Bildungsdokumentationen als Grundlage für Zusammenarbeit"

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Transkript:

Felix Winter Bildungsdokumentationen als Grundlage für Zusammenarbeit" Rede auf der Fachtagung Strategien zur Steigerung der Anschlussfähigkeit zwischen Elementar- und Primarbereich durch Beobachtung und Dokumentation von Bildungsverläufen (TransKiGS) in Ludwigsfelde (LISUM) am 14.6.07. Sehr geehrte Anwesende, ich freue mich, heute vor Ihnen sprechen zu können, vor allem auch deshalb, weil Sie an einem Projekt arbeiten, dass ich für äußerst wichtig und lohnend halte, nämlich der übergreifenden Zusammenarbeit zwischen Kindergarten und Schule auf der Basis von Bildungsdokumentationen. Es bedeutet, dass Menschen mit einem unterschiedlichen Erfahrungshintergrund und unterschiedlichen Perspektiven auf Kinder und ihre Werke schauen, sich Gedanken über deren Entwicklung machen und überlegen, wie sie gefördert werden können. Das ist ein Zentralmotiv der Portfolioarbeit, die ich seit über 10 Jahren vertrete und versuche, in den Schulen zu etablieren. Kathe Jervis von der New Yorker Columbia-Universität hat mit dem Titel ihres Portfoliobuches dafür einen Leitsatz formuliert, er lautet: Eyes on the child. Sie will damit ausdrücken, dass wir uns in die Lage bringen sollen, tatsächlich auf die Kinder zu schauen und uns dabei nicht in Nebensächlichkeiten verlieren sollen. Diesen Gedanken greife ich auf und will ihn als Leitmotiv für meinen Vortrag nutzen. Bildungsdokumentationen sollen uns Gelegenheit sein, genauer hinzuschauen, um zu erfahren was und wie Kinder lernen, was sie schon können, wofür sie sich interessieren und wie sie sich entwickeln. Dabei habe ich den Auftrag, den Herr Schmidt mir gestellt hat, folgendermassen aufgefasst: Ich werde nur in geringem Umfang auf die heute gebräuchlichen oder bloß vorgeschlagenen Beobachtungs- und Beschreibungssysteme eingehen. Viele von Ihnen werden einzelne dieser Verfahren besser kennen als ich. Ich werde aber versuchen, Ihnen Gesichtspunkte nahe zu bringen, anhand derer Sie selbst solche Verfahren besser unterscheiden und auf ihre Nützlichkeit hin überprüfen können. Ich werde Sie auf Probleme aufmerksam machen und Lösungsmöglichkeiten skizzieren. Die erste Frage, die es zu klären gilt, lautet: Wozu macht man das? Das Anlegen von Bildungsdokumentationen bedeutet für alle Beteiligten einigen Aufwand und ich kann Ihnen folgendes versichern: Das hält man nur durch, wenn klar ist, wozu man diesen Aufwand betreibt und wenn diese Bildungsdokumentationen sich schliesslich als nützlich erweisen, und das wiederum bedeutet, dass sie so genutzt werden, dass alle etwas davon haben. Es müssen also gezielte Impulse für die Bildungsarbeit daraus hervorgehen. Zum Beispiel sollte die Bildungsdokumentation den Schülerinnen und Schülern ihre Erfolge sichtbar machen, damit sie stolz darauf sein können. Sie sollte ihnen auch helfen, eine Übersicht über manche ihrer Tätigkeiten zu bekommen und die Reflexionsfähigkeit ausbilden. Den Lehrpersonen sollte sie den Lernstand der Schülerinnen und Schüler sichtbar und besser fassbar machen, damit Entscheidungen begründet getroffen werden können. Sie sollte den Lehrpersonen die Schülerinnen und Schüler aber auch näher bringen mehr von ihrer Person zeigen. 1

Eine Bildungsdokumentation ist dann nützlich, wenn sie aussagekräftige Dokumente enthält, übersichtlich ist und anhand ihrer zusammengearbeitet werden kann und die Dialoge geführt werden können. Auf diese Dialoge werde ich gleich noch eingehen. Drei Richtungen bzw. Komponenten der Portfoliodokumentation Da ich über den Bereich der Schule berichte, werde ich im Folgenden vor allem von Portfolios sprechen. Portfolio ist im Bereich der Schule der gebräuchlichere Ausdruck für Bildungsdokumentation aber nicht jedes Portfolio ist eine Bildungsdokumentation. Es gibt viele Arten und Einsatzmöglichkeiten von Portfolios, auf die ich hier nicht vertieft eingehen kann (siehe Häcker 2006). Allerdings ist festzuhalten, dass die Schule durch den Unterricht geprägt ist, und daher jede Bildungsdokumentation in ihrem Verhältnis zum Unterricht bestimmt sein muss und auch für diesen nützlich werden muss. (Im Anhang 1 finden Sie einige definitorische Hinweise zur Portfolioarbeit, s. a. Winter 2006b). Die Prinzipien der Portfolioarbeit sind aber zentral für eine gute Bildungsdokumentation. Und zu den wichtigsten Prinzipien der Portfolioarbeit gehört: Dass aussagekräftige Originaldokumente der Schülerinnen und Schüler zu Prozessen und Produkten ihres Lernens gesammelt und dargestellt werden so dass auch nichtbeteiligte Personen daraus etwas entnehmen können. Dass die Sammlung unter aktiver Beteiligung der Schülerinnen und Schüler zustande kommt und von ihnen reflektiert wird. Dass die Portfolios gemeinsam wahrgenommen und gewürdigt werden. Ich möchte Ihnen nun an einem Schaubild deutlich machen, in welche Richtungen Portfolios akzentuiert sein können bzw. welche Komponenten sie enthalten. Das gilt für Portfolios im ganzen hier angesprochenen Altersbereich. ICH-Buch Dialog der Erinnerung und Freude Dossier über das Kind und seine Entwicklung Dialog über Entwicklung Portfolio Lerninstrument zur Aneignung einer Sache Dialog über die Sache Abb. 1 Richtungen bzw. Komponenten der Portfolioarbeit 2

