Wissenschaftstheorie Dr. Christiane Stange Teil 1: Teil 2: Teil 3 Kurzeinführung Wissenschaftsphilosophie Ausgewählte wissenschaftstheoretische Ansätze, Akademisierungsdebatte Wissenschaft und Werte 1
Wissenschaft - Ethymologisches Das Wort "Wissenschaft" ist zusammengesetzt aus: zwei ehemals selbstständigen Substantiven, die in den indogermanischen Sprachen schon früh auftraten WISSEN: gehört zur indogermanischen Wurzel ueid = sehen, erblicken, gesehen haben = wissen ; althochdeutsch wizzan, mittelhochdeutsch wizzen SCHAFT: Suffix (Endung) von Substantiven althochdeutsch scag = Gestalt, Beschaffenheit. Aus dieser Bedeutung in abstrakten Substantiven wie z.b. Bruder-, Freund- etc. entwickelte sich ein kollektiver Sinn, der auch räumlich gefasst wurde ( Land-schaft ). SCHAFT gehört zum Wortstamm "schaffen", "erschaffen 2
Wissenschaft - Gegenstand Wissenschaft betrachtet spezifische Gegenstandsbereiche / Diziplinen : spezifische Fragestellungen spezifische Theorien spezifische Methoden spezifische Grenzen 3
Wissenschaft - Gegenstand Frage an alle Teilnehmer/-innen: Ist das eigene Fachgebiet auch eine wissenschaftliche Disziplin? Kann es eine werden? Was sind die Voraussetzungen? Hinweise auf mögliche Antwort : a) die Untersuchung der Frage, ob sich das Fachgebiet im hochschulischen Bereich etabliert hat, d.h., ob eine Akademisierung stattgefunden hat b) die direkte Untersuchung der spezifischen Fragestellungen, Theorien, Methoden etc. 4
Wissenschaft - Akademisierung Akademisierung = Bildung von wissenschaftlichen Disziplinen durch die Verortung eines Gegenstandsbereichs im akademischen Umfeld Akademisierung Forschung Lehre zentrales Ziel: Etablierung als wissenschaftliche Disziplin Voraussetzung (u.a.): Akzeptanz (durch andere Disziplinen, Gesellschaft, eigene Profession ) Nachweis spezifischer wissenschaftlicher Merkmale 5
Was ist Akademisierung? Akademisierung der Professionen Text Akademisierung der Gesundheitsberufe (Friedrichs, Schaub 2011) Aufgaben: a) welche Merkmale kennzeichnen Akademisierung? (drei für Sie wichtigste Aspekte des Textes) b) welche Vorteile hat eine Akademisierung für wen (gibt es auch Nachteile)? 6
Wissenschaftstheorie - Gegenstand Frage an alle: Ist das eigene Fachgebiet auch eine wissenschaftliche Disziplin? Kann es eine werden? Was sind die Voraussetzungen? Hinweise auf mögliche Antwort : a) die Untersuchung der Frage, ob sich das Fachgebiet im hochschulischen Bereich etabliert hat, d.h., ob eine Akademisierung stattgefunden hat b) die direkte Untersuchung der spezifischen Fragestellungen, Theorien, Methoden etc. 7
Wissenschaftstheorie - Gegenstand Wissenschaftstheorie betrachtet Wissenschaft : ihre Ziele ihre Funktionsweisen ihre Methoden ihre Grenzen allgemein: die gemeinsame Grundlagen der Wissenschaft und ihrer Disziplinen Zentrale Frage: Was ist die Natur der Wissenschaften? Was ist allen wissenschaftlichen Bemühungen gemeinsam? 8
Wissenschaftstheorie Leitfrage Eine wichtige wissenschaftstheoretische Leitfrage: Welche erkenntnistheoretischen Annahmen und methodologischen Merkmale zeichnen wissenschaftliche Disziplinen aus? 9
