Hohe Sensibilität ist eine Begabung. Das sagt jedoch noch nichts darüber aus, ob ein Begabter diese Anlage auch als Gabe erkannt hat und ob er sie konstruktiv nutzen kann. Wer sensibler wahrnimmt als andere, der kann potenziell auch mehr Freude, Lebensglück und inneren Reichtum erfahren. Darüber hinaus kann sich hohe Sensibilität auch förderlich auswirken auf den äußeren Erfolg eines Menschen. In allen Lebensbereichen kann die hohe Sensibilität von Vorteil sein, für den Hochsensiblen selbst und für seine Mitmenschen: Da ist die Abteilungsleiterin, die genau wahrnimmt, in welchem Maße sie welchen Mitarbeiter belasten kann, der Verkäufer, der genau spürt, was der Kunde wünscht, der Ingenieur, der ahnt, in welche Richtung eine technische Entwicklung sich bewegt, der Techniker, der ein besonderes Händchen hat beim Aufspüren von Störungsursachen, die Galeristin, die das Entwicklungspotenzial von Künstlern wahrnimmt und die aussichtsreichsten schon früh an ihre Galerie bindet, der hochsensible Leistungssportler, der genau weiß, wie weit er sich belasten darf und ab wann sein Training ihm schaden könnte, die Mutter, die genau einschätzen kann, in welchem Maße sie ihrem Kind helfen darf und ab wann ihre Hilfe das Kind schwächen und unselbständig halten würde. Doch auch solche Hochsensiblen gibt es: diejenigen, die ihre eigenen Bedürfnisse übersehen, weil sie die der anderen so überdeutlich spüren, die nicht für sich sorgen und deshalb immer zu kurz kommen und dann unzufrieden sind, die, die allen Konflikten ausweichen und nicht in der Lage sind, ihre eigene Position rechtzeitig zu erkennen und zu vertreten, und die dann doch nur im Streit mit anderen leben. Solche, die an ihrem eigenen Anspruch an ihre Arbeit scheitern, weil sie nicht nur das Geforderte leisten wollen, sondern sich weit mehr abverlangen, die sich die Probleme anderer auflasten und gar nicht mehr dazu kommen, ihre eigenen wahrzunehmen, die immer nur das Störende bemerken und an all den vielen anderen Möglichkeiten des Lebens vorbeigehen.
IMMER NUR EDEL, HILFREICH UND GUT? In der Literatur wird bisher das einseitige Bild der sanften und edlen Highly Sensitive Persons gepflegt. Unsere Schattenseiten fallen unter den Tisch. Mit Beschönigungen und halben Wahrheiten ist jedoch niemandem gedient. Am wenigsten den Betroffenen. Wir Hochsensiblen haben eigentlich nur eine Wahl: Wir können es dabei belassen, unsere Wahrnehmung mehr oder weniger zu erleiden, oder wir können uns dafür entscheiden, zu lernen, bewusst und konstruktiv mit unserer Begabung umzugehen. Hohe Sensibilität: Eine Begabung fürs Leben Auch wenn wir uns immer noch als vereinzelt und als Außenseiter erleben, hohe Sensibilität ist stärker verbreitet, als wir denken: 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung gehören dazu. Hochsensible sind also durchaus nicht selten. Dass sie kaum bemerkt werden und sie sich gewöhnlich als vereinzelt erleben, mag damit zu tun haben, dass die meisten Hochsensiblen gelernt haben, sich anzupassen und ihr Wesen zu verleugnen. Hochsensible ecken immer dann an, wenn ihre Sensibilität stört, z.b. wenn sie überreizt reagieren, weil sie ganz offensichtlich überfordert sind. Ein Hochsensibler, der anderen hilfsbereit und einfühlsam nützt, ist durchaus willkommen, er fällt jedoch aufgrund seines eher zurückhaltenden und bescheidenen Wesens kaum auf. Man könnte vielleicht denken, dass die hohe Sensibilität eine Folge der westlichen Zivilisation wäre, doch Hochsensible gibt und gab es in allen Völkern und Kulturen. Unterschiedlich können jedoch die Bewertung und der Umgang mit dieser Eigenschaft sein. So gibt es Kulturen, in denen Hochsensible besonders geschätzt sind, und andere,