Beim Portfolio als Ich-Buch werden vor allem Dokumente wie Fotos, Produkte (Zeichnungen, Geschriebenes), Lerngeschichten u. ä. gesammelt und dargestellt. Im Dialog mit den Dokumenten und über sie soll die Erinnerung angesprochen werden und Freude entstehen. Beim Portfolio als Dossier werden vor allem Zeugnisse über das Kind gesammelt, welche seine Entwicklung beschreiben können. Das können Testergebnisse sein, Berichte und Einschätzungen der pädagogischen Fachkräfte, Noten, Selbsteinschätzungen der Schülerinnen und Schüler, aber auch Originaldokumente ihrer Arbeit. Beim Dialog über das Portfolio (bzw. diese Komponenten) geht es vor allem um die Entwicklung. Beim Portfolio als Lerninstrument steht die Auseinandersetzung des Schülers bzw. der Schülerin mit einer Sache jeweils im Vordergrund der Dokumentation. Es werden Spuren ihres Lernens festgehalten, sei es als Produkte oder sei es als Prozessdokumentation. Letztere z. B. als Berichte und Kommentare zu ihren Arbeiten. Durch das Anlegen des Portfolios und die Arbeit mit ihm wird viel gelernt z. B. die Reflexion und die Kontrolle der Ziele. Hier führt das Kind einen Dialog mit seinem Lernen und die Lehrpersonen nimmt daran teil. Ein Portfolio kann stärker in die eine oder die andere Richtung ausgestaltet sein, enthält aber in der Regel alle drei Komponenten. Und entsprechend können die drei genannten Dialoge mehr oder weniger intensiv geführt sein. Direkte und indirekte Leistungsdokumentation In diesem Zusammenhang scheint es mir wichtig zu sein, klar zu unterscheiden zwischen direkter Leistungsdokumentation und indirekter Leistungsdokumentation. Das ist eine Unterscheidung, die oft nicht so bewusst ist. Ich will an einem Beispiel verdeutlichen, was ich damit meine. Auf der Webseite von TransKiGs gibt es eine Beschreibung von Teilbereichen mathematischer Entwicklung von Susanne Steinweg. Diesem Instrumentarium habe ich die folgenden Beispiele entnommen. Dort ist u. a. ein Kompetenzraster zur Beschreibung der Raumorientierung gegeben. Das ist ein Beispiel für eine indirekte Dokumentation von Fähigkeiten in einem umschriebenen Teilbereich, denn hier werden Einschätzungen der Lehrperson bzw. der beobachtenden Person festgehalten. Originaldokumente (z. B. ein Film, der entsprechendes Verhalten zeigt) sind hier nicht gegeben. 3

Abb. 2 Kompetenzbeschreibung und Vorschläge zu möglichen Einlagen für das Portfolio. 1 Zusätzlich zu den Einschätzungen der Lehrperson werden in dem Instrumentarium von Susanne Steinweg dann noch Hinweise gegeben, welche Dokumente zu diesem Erfahrungsbereich eventuell in eine Schatzkiste bzw. das Portfolio eingehen könnten. Ein Beispiel für eine solche Einlage ist mit dem folgenden Bild gegeben, auf dem die Schülerin ihr Klassenzimmer darstellt. Hierbei handelt es sich nun um eine direkte Leistungsdokumentation, und man kann Urteile über die Raumwahrnehmung des Kindes selbst aus dem Bild herauslesen. 1 Siehe: http://www.transkigs.de/materialberlin.html 4

Abb. 3: Gezeichnete Darstellung eines Klassenzimmers als Beispiel für direkte Dokumentation von Fähigkeiten im Erfahrungsbereich Raum. Auf eine direkte dokumentierte Leistung kann man immer wieder zurückgreifen, und verschiedene Personen können sich anhand der Schülerarbeiten selbst ein Urteil bilden. Wenn dagegen ein Lehrerkommentar, eine Note oder ein Testergebnis dokumentiert sind, so handelt es sich wie gesagt um eine indirekte Leistungsdokumentation. Andere Personen, die den Schüler bzw. die Arbeit nicht kennen, können dazu nichts sagen, sondern müssen ihr vertrauen. Das klingt vielleicht banal. Die Zusammenarbeit mit Lehrpersonen hat mir aber gezeigt, dass hier oft nicht klar unterschieden wird. Viele Lehrer sind z.b. durchaus überzeugt, dass die von ihnen für eine Arbeit zugeteilte Note die Leistung der Schüler sei. Beides, die Originalarbeiten und die Kommentare sowie Einschätzungen können sich aber wechselseitig erklären und damit steigt ihre Nutzbarkeit. 5