wissenschaftstheoretische Positionen: Grundlegendes Fundamentalistisches Erkenntnisprogramm: Wissen ist nur möglich, wenn es auf einem Fundament sicherer und notwendiger Prinzipien beruht. Diese sind nicht durch unsichere Erfahrung sondern nur durch rationale Intuition zu gewinnen. Fallibilistisches Erkenntnisprogramm: Die Erkenntnis der Realität ist grundsätzlich fehlbar, wissenschaftliches Wissen kann nur gut bestätigt, niemals aber vollkommen sicher sein. 10
wissenschaftstheoretische Positionen: Grundlagen es existierten zwei wesentliche Positionen in der Wissenschaftstheorie (seit der Antike bzw. der frühen Neuzeit ) Klassischer Rationalismus: Wissen bzw. Erkenntnis entsteht nicht allein aus empirischen Gegebenheiten sondern wird durch intellektuelle Leistung hervorgebracht Betonung der Komponente des Intellekts : geistige Fähigkeiten = Verstand ist am bedeutendsten im Erkenntnisprozess Klassischer Empirismus: Wissen bzw. Erkenntnis liegt (begriffsfreie) Erfahrung zugrunde Betonung der Komponente der Sinne : sinnliche Wahrnehmung = Beobachtung ist am bedeutendsten im Erkenntnisprozess Methode: Rückführung (= Reduktion ) aller wissenschaftlichen Begriffe durch Definitionsketten auf Beobachtungsbegriffe 11
wissenschaftstheoretische Positionen: Weiterentwicklungen Logischer Empirismus (M. Schlick, O. Neurath, R. Carnap), 20. Jh. Betonung der Sprache und der Logik im Erkenntnisprozess als wichtiges methodisches Rüstzeug für Wissenschaftstheorie Abkehr vom fundamentalistischen Erkenntnisprogramm: Beobachtungssätze sind prinzipiell fehlbar ( fallibel ) Abkehr vom begrifflichen Reduktionsprogramm: Theoretische Begriffe (z.b. Kraft, elektrisches Feld, menschlicher Charakter ) gehen über Beobachtbares hinaus es bleibt (bis heute) ein minimaler Empirismus: wissenschaftliche Theorien müssen empirische Konsequenzen haben, an denen sie überprüft werden können 12
wissenschaftstheoretische Positionen: Weiterentwicklungen Kritischer Rationalismus (K. Popper) 20. Jh zwei Kernideen des kritischen Rationalismus: Wissenschaftliche Theorien können beliebig weit über die Erfahrung hinausgehen, wenn sie nur an ihr überprüfbar sind. Ihre Überprüfung ist nur anhand von Falsifikation, nicht anhand von Verifikation möglich 13
wissenschaftstheoretische Positionen: Weiterentwicklungen Theoriewandel (nach K. Popper) Erkenntnisoptimismus weicht Falsifikationsmöglichkeit Seit der Wissenschaftlichen Revolution herrschte Erkenntnisoptimismus im Sinne einer Akkumulationstheorie der Erkenntnis ( Anhäufung von Wissen) aber: durch Ablösung der klassischen Physik durch Quantenmechanik im 20. Jh. wuchsen Zweifel an Akkumulationstheorie K. Popper setzte auf empirisch begründete Zurückweisung / Revisionsmöglichkeit / Falsifikation von Theorien durch Gegenbeispiele Theorienwandel als Abfolge inkompatibler Theorien, keine Wissensanhäufung mehr 14
wissenschaftstheoretische Positionen: Weiterentwicklungen Historische Wissenschaftstheorie und Relativismus (T. Kuhn), 20. Jh. Neues Modell des wissenschaftlichen Paradigmenwechsels : ein wissenschaftliches Paradigma enthält: theoretische Prinzipien und Modelle, Musterbeispiele erfolgreicher Anwendung, methodologische und normative Annahmen das wissenschaftliche Paradigma bestimmt auch Interpretation der Beobachtungsdaten und die Beobachtungsdaten selbst, denn: jede Beobachtung ist theoriegeladen ein Wechsel des wissenschaftlichen Paradigmas vollzieht sich immer in drei Phasen: 15
