Alt, süchtig - und wie erreichbar? Sucht im Alter die stille Katastrophe? Fachtag AGJ Katholische Akademie Freiburg 12. September 2012 Dr. Friedemann Hagenbuch
Sucht im Alter die stille Katastrophe? 1. Zur Situation älterer suchtkranker Menschen 2. Fallbeispiele 3. Persönliche Erfahrungen 4. Grundfragen und Vorurteile 5. Hilfen in der Betreuung suchtkranker Älterer 6. Perspektiven
1. Situation älterer-suchtkranker Menschen Anteil der Altersgruppe 65 Jahre und darüber an der Gesamtbevölkerung in Deutschland bis zum Jahr 2030 in % 30 25 20 15 10 5 (Quelle: Statistisches Bundesamt und GSF, Kiel, 2000) 0 1997 2005 2015 2025
1. Situation älterer suchtkranker Menschen Häufigkeit von Abhängigkeitserkrankungen Allgemeinbevölkerung: 4 7 % Altersheime: >10 % abhängig, v.a. Medikamente 2-3% Alkoholabhängige (ca. 400.000?) 2-3% Medikamentenabhängige (ca. 1,5 Mio.?)?? Drogenabhängige BRD - Krankenhaus- Alkoholintoxikationen 2000 vs. 2009 Plus 112 %, Publikumsjoker
Charakteristisch für die Altersmedizin sind Patienten, die multimorbid sind und einen chronischen Krankheitsverlauf haben. Seit 1985 300% Anstieg der Patientenzahl mit > 4 Krankheiten (Szecsenyi 2012) Übersicht über die häufigsten chronischen Erkrankungen für über 65-Jährige (Daten aus den USA): Im somatischen Bereich: Arthrosen 38,7 % Hypakusis 36,8 % Hypertonie 30,6 % KHK 30,2 % Orthopädische Behinderung 16,7 % Katarakt 13,9 % Chron. Sinusitis 11,1 % Tinnitus 9,9 % Diabetes mellitus 9,6 %
Im psychiatrischen Bereich (Hirsch, 2007): Depressive Störungen 10-25 % Demenzen 10-14% 50 % aller Heimbewohner haben eine demenzielle Erkrankung Angststörungen 5-10% Suchterkrankungen 4-7 % Zusammenfassend handelt es sich um Schmerzsyndrome, Kreislauferkrankungen, Beeinträchtigungen der Sinnesorgane, demenzielle, Angst- und depressive Störungen und Suchterkrankungen. Maximum: 1 Patient - 27 Diagnosen PIA ZfP 5/2012
Wie steht es um die ärztliche Versorgung alter Menschen? Zu viele Medikamente 20 % der über 70-Jährigen erhalten >13 Wirkstoffe. Wenn mehrere Ärzte verordnen, fehlt die Abstimmung Kaum Leitlinien für die Behandlung alter und multimorbider Menschen Grundsatz Reha vor Pflege ist nicht umgesetzt. Es gibt keine flächendeckende geriatrische Rehabilitation. Forschung ohne Ältere Aus-, Weiterbildung der Ärzte wird dem demografischen Wandel nicht gerecht Wesentliche Ergebnisse des 6. Altenberichts der Bundesregierung, DÄB, 2011
2. Fallbeispiele Frau H..eine typische ambulante Situation Herr Prof. P. und seine co-abhängige Ehefrau Suchterkrankung unbekannt, obwohl bereits vorhanden Herr M. 67j. depressiver Alkoholiker und sein hilfloser Nervenarzt Suchterkrankung bekannt
3. Persönliche Erfahrungen...die stille Katastrophe! Hilflose Helfer Mangelnde Sensibilität Wenig Fachwissen Fehleinschätzungen und Vorurteile Erhöhtes Risiko und Folgekosten
4. Grundfragen und Vorurteile Sucht- und Psychotherapie ist nur was für junge Menschen.nur 1,5% der > 60 - jährigen erhalten Psychotherapie (Lehr in DÄB Heft 26/2012) Diagnostische Sensibilität für die Abhängigkeitsproblematik und ein entsprechendes Bewusstsein für die Dimension Suchterkrankung. Warum wollen Sie als Behandler überhaupt eine Entzugsbehandlung des Heimbewohners? Behandlungsziel? Ist Abstinenz um jeden Preis Ziel Ihrer Bemühungen? Die Frage der Substitution was können Sie dem Betroffenen statt des Suchtmittels anbieten? Sinnvoll altern aber wie?