Wie macht man das? Wie legt man eine nützliche Bildungsdokumentation an, wie kommt man zu nützlichen Beobachtungen und Entscheidungen. Aus der Sicht der Schule kann ich sagen: Der Kindergarten bzw. der frühpädagogische Bereich hat es hier etwas besser, denn es gibt im Moment dort eine starke Bewegung in Richtung Bildungsdokumentationen und man lernt rasch von vorliegenden Erfahrungen aus Ländern, die diesbezüglich viel weiter sind. Im Schulbereich ist die Situation schwieriger, denn das Terrain ist gewissermaßen schon besetzt. Die Schule richtet ihr Augenmerk traditionell sehr auf die fachlich gegliederte Leistung und überprüft sie kleinschrittig. Und sie benutzt zu deren Feststellung und Beurteilung Methoden, die mit Klafki gesprochen - völlig veraltet sind. 2 Traditionell geht es der Schule vor allem darum, die Schülerinnen und Schüler gegeneinander einzustufen. Zur Beschreibung der Leistung werden Ziffernnoten benutzt, die praktisch keine inhaltliche Auskunft über den erreichten Leistungsstand geben können. Insbesondere kann man bei diesem Verfahren nicht erkennen, welche Fortschritte die Kinder z.b. von einem auf das andere Jahr gemacht haben (oder vielleicht auch nicht gemacht haben). Schlechte Noten stellen zwar einen Hinweis auf ein Zurückbleiben dar, geben aber keine Auskunft, welcher Art dieses ist. Verbalzeugnisse sind in dieser Hinsicht zwar etwas besser, befriedigen aber in anderer Hinsicht auch nicht. Ich kann und will diese Problematik hier nicht vertiefen (siehe dazu Schmude 2002a, 2002b; Sacher 2000; Döpp u. a. 2002). Was den Aufbau einer Bildungsdokumentation und eine entsprechende förderpädagogische Arbeit betrifft, so kann man diese wie oben bereits erläutert wurde mehr in die eine oder andere Richtung anlegen und entwickeln. Dabei kann man einerseits die Dokumente mehr aus dem Unterricht selbst gewinnen und auch die Diagnosen (sowie Förderentscheidungen) vor allem aus dem unmittelbaren Unterrichtszusammenhang heraus treffen oder man kann sich stärker auf von Fachleuten ausgearbeitete Beobachtungs- und Diagnoseverfahren stützen. Diese werden in der Regel außerhalb des Unterrichts durchgeführt. Einen Gegensatz bilden sie nicht, sondern sie können sich ergänzen allerdings auch behindern. Zu der schon genannten Dimension direkte und indirekte Leistungsdokumentation tritt also noch eine zweite, die ich integrierte oder separierte Leistungserfassung nennen möchte. Beide Dimensionen sind nicht ganz unabhängig voneinander, aber es ist sinnvoll beide zu unterscheiden. So führt die separierte Erfassung in aller Regel zu indirekter Leistungsdokumentation. Ich will Ihnen mit Bezug zu diesen Unterscheidungen nun exemplarisch einige Vorgehenstypen bei der Erfassung, Diagnose und Dokumentation von Schülerleistungen vorstellen. Ich hoffe, dass diese Typenbeispiele Ihnen helfen, die Verfahren, die Sie in Ihrem Arbeitszusammenhang nutzen, zu verorten oder auch Verfahren zu suchen, die zu Ihren Intentionen passen. 2 Siehe Klafki 1985, S. 220 6

Ausgearbeitete Test- und Beobachtungssysteme. In jüngerer Zeit gibt es viele domänenspezifische diagnostische Instrumente, die entwicklungsorientiert arbeiten und gleichzeitig Hinweise auf Fördermöglichkeiten liefern. Siehe z. B. den Bielefelder Screening Test (BISC) oder Knuspels Leseaufgaben. Gegenüber früheren Tests, die vor allem anlassbezogen eingesetzt wurden und hauptsächlich auf Defizite gerichtet waren., gibt es heute eine ganze Reihe Verfahren, die Lernstände oder Lernvoraussetzungen genau erfassen und auch Fördermöglichkeiten aufzeigen. Sie sind zum Teil auch von Lehrpersonen einsetzbar. Eine Übersicht findet sich bei Probst (2006). Einen zweiten Typ bilden Inventare von Fähigkeiten. Zum Beispiel ein Instrumentarium zur Beschreibung von Fähigkeiten und zur Förderplanung im Grundschulbereich und der Sekundarstufe I, das im Kanton Zürich entwickelt worden ist. Es basiert auf ICF Klassifikation der WHO. Es ist relativ breit angelegt, das heißt, dass es sich auf die Funktionsfähigkeit im geistigen, körperlichen und sozialen Bereich richtet. Der Erhebungsbogen dient zur Vorbereitung eines Standortgesprächs über den betreffenden Schüler und auch mit ihm. Dabei wird nach Stärken gleichermaßen gesucht, wie auch nach Problembereichen. Zur Vorbereitung des Gesprächs füllen die Beteiligten einen Bogen aus und können dann ablesen, wo Stärken und Schwächen gesehen werden und wie weit sie in ihrer Einschätzung übereinstimmen. Im Folgenden ist ein Auszug wiedergegeben (s. Abb. 4). Neben den Lernbereichen werden auch Einschätzungen für die Bereiche Freizeitgestaltung, Selbstversorgung, Bewegung, Umgang mit Menschen vorgenommen (siehe www.phzh.ch/webautordata/224/icfgrundstufe.pdf ). 7

