38 (± 0,42) 103
7 Körperhaltung und empfundene Anstrengung bei Pflegekräften Abbildung 1: Standardisierter Ablauf verschiedener Pflegetätigkeiten an drei unterschiedlichen Betthöhen: Matratzenoberkante auf 1. Kniehöhe, 2. Oberschenkelhöhe und 3. Leistenhöhe Betthöhe empfanden. Hierzu wurde die 15-stufige Borg-Skala mit Werten zwischen 6 (überhaupt keine Anstrengung) und 20 (maximale Anstrengung) genutzt (Tab. 3). Die RPE-Skala (RPE, ratings of perceived exertion ) nach Borg erfasst das Anstrengungsempfinden [3]. Tabelle 3: Borg s RPE-Skala, eine 15-stufige Skala zur Bewertung (rating = R) der empfundenen (perceived = P) Anstrengung (exertion = E) 6 überhaupt keine Anstrengung 7 extrem leicht 8 9 sehr leicht 10 11 leicht 12 13 etwas anstrengend 14 15 anstrengend 16 17 sehr anstrengend 18 19 extrem anstrengend 20 maximale Anstrengung Rate der empfundenen Anstrengung 104
Körperhaltung und empfundene Anstrengung bei Pflegekräften 7 Nach den Versuchen am Bett wurden die Versuche im Bad durchgeführt. Auch hier führten die Probanden einen standardisierten Pflegeablauf durch. Die zu pflegende Person saß dabei in einem Stuhl am Waschbecken. Zu den Pflegetätigkeiten gehörten hier: waschen und abtrocknen der Beine und Füße und anziehen einer Strumpfhose. Die Probanden führten den standardisierten Ablauf im Bad 3-mal hintereinander in unterschiedlicher Arbeitsweise durch (Abb. 2): 1. stehend, 2. hockend oder kniend und 3. auf einem Hocker sitzend. Der Hocker wurde von dem Studienteam zur Verfügung gestellt. Direkt nach jedem einzelnen Versuchsabschnitt gaben die Probanden eine Einschätzung auf der Borg-Skala ab, wie körperlich anstrengend sie den Pflegeablauf in der jeweiligen Arbeitsweise empfanden. Abbildung 2: Standardisierter Ablauf der Pflegetätigkeiten im Bad in drei unterschiedlichen Arbeitsweisen: 1. stehend, 2. hockend/kniend und 3. auf einem Hocker sitzend Das CUELA-Messsystem Zur Messung der mittleren Oberkörperneigung in sagittaler Richtung (nachfolgend Neigung genannt) nutzten wir das CUELA-Messsystem [7], (Abb. 1 und 2). Die Sensoren im Brust- und Lendenwirbelsäulenbereich wurden mit einer Frequenz von 50 Hz abgetastet, sodass die erfassten Bewegungen realistisch abgebildet wurden. Alle erforderlichen Systemkomponenten (Gewicht ca. 2,7 kg) wurden am Körper über der Arbeitskleidung der Probanden angebracht. Verstellbare elastische Gurte passten das System an die jeweilige Körperform der Probanden an und stellten sicher, dass die System-Komponenten nicht verrutschten. Da alle System-Komponenten am Körper getragen wurden, waren keine Verbindungen zu externen Komponenten erforderlich und die Probanden konnten sich während der Messungen frei im Raum bewegen. Zusätzlich zeichneten wir alle Messungen mit einer Videokamera auf. Nach den Messungen synchronisierten wir mithilfe der speziell entwickelten Software WIDAAN 2.79 diese Videoaufzeichnungen mit den Messdaten und konnten so zu jeder erfassten Körperhaltung die entsprechende Arbeitssituation einblenden. 105
7 Körperhaltung und empfundene Anstrengung bei Pflegekräften Bewertung der Oberkörperhaltungen Entsprechend der Normen ISO 11226 [1] und DIN EN 1005-4 [2] sind Oberkörperneigungen zwischen 0 und 20 als akzeptabel definiert und entsprechen einer aufrechten Oberkörperhaltung. In dieser Haltung ist der Druck auf die Bandscheiben in der Lendenwirbelsäule am geringsten und steigt mit zunehmender Neigung [21]. Wir untersuchten daher die Zeitanteile, die die Probanden in den folgenden Neigungswinkel-Klassen verbrachten: 0 bis 20, 20 bis 40, 40 bis 60 und größer 60. Statistische Analysen Vor der Analyse wurde zuerst die Verteilung grafisch überprüft und die Daten, wenn notwendig, logarithmiert. Kategoriale Daten werden als Anzahl (Prozent) dargestellt und metrische Daten als Mittelwert und Standardabweichung. Der Vergleich der Borg- Skala-Daten bezüglich der unterschiedlichen Arbeitsweisen wurde mithilfe von Mixed Models durchgeführt, mit den