in denen der Druck, sich anzupassen, besonders hoch ist. In Zeiten, in denen z.b. von der Jugend gefordert wurde,»zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl und flink wie Windhunde«zu sein, hat sie wohl die geringste Achtung erfahren. Die Anlage der hohen Sensibilität bleibt nicht nur auf die Menschen beschränkt, man findet sie ebenso im Tierreich. Es dient dem Überleben einer Herde, wenn einige Exemplare hochsensibel sind. Sie sind es, die Gefahr als Erste wahrnehmen und die anderen warnen. Selbst bei vereinzelt lebenden Tierarten bietet ein Anteil von Hochsensiblen einen Überlebensvorteil. Die Hochsensiblen lassen sich nicht in Kämpfen um Nahrungsquellen aufreiben, sondern ziehen sich zurück und suchen ihr Heil im Ausweichen. Der Überlebensvorteil der Hochsensiblen liegt gerade in dem, was für viele Hochsensible zur Last geworden ist: in ihrer differenzierten und über den Tellerrand weit hinausgreifenden Wahrnehmung. Vererbung: Zusammenwirken von Genen und Umwelteinflüssen Elaine N. Aron geht von der Erblichkeit der hohen Sensibilität aus. Als zusätzlichen Faktor bei der Ausprägung der hohen Sensibilität nennt sie den Rückhalt, den der kleine Mensch bei seiner Entdeckung der Welt erhält. Ermöglicht ihm die Anwesenheit der Eltern ein Gefühl der Sicherheit bei seinen ersten eigenen Schritten? Oder findet er keinen verlässlichen Rückhalt? Wird das Kind zurückgehalten, wenn es ein wenig Selbständigkeit wagen will? Wird dem Kind vielleicht sogar Angst gemacht? Greift dieses Konzept vielleicht etwas zu kurz? Gewiss, mit den Genen wird die Anlage vererbt, die Gabe der hohen Sensibilität. Doch es gibt noch eine andere Art der Vererbung. Und sie entscheidet mit darüber, ob hohe Sensibilität zum Problem wird oder ob sie sich zum Vorteil für den Begabten auswirkt. Hochsensible Eltern geben auch
ihre eigene Einstellung zur hohen Sensibilität und ihre Probleme, die sie mit ihr haben, weiter. Können sie diesen Wesenszug an sich annehmen oder lehnen sie ihn ab? Bekämpfen sie die hohe Sensibilität in ihrem Kind? Oder packen sie z.b. ihr Kind in Watte, weil sie diese Begabung in sich selbst unterdrücken mussten? Und wie ist es mit ihrem Umgang mit der Wahrnehmung, mit ihren eigenen Grenzen? Wie leben sie selbst ihre Begabung? Wie hoch ist der Anteil der biologischen Vererbung wirklich? Und wie hoch der Anteil der Sozialisation? Diese Frage wird nie stichhaltig beantwortet werden können. Auch ist sie zu vordergründig gestellt. Längst hat die Epigenetik erkannt, dass es um ein Zusammenwirken von Genen und äußeren Faktoren geht. Es sind Umwelteinflüsse, die unterschiedliche Gene aktivieren oder deaktivieren können! Selbsttest: Sind Sie hochsensibel? Welche Aussagen treffen auf Sie zu? Ein Einkaufsbummel in der Stadt scheint für mich anstrengender zu sein als für andere. Gewaltszenen im Kino oder Fernsehen scheinen mich tiefer zu beeindrucken als andere. Soziale Ungerechtigkeit beeindruckt mich so stark, als wäre ich selbst direkt betroffen. Ich bin deutlich schreckhafter als andere. Komme ich neu in einen Laden, fühle ich mich schnell von all den Eindrücken überwältigt und brauche gewöhnlich etwas länger als andere, um mich zu orientieren. Ich reagiere deutlich empfindlicher auf Geräusche als andere Menschen.
Laute Geräusche bereiten mir fast ein körperliches Unbehagen. Reisen scheint mich mehr anzustrengen als andere. Der Kontakt mit anderen Menschen laugt mich manchmal aus. Oft gehen mir selbst kleine Dinge nach, die andere oder ich gesagt haben. Manchmal habe ich das Gefühl, als würde ich auch das hören, was andere nicht sagen. Oft geht mir etwas nach, das ich unterlassen oder nicht gut genug gemacht habe. Ich spüre sehr genau, wie es anderen geht. Ich fühle mich häufig missverstanden, weil ich offenbar mehr und andere Dinge wahrnehme als andere. Manchmal fühle ich mich aus diesem Grund auch sehr allein. Großen Menschenansammlungen weiche ich am liebsten aus. Als Kind war ich tief erschrocken, wenn der Lehrer mit einem Mitschüler schimpfte. Ich fühlte mich so, als hätte er mit mir geschimpft, obwohl ich gar nicht beteiligt oder gemeint war. Wenn Konflikte und Streit in der Luft hängen, spüre ich das beinahe körperlich sogar wenn ich von der Spannung eigentlich selbst gar nicht betroffen bin. Die Stimmungen anderer Menschen beeindrucken mich unnötig stark. Wenn zu viel Unruhe herrscht, reagiere ich gereizt, fahrig, mit Stress oder körperlichen/emotionalen Symptomen.