Abb. 4: Bogen zur Vorbereitung eines Standortgesprächs auf Basis der ICF- Klassifikation der WHO (Auszug) Dann sind Entwicklungs- bzw. Lernstandsbeschreibungen zu nennen, wie diejenige von Susanne Steinweg, die ich in ihren Unterlagen gefunden habe. Bei derartigen Beschreibungs- und Beobachtungssystemen liegen Beschreibungen von Fähigkeitsbereichen und Teilfähigkeiten vor. Zudem werden Aussagen über die Entwicklungslogik und Aneignungslogik gemacht, die Lehrpersonen helfen können, in spezifischen Bereichen gezielt Aufgaben zu entwickeln und die Kinder zu beobachten. Ähnlich arbeitet das Konzept der Individuellen Lernstandsanalyse (IleA), das hier in Brandenburg entwickelt wurde. Ein Vorzug ist es dabei, dass jeweils eine ganze Reihe Vorschläge für Übungs- bzw. Lernaufgaben gemacht werden. Außerdem ist es im Netz frei zugänglich. Als weiterer Typ sind Talentportfolios zu nennen. Sie sind mit dem Namen des Begabungsforschers Renzulli verknüpft, und ihre Besonderheit ist es, sich vor allem darauf zu konzentrieren, die Stärken der Schülerinnen und Schüler herauszufinden, zu klassifizieren und die Förderung v.a. an ihnen anzusetzen (siehe Renzulli, Reis & Stednitz 2001a/b). In eine ähnliche Richtung gehen Portfoliokonzepte und Beobachtungs- bzw. Auswertungsverfahren, die mit dem Konzept der multiplen Intelligenzen von Howard Gardner arbeiten (vgl. Brunner & Rottensteiner 2002). Hieraus ein Bei- 8

spiel von einem Bogen, der helfen soll Kinder zu identifizieren, die besondere Begabungen bzw. Interessen im Bereich der naturalistischen Intelligenz zeigen. Abb. 5: Beobachtungsbogen zur naturalistischen Intelligenz nach Gardner 9

Schliesslich möchte ich noch einen etwas anderen Typ von Vorgehen nennen. Hierbei ist die Diagnose- und Dokumentationsarbeit direkt in den Unterricht integriert. Es folgt der pädagogischen Maxime: Man muss die Kinder studieren, indem man sie unterrichtet. Das von Urs Ruf und Peter Gallin in Zürich entwickelte Dialogische Lernen entspricht dem (siehe Ruf&Gallin 1999a/b). Hierbei formulieren die Kinder gegenüber recht offen gehaltenen fachlichen Aufgaben zunächst jeweils ihre eigenen Vorstellungen und Konzepte. Sie aktivieren ihr Vorwissen und auch ihre Gefühle. Diese werden mit den Ansätzen von Mitschülern verglichen und Spuren davon werden in Lernjournalen festgehalten. Später entstehen Portfolios daraus. Dieses Vorgehen hat die Leitfragen: So mache ich das? Wie machst du das? Wie macht man das günstiger Weise? Im Zusammenhang der so ausgelösten Dialoge über die Fachgegenstände und auch über das Wie des Arbeitens und Lernens, werden das Vorwissen und die Besonderheiten der Kinder in den Lernprozess einbezogen, und die Lehrperson kann ihr Unterrichtsangebot adaptiv darauf beziehen. Das Unterrichtskonzept hat den Vorteil, dass hierbei laufend Dokumente entstehen, und dass diese sowie die diagnostischen Erkenntnisse unmittelbar wieder in den Unterricht einfliessen können. Auch hierzu zwei Beispiele aus Lernjournalen (Gallin & Ruf 1995; S. 64). Abb. 6: Bild aus einem Mathematiklernjournal einer ersten Klasse. Zwei mal sechs Tänzer. 3 3 Aus Gallin & Ruf 1995 S. 64. Siehe auch http://www.lerndialog.unizh.ch/index.html 10

Abb. 7: Diesmal sind es sechs mal zwei Tänzer. Abbildung 6 und 7 zeigen ein Ergebnis der Suche von Schülern nach Beispielen für die mathematische Funktion des Malnehmens in ihrer Umgebung. Zwei Tanzformationen verdeutlichen das. Diese Bilder (allgemeiner Autographen) werden allen Schülern vorgelegt und anhand ihrer können sie sehen, wie man die Aufgabe unterschiedlich lösen kann. Im zweiten Beispiel (Abb. 8) erklären Schüler in ihrem Lernjournal, wie sie den Zehnerübertritt bei ihrer Rechnung vollzogen haben (siehe Gallin und Ruf 1995, S. 126; zu Beispielen für die Klassen 4 bis 6 siehe Gallin und Ruf 1999a/b). 11