Pflegekräften als zufälliger Effekt, adjustiert für Alter und Geschlecht. Interaktion zwischen Alter und Geschlecht wurde überprüft, die P-Werte waren jedoch für keine der untersuchten Variable signifikant. Wir stellen die Randmittelwerte mit 95 %-Confidenzintervallen und P-Werte ohne Korrektur für multiples Testen dar. P-Werte < 0,05 (zweiseitig) werden als statistisch signifikant angesehen. Die statistische Analyse wurde mit SPSS 20 durchgeführt. Ergebnisse Alle 12 Probanden absolvierten jeweils drei Versuche am Bett und drei im Bad, sodass insgesamt 72 Versuche durchgeführt wurden 36 am Bett und 36 im Bad. Alle Probanden gaben an, dass sie nach dem Anlegen des Messsystems eine kurze Eingewöhnungszeit benötigt hätten, nach den beiden Probedurchläufen das System jedoch problemlos zu tragen gewesen sei und nicht bei der Ausführung der Pflegetätigkeiten gestört habe. Versuche am Bett Befand sich das Bett auf Kniehöhe, verbrachten die Probanden 18,5 (± 4,6) % der Versuchszeit in aufrechter Haltung und 81,5 (± 4,6) % in vorgeneigter Haltung über 20 (Abb. 3). Dabei lag der Anteil an starken Neigungen über 60 bei 28,4 (± 13,4) %. Wurde das Bett auf Oberschenkelhöhe gestellt, erhöhte sich der Anteil in aufrechter Haltung um 7,9 % und der Anteil starker Neigungen über 60 verringerte sich um 22,1 Prozentpunkte auf 6,3 (± 8,7) %. Bei der Einstellung auf Leistenhöhe traten keine Neigungen über 60 mehr auf und die Probanden arbeiteten hier fast die Hälfte der Zeit in aufrechter Haltung. Alle Probanden bestätigten, dass auch bei der höchsten Betteinstellung (Leistenhöhe) die Tätigkeiten des standardisierten Pflegeablaufs durchgeführt werden konnten. 106
Körperhaltung und empfundene Anstrengung bei Pflegekräften 7 Abbildung 3: Zeitanteile der Rumpfneigung in den einzelnen Winkelklassen für die Versuche am Bett, getrennt nach Einstellung der Betthöhe Abbildung 4: Empfundene Anstrengung bei Pflegetätigkeiten am Bett, angegeben auf der Borg-Skala und getrennt nach Arbeitsweise (6 = überhaupt keine Anstrengung, 20 = maximale Anstrengung) Bezogen auf alle drei Messungen am Bett, gaben alle Probanden bei der niedrigsten Betteinstellung den höchsten Borg-Wert an (17 ± 1,5) (Abb. 4). Dies entspricht der Empfindung sehr anstrengend auf der Borg-Skala. Bei der Betteinstellung Ober- 107
7 Körperhaltung und empfundene Anstrengung bei Pflegekräften schenkelhöhe gaben alle Probanden einen geringeren Wert (13 ± 2,7) im Vergleich zur Einstellung Kniehöhe an. Dieser Wert entspricht der empfundenen Anstrengung recht leicht. Die höchste Betteinstellung Leistenhöhe wurde durchschnittlich mit dem geringsten Borg-Wert von 10 (± 2,0) bewertet, was der Empfindung sehr leicht entspricht. Versuche im Bad Bei der Arbeitsweise stehend verbrachten die Probanden 13,1 (± 4,9) % der Versuchszeit in aufrechter Haltung und 86,9 (± 4,9) % in einer vorgeneigten Haltung über 20 (Abb. 5). Dabei lag der Anteil an starken Neigungen über 60 bei 72,7 (± 10,7) %. Arbeiteten die Probanden hockend oder kniend, erhöhte sich der Anteil in aufrechter Haltung um 19,6 Prozentpunkte und der Anteil starker Neigungen über 60 verringerte sich sprunghaft auf 2,5 (± 3,5) %. Bei der Arbeitsweise auf einem Hocker sitzend stieg der Zeitanteil in aufrechter Haltung nochmals um 6,2 Prozentpunkte an; jedoch stieg hier auch der Anteil an starken Neigungen über 60 um 3,5 Prozentpunkte an. Beim Einsatz des Hockers variierte die Arbeitsweise der Probanden stark: Manche legten das zu pflegende Patientenbein auf dem eigenen Oberschenkel ab, andere hoben es nur leicht an oder ließen es auf dem Boden stehen. Vier Probanden legten das Patientenbein auf ihrem Oberschenkel ab und saßen damit einen 2,5-fach höheren Zeitanteil in aufrechter Haltung verglichen mit den übrigen Probanden (62,5 ± 22,6 % versus 27,1 (± 13,8) %; Daten nicht gezeigt). Abbildung 5: Zeitanteile der Rumpfneigung in den einzelnen Winkelklassen für die Versuche im Bad, getrennt nach Arbeitsweise 108