5. Hilfen Grundsätzlich: Sensibilität entwickeln Hinschauen statt Augen zu Empathisch ansprechen Strategie? Zeichen einer möglichen Suchtentwicklung: Zunahme des Alkohol- bzw. Medikamentenkonsums Veränderung im Persönlichkeitsbild Gewichtsverlust Vernachlässigung des äußeren Erscheinungsbildes Morgendliches Zittern Übelkeit, Appetitlosigkeit, Mundgeruch Verhaltens- und Reaktionsänderungen Neu auftretende Stimmungsschwankungen, vor allem morgens
Achtung: Große Ähnlichkeiten zwischen alkoholbedingten und alterstypischen Veränderungen. Solche alterstypischen Veränderungen und Verhaltensweisen können sein: Schlaflosigkeit Gedächtniseinschränkungen Infektanfälligkeit Fehlernährung Vermehrte Selbsttötungsgedanken
Therapeutische Besonderheiten bei der Betreuung dieser Patientengruppe: 1. Relativierung des Abstinenzprinzips. 2. Förderung der Ressourcen (Frage der Perspektive des Therapeuten). Entwicklung im Kreativ- und Hobbybereich. 3. Förderung der Tagesstrukturierung, z.b. Anbindung an ambulante Seniorenprogramme. 4. Angebote im religiösen Bereich, Berücksichtigung der Dimensionen wie Lebenssinn, Schuld, Tod, durch seelsorgerliche Angebote. 5. Im Alter ist nicht mehr alles möglich. 6. Psychohygiene persönliche Entlastung finden
6. Perspektiven: Die Verbesserung der Versorgungssituation für diese Patienten muss vom ambulanten Bereich ausgehen. Verbesserte geriatrische und suchtmedizinische Qualifikation der Ärzteschaft, z.b. durch entsprechende Fortbildung, Qualitätszirkel, Supervision. Leitlinien für die Behandlung älterer multimorbider Patienten. ( gibt keine S3 Leitlinien für diese Pat.) Stationäre Altenhilfe: Kontinuität der ärztlichen Versorgung und vor allem Koordination der unterschiedlichen ärztlichen Leistungen durch einen Arzt.
6. Perspektiven Gezielter Einsatz der Pflegeplanung und Pflegedokumentation als weitere zentrale Aufgabe. Die Gabe von Psychopharmaka darf nur nach exakter ärztlicher Verordnung und nicht als beliebige Bedarfsarznei erfolgen. Effektivere Zusammenarbeit zwischen stationären Pflegeeinrichtungen und den betreuenden Hausärzten, z.b. durch Haus-, bzw. Heimbesuche mit Teilnahme des Pflegepersonals. Bei Versagen der ambulanten Behandlungsmöglichkeiten Einweisung ins Krankenhaus.
6. Perspektiven: Wanted: Angebote für ältere - substituierte Drogenabhängige Herstellung von Informationsbriefen an Mitarbeitende in entsprechenden Einrichtungen und Heimbewohner. Im Weiteren muss die Thematik Eingang finden in die Ausbildungspläne, z.b. der Altenpflege, Medizinstudium. Entwicklung von Selbsthilfegruppen, Aufsuchende Arbeit durch Beratungsstellen Zusammenarbeit mit Suchtberatungsstelle, Selbsthilfegruppe, Seelsorger und Seniorenbüro.