Abb. 8: Erläuterungen zum Zehnerübertritt aus einem Lerntagebuch beim Dialogischen Lernen Anhand der Erläuterungen in den Lernjournalen kann die Lehrperson, die Gedankengänge der Schülerinnen und Schüler besser verstehen und ihre eignen Erklärungen besser darauf abstellen. Die Kinder wiederum können ihre Lösungen miteinander vergleichen und ihre eigenen - im Kontrast zu denen anderer - genauer fassen und erklären. Die gewonnenen Einsichten werden also direkt im Unterricht weiterverwandt. Eine Übersicht zu den angesprochenen Verfahrensweisen Ich möchte nun die vorgestellten Unterscheidungen noch in einem Schaubild sichtbar machen. 12

direkt dokumentierte Leistungen indirekt dokumentierte Leistungen integriert erhobene diagnostische Erkenntnisse separiert erhobene diagnostische Erkenntnisse Portfolio Talentportfolio Lerntagebuch im Dialogischen Lernen außerschulische Portfoliobelege ILeA Testverfahren ICF - Inventar Abb. 9: Einordnung der angesprochenen Verfahren Die stärker ausgearbeiteten, auf Teilleistungen bezogenen und zum Teil standardisierten Verfahren haben jeweils den Vorteil, dass sie eine Breite und Tiefe der Beobachtung- und Diagnose sichern helfen können. Die stärker in den Unterricht integrierten und direkten Verfahren haben den Vorteil, dass sie nahe an der schulischen Arbeitsweise angesiedelt sind und meist unmittelbar in förderliche Handlungen münden können. Arbeitsschritte und Empfehlungen So weit einige Bemerkungen zu Typen von Konzepten der Beobachtung, Diagnose und Bildungsdokumentation. Ich möchte nun noch auf einige Probleme zu sprechen kommen, die dabei regelmäßig auftreten und gelöst werden müssen. Dazu werde ich Ihnen jeweils kurze Empfehlung geben. Allen genannten Vorgehensweisen ist Folgendes gemeinsam: a) Es muss eine Auseinandersetzung mit einer Sache und Aufgabe stattfinden. b) Es müssen Beobachtungen gemacht und festgehalten werden. c) Es müssen nutzbare Dokumente erstellt und gesammelt werden. d) Es müssen diagnostisch relevante Informationen aus den Dokumenten abgelesen bzw. erzeugt werden. e) Es müssen entsprechende pädagogische Massnahmen folgen. Ich fange bei der Besprechung die ohnehin sehr kurz gehalten werden muss beim zuletzt Genannten an. Zu e) Begründete pädagogische Maßnahmen ergreifen Praktikable, förderrelevante pädagogische Handlungen abzuleiten ist aus meiner Sicht 13

der wichtigste Schritt, weil ohne ihn die vorangegangenen Aktivitäten relativ wertlos bleiben. Gleichzeitig ist das schwierig, denn in der Schule werden die Handlungsmöglichkeiten oft eingeengt. Ich will das an einem Schaubild verdeutlichen. Abb. 10: Nutzlose Diagnostik, wenn auf der Handlungsseite nur ein Angebot gemacht wird bzw. werden kann Es kann z.b. sein, dass Sie aufgrund von Beobachtungen, von Tests, der Analyse von Schülerarbeiten u.a.m. viel und differenzierte diagnostische Information gewinnen. Wenn andererseits in der Folge nur ein einheitliches Unterrichtsangebot gemacht wird bzw. werden kann, ist eine differenzierte Diagnostik eigentlich überflüssig. Ich will damit sagen (und Ihnen empfehlen): Es kann wichtiger sein, an den pädagogischen Handlungsmöglichkeiten zu arbeiten und sie differenzieren zu lernen, als ausgeklügelte Beobachtungs-, Dokumentations- und Diagnoseinstrumente aufzubauen. Wobei beides freilich auch zusammen entwickelt werden kann. Abb. 11: Differenzierte und zuordenbare Angebote können Diagnostik nützlich machen 14

Anders sieht es dagegen aus, wenn unterschiedliche Angebote gemacht werden können, die einer diagnostischen Einschätzung zugeordnet werden können (s. Abb. 11). Es gibt noch ein zweites Problem, nämlich das der Übertragung der gewonnenen diagnostischen Erkenntnisse. Überall dort, wo Diagnostik und pädagogisches Handeln nicht einer Hand oder in einem Team oder im direkten Dialog (z.b. auch zwischen Lehrer und Schüler) realisiert wird, steht das Problem der Übertragung und des Verstehens der gewonnenen Information im Raum. Dieses Problem taucht z. B. beim Ü- bergang von zwischen Schule und Kindergarten auf, wo angelegte und mitgeführte Bildungsdokumentationen in einem anderen Kontext gesehen und interpretiert werden. Meine Empfehlung betrifft ein Vorgehen, das wir seit einiger Zeit erfolgreich bei der Portfolioarbeit erproben (s. Abb. 12). Anhand von direkt dokumentierten Schülerarbeiten und insbesondere anhand von ganzen Portfolios oder Teilportfolios tauschen sich Lehrpersonen in einem angeleiteten Gespräch über ihre Sichtweisen zu den Dokumenten bzw. den betreffenden Schülern aus und entwickeln gemeinsam Fördervorschläge. So bildet man das Herangehen und die Haltung aus, die zuvor Eyes on the child genannt wurde. Und hierbei zeigt sich eine wesentliche Stärke der direkt dokumentierten Arbeiten, dass sie die Zusammenarbeit von Lehrpersonen in Gang bringen können. Aber auch gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern sowie mit Eltern können Sie nützliche, vorwärtsgerichtete Gespräche anhand von Portfolios führen. Wenn es Ihnen dabei gelingt, die Stärken der Kinder herauszuarbeiten, werden Sie leicht die Unterstützung der Eltern für ihre pädagogische Arbeit gewinnen (s. Winter 2006c). Phase 1: Eine Bildgestalt vom Schüler entwickeln Einstiegsfragen: Was hat dich an den Arbeiten von X am meisten beeindruckt? Kannst du in den Arbeiten Anhaltspunkte dafür finden, wo besondere Interessen und Stärken des Schülers/der Schülerin liegen? Welche Fragen über diese Arbeit und ihren Urheber/ihre Urheberin steigen bei der Betrachtung auf? Phase 2: Fördermaßnahmen überlegen Einstiegsfragen: Wo könnten Fördermaßnahmen ansetzen? Welche Ideen hast du, wie X gefördert werden kann? Welche Bedingungen braucht X, damit seine/ihre Stärken weiter entwickelt und/oder Schwächen überwunden können? Abb. 12: Vorgehen bei der Werkbetrachtung mit anschließendem Fördergespräch Zu d) Diagnostische Informationen ablesen bzw. erzeugen Das Herauslesen von diagnostisch relevanten Informationen aus den Dokumenten setzt voraus, dass Entwicklungsvorstellungen vorhanden sind. Die ausgearbeiteten und zum 15

Teil standardisierten Verfahren (z. B. Tests) erleichtern hier die Arbeit, denn ihnen liegen bereits solche Vorstellungen zugrunde und die Auswertung ist angeleitet. Andererseits denke ich, dass es problematisch ist, die diagnostischen Aufgaben der Schule vor allem an Tests oder Experten zu delegieren. Mit Blick auf die schon dargestellten Skizzen zum Zusammenhang von Diagnose und pädagogischer Handlung (siehe Abb. 10 und 11) wird deutlich, dass im schulischen Arbeitsfeld (ebenso wie im Kindergarten) das Handlungswissen der Lehrpersonen bzw. des pädagogischen Personals von entscheidender Bedeutung ist und auch genutzt werden muss. Die Zusammenarbeit an Bildungsdokumenten in der gerade geschilderten Art von Fördergesprächen kann dazu beitragen, dass sich die Lehrpersonen diesbezüglich weiterentwickeln, produktund prozessbezogenes Beobachten lernen und zunehmend besser ihre Unterrichtsangebote mit dem Lernstand der Schülerinnen und Schüler in ein passendes Verhältnis bringen. Meine Empfehlung lautet hier nochmals die Zusammenarbeit auf der Basis von Portfolios zu organisieren. Zu c) Nutzbare Dokumente erstellen und sammeln. Für die Schule bedeutet dieser Vorgang auch, dass der Unterricht so organisiert bzw. umgestellt werden muss, dass überhaupt größere aussagekräftige Arbeiten und Prozessdokumentationen entstehen. Und für das Sammeln, Ablegen und Reflektieren von Dokumenten sowie das Ausstellen und Wahrnehmen von Portfolios braucht man Zeit. Diese Zeit muss als Lernzeit betrachtet werden und darf nicht zu knapp bemessen sein. Als Empfehlung will ich Ihnen hier einige Fragen nennen, die Sie jeweils klären müssen, wenn Sie eine Bildungsdokumentation mit Portfolios in der Schule einführen wollen (s. a. Brunner 2006). Wie steht das Portfolio/die Bildungsdokumentation zum Unterricht? Wie wird die Portfolioarbeit eingeführt, und wie werden die Schülerinnen und Schüler damit vertraut gemacht? Wer soll entscheiden, welche Arbeiten in das Portfolio bzw. die gesamte Bildungsdokumentation aufgenommen werden? Wie wird die reflexive Praxis entwickelt? Was braucht es an Drumherum? (z. B. Kommentarblättern, Schränke zur Aufbewahrung)? Bei welchen Gelegenheiten werden die Portfolios wahrgenommen, anerkannt und besprochen? Wem sind die Portfolios zugänglich? Zu b) Beobachtungen machen und festhalten Hier taucht vor allem die Frage auf, ob man offen oder gebunden beobachten will oder nicht. Offene Beobachtungen haben den Vorteil, dass die Person sich ganzheitlich auf das Kind oder auch auf ein bestimmtes Phänomen konzentrieren kann und seine persönliche Resonanz nutzt. Ausgearbeitete kategoriale Beobachtungssysteme sichern eine Systematik und Breite des Vorgehens. Beides hat Vor- und Nachteile. Wichtig ist aber noch, wer jeweils die Beobachtungen macht. In der Portfolioarbeit sind dies immer auch die Schülerinnen und Schüler selbst. Sie reflektieren und kommentieren ihre eigene Arbeit. Damit werden sie gewissermaßen als Diagnostiker im Lernprozess entdeckt. 16

Meine Empfehlung dazu lautet: Entdecken und nutzen Sie die Schülerinnen und Schüler als Diagnostiker ihrer Arbeiten in der Weise, wie es bei der Vorstellung der Lerntagebücher anklang. Daran anknüpfend will ich kurz die Frage der Reflexion streifen. Diesbezüglich gibt es große Unterschiede bei Schülerinnen und Schülern. Damit habe ich mich lang im Rahmen meiner Arbeiten zur Schülerselbstbewertung befasst. Reflexion kann den Fluss der Arbeit stören und die Schüler zusätzlich belasten. Sie kann ihnen aber auch helfen, ihre Arbeit zu organisieren und daraus zu lernen. Das gilt insbesondere dann, wenn die operativen Seiten des Lernens, also das Wie untersucht wird. Daraus folgt: Reflexion muss angeleitet und ausgebildet werden. Ich empfehle Ihnen dabei eine Reihenfolge einzuhalten. Es ist sinnvoll, nacheinander folgende Reflexionsfragen einzuführen. In ihnen drückt sich eine Entwicklung aus. Was habe ich gemacht? Wie habe ich das gemacht? Wie gut habe ich das gemacht? In den ersten beiden Schuljahren können Sie den Akzent auf die erste und zweite Frage legen. Erst danach sollte die dritte Frage aktiv gestellt werden. Beiläufig ergibt sie sich selbstverständlich auch schon früher. Zu a) Die Begegnung mit der Sache organisieren. Die Begegnung mit einer Sache und einer Aufgabe wird bei allen genannten Verfahren herbeigeführt. In der Schule meist sehr aktiv (es gibt dazu eine ganze Wissenschaft, die Didaktik), im Kindergarten gilt das nicht immer, dort wird oft beim freien Spiel beobachtet. Einige Arrangements, die in der Schule für die Bildungsdokumentation herangezogen werden, zielen auf eine differentialdiagnostische Abklärung. Aber auch und gerade in offenen Lernphasen, lohnen sich Beobachtungen, Gespräche und eine gemeinsame Analyse der Produkte und Prozesse. Dort, wo die Schülerinnen und Schüler ganzheitliche Lernakte vollziehen, sich selbst Themen suchen, Ziele setzen, Erfahrungen sammeln, darstellen und präsentieren, können Sie die Interessen der Schülerinnen und Schüler und den Sinn, den die jeweilige Arbeit für sie macht, leichter erkennen. Außerdem zeigt sich hier ein breiteres Spektrum an Fähigkeiten und Talenten, das die Schule nutzen sollte. Meine Empfehlung lautet daher: Auch und gerade diese offenen und stärker selbstbestimmten Lernphasen sollten in den Blick genommen werden und sich in Dokumenten niederschlagen. Schlussgedanken Für die Schulen stellt der Aufbau von Bildungsdokumentationen sowie ihre Nutzung sicherlich eine große Herausforderung dar. Ich sagte es schon: Hier ist das Terrain noch von anderem besetzt, und es muss daher viel gelernt und auch umorganisiert werden. Die Voraussetzungen dafür sind in den ersten Grundschuljahren aber gut. Aufgrund meiner Erfahrungen in der Beratung von Schulen empfehle ich Ihnen, nicht hastig vorzugehen und zunächst mit kleinen Formen der Dokumentation (z. B. im Einzelunterricht) zu beginnen oder zunächst die reflexive Arbeit in den Unterricht einzuführen (siehe Winter 2004, Kap. 4.5; 2006a; Brunner, Häcker &Winter 2006). 17

Aus der Zusammenarbeit mit den Kindergärten und den dort zum Teil bereits etablierten Bildungsdokumentationen können die Schulen m. E. viel profitieren. Der spezifische Zugang der Schule dürfte aber vorerst mehr auf dem Gebiet einer Portfolioarbeit liegen, welche die Unterrichtsarbeit unterstützt, und noch weniger beim Aufbau umfassender Bildungsdokumentationen. Obwohl ich mir vorstellen kann, dass einzelne Schulen hier eine Pionierfunktion übernehmen können. Insgesamt sollten Sie sich bewusst machen, dass wir in Deutschland noch wenig Erfahrungen und noch weniger empirisch belegbare Effekte zu dieser Arbeit besitzen; diese müssen großenteils erst noch gemacht bzw. untersucht werden. Vermutlich kann Ihre Arbeit dazu einiges beitragen. Literatur: Brunner, Ilse (2006): So planen Sie Portfolioarbeit. Zehn Fragen, die weiterhelfen. In: Brunner, I.; Häcker, T. & Winter, F. (Hrsg.): Das Handbuch Portfolioarbeit. Seelze: Kallmeyer, S. 89-95. Brunner, Ilse; Häcker, Thomas& Winter, Felix (Hrsg.)(2006): Das Handbuch Portfolioarbeit. Konzepte, Anregungen, Erfahrungen aus Schule und Lehrerbildung. Seelze: Kallmeyer. Brunner, Ilse; Rottensteiner, Erika (2002): Auf in die schillernd bunte Welt der Begabungen: Eine Entdeckungsreise ins Reich der multiplen Intelligenzen. Baltmannsweiler: Schneider. Döpp, Wiltrud; Groeben, Annemarie von der; Thurn, Susanne (2002): Lernberichte statt Zensuren. Erfahrungen von Schülern und Eltern. Bad Heilbrunn Gallin, Peter; Ruf, Urs (1995): Ich Du Wir. 1. 3. Schuljahr. Zürich: Lehrmittelverlag des Kantons Zürich. Gallin, Peter; Ruf, Urs (1999a): Ich Du Wir. 4. 5. Schuljahr. Zürich: Lehrmittelverlag des Kantons Zürich. Gallin, Peter; Ruf, Urs (1999b): Ich Du Wir. 5. 6. Schuljahr. Zürich: Lehrmittelverlag des Kantons Zürich. Häcker, Thomas (2006): Vielfalt der Portfoliobegriffe. Annäherungen an ein schwer fassbares Konzept.. In: Brunner, I.; Häcker, T. & Winter, F. (Hrsg.): Das Handbuch Portfolioarbeit. Seelze: Kallmeyer, S. 33-39. Inglin, Oswald (2006): Rahmenbedingungen und Modelle der Portfolioarbeit. In: Brunner, I.; Häcker, T. & Winter, F. (Hrsg.)(2006): Das Handbuch Portfolioarbeit. Konzepte, Anregungen, Erfahrungen aus Schule und Lehrerbildung. Seelze: Kallmeyer, S. 81-88. Klafki, Wolfgang (1985): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik. Weinheim: Beltz. Probst, Holger (2006): Vorhersagen und Vorsorgen. Tests, die weiter führen. In: Friedrich Jahresheft 24, S. 94-97. Renzulli, Joseph S.; Reis, Sally M.; Stednitz, Ulrike (2001a): Das schulische Enrichment Modell SEM. Begabungsförderung ohne Elitebildung. Aarau: Sauerländer. Renzulli, Joseph S.; Reis, Sally M.; Stednitz, Ulrike (2001b): Begleitband zum schulischen Enrichment Modell SEM. Aarau: Sauerländer. Ruf, U./Gallin, P. (1999a): Dialogisches Lernen in Sprache und Mathematik. Bd. 1: Austausch unter Ungleichen. Seelze: Kallmeyer Ruf, U./Gallin, P. (1999b): Dialogisches Lernen in Sprache und Mathematik. Bd. 2: Spuren legen Spuren lesen. Seelze: Kallmeyer 18

Sacher, Werner (2000): Wie Eltern Formulierungsbausteine für Verbalbeurteilungen verstehen. Nürnberg (Universität) 2000 Schelbert, B. (2006). Das Talentportfolio - eine Schatztruhe der Stärken. In: Brunner, I.; Häcker, T. & Winter, F. (Hrsg.)(2006): Das Handbuch Portfolioarbeit. Seelze: Kallmeyer, S.127-135. Schmude, Corinna (2002a): Wie werden Berichtszeugnisse realisiert? In: Valtin, R. (Hrsg.): Was ist ein gutes Zeugnis? Noten und verbale Beurteilungen auf dem Prüfstand. Weinheim, S. 77-87. Schmude, Corinna (2002b): Was ist ein gutes Berichtszeugnis? In: Valtin, R. (Hrsg.): Was ist ein gutes Zeugnis? Noten und verbale Beurteilungen auf dem Prüfstand. Weinheim, S. 89-100. Winter, Felix (2004): Leistungsbewertung. Eine neue Lernkultur braucht einen anderen Umgang mit den Schülerleistungen. Baltmannsweiler: Schneider. Winter, Felix (2006a): Portfolio: Die Leistungsbewertung für die pädagogischen Aufgaben zurückgewinnen! Pädagogik 58, H. 1, S. 34-37. Winter, Felix (2006b): Mit Portfolios Talente fördern. In: Fordern und Fördern in der Sekundarstufe I. Handbuch für Schulleiter. Stuttgart: Raabe, F 2. Winter, Felix (2006c): Diagnosen im Dienst des Lernens. Friedrich Jahresheft 24 Diagnostizieren und Fördern Seelze, S. 22-25. Winter, Felix (2007): Portfolioarbeit im Unterricht. Orientierungspunkte und Indikatoren. In: Pädagogik, 59 H. 7-8, S. 34-39. Winter, Felix; Volkwein, Karin (2006): Wir beginnen mit einer Werkbetrachtung. Gemeinsam lernen, gute Kommentare zu schreiben. In: Brunner, I.; Häcker, T.; Winter, F. (Hrsg.): Das Handbuch Portfolioarbeit. Seelze, S. 200-207 Siehe auch: www.portfolio-schule.de www.lerndialog.uzh.ch 19

Anhang 1: Einiges Definitorisches zum Portfolio Eine Definition in 5 Sätzen Ein Portfolio ist eine Sammlung von Dokumenten, die unter aktiver Beteiligung der betreffenden Schüler zustande gekommen ist und etwas über ihre Lernergebnisse und Lernprozesse aussagen soll. Den Kern eines Portfolios bilden Originalarbeiten, die von den Schülern selbst reflektiert werden. Für die Erstellung eines Portfolios werden in der Regel Ziele und Kriterien formuliert, an denen sich die Schülerinnen und Schüler orientieren können, wenn sie für ihr Portfolio arbeiten und eine Auswahl von Dokumenten zusammenstellen. Portfolios werden häufig auch anderen Personen präsentiert. Anhand von Portfolios finden Gespräche über Lernen und Leistung statt. Einige Arten von Portfolios das Themen- bzw. Rechercheportfolio. Es Dokumentiert eine Recherche - meist zu individuell interessierenden Themen (siehe Winter 2006a) Epochenportfolio. Es begleitet eine Unterrichtsepoche. Kurs-Portfolio. Es begleitet einen ganzen Kurs. Während die bislang genannten Arten vor allen eine Funktion im Unterricht haben, gehen die nachfolgend genannten Portfolios in Richtung einer übergreifenden Bildungsdokumentation. das Talentportfolio. Es konzentriert sich darauf, Stärken und Begabungen der Schülerinnen und Schüler zu finden und Belege dafür zusammenzustellen (siehe Schelbert 2006). Diagnoseportfolio für einen einzelnen Schüler, der besonders gefördert werden soll. Hier werden als Grundlage für ein Fördergespräch Dokumente zusammengestellt (siehe Winter 2006b). Fachportfolio für ein Schuljahr (oder auch längerfristig). Fachübergreifendes Portfolio und Schulzeitportfolio. Berufsfindungs- und Bewerbungsportfolio. Prüfungsportfolio. Aus einem Fachportfolio oder Schulzeitportfolio werden Unterlagen als Grundlage für eine Prüfung zusammengestellt. 20

Stellung des Portfolios zum Unterricht nach Oswald Inglin (2006) 21