wissenschaftstheoretische Positionen: Weiterentwicklungen Historische Wissenschaftstheorie und Relativismus (T. Kuhn), 20. Jh wissenschaftlicher Paradigmenwechsel: 1. Normalwissenschaft (Beispiel Newtonsche Physik) 2. epistemische Krise (Auftreten nicht erklärbarer Daten) 3. Paradigmenwechsel mit Umorientierungen => neue Normalwissenschaft (Beispiel Einsteinsche Physik) Rationale Unvergleichbarkeit = Inkommensurabilität dieser Paradigmen/Theorien, Durchsetzung hängt von außerwissenschaftlichen Aspekten ab. Problem für empiristische und rationalistische Ansätze: Aussagen zu Natur der Beobachtung fehlen, daher ist kein Gegenargument zur Theoriegeladenheit von Beobachtung und den relativistischen Konsequenzen vorhanden 16
Rationale Rekonstruktion Theoriegeladenheit der Beobachtung mögliche Konsequenz: würde es keinen Unterschied geben, zwischen dem, was die Erfahrung zeigt und dem, was man theoriegelenkt vermutet, wäre Erfahrungswissenschaft eine permanente Selbsttäuschung. Einer Theorie der Erfahrungswissenschaften, die diesen zentralen Unterschied nicht erklären kann, haftet etwas äußerst Unbefriedigendes an (Schurz, 2008², 17) mögliche Lösung: empirisch-kognitive Perspektive des wissenschaftstheoretischen Ansatzes der rationalen Rekonstruktion integriert einen engeren, intersubjektiven Begriff von Beobachtung : Ein Begriff ist ein Beobachtungsbegriff im engeren Sinne, gdw. er von allen Menschen unter Normalbedingungen der Beobachtung unabhängig vom Hintergrundwissen und Sprach- und Kulturzugehörigkeit in einem ostensiven Lernexperiment erlernbar ist 17
Rationale Rekonstruktion Aufgaben der Wissenschaftstheorie Normativer Ansatz: Wissenschaftstheorie hat die Aufgabe, zu sagen, was Wissenschaft sein sollte und wie sie zu betreiben ist Deskriptiver Ansatz: Wissenschaftstheorie hat die Aufgabe, zu sagen, was Wissenschaft de facto ist und wie sie betrieben wird zusammenführender ( synthetischer ) Ansatz der Rationalen Rekonstruktion: es ist primäre Aufgabe der Wissenschaftstheorie, Methoden und Kriterien rationaler Wissenschaft zu beschreiben, hierfür müssen auch die faktischen Wissenschaften in ihrer historischen Entwicklung studiert werden 18
Rationale Rekonstruktion Rationale Rekonstruktion Grundelemente zwei Elemente der Methode der Rationalen Rekonstruktion: Deskriptives Element Wissenschaftstheorie lernt aus Beispielen der Wissenschaftsgeschichte Normatives Element enthält oberstes Erkenntnisziel von Wissenschaft: es sollen möglichst wahre und gehaltvolle Aussagen, Gesetze oder Theorien über einen bestimmten Gegenstandsbereich gefunden werden 19
Rationale Rekonstruktion Rationale Rekonstruktion Voraussetzungen (1) Voraussetzung 1 - minimales gemeinsames erkenntnistheoretisches Modell von Wissenschaften: E1: minimaler Realismus es gibt eine unabhängig vom Erkenntnissubjekt existierende Realität, grundsätzliche Erkenntnisgrenzen sind aber möglich E2: Fehlbarkeit jede wissenschaftliche Behauptung ist fehlbar, keine absolute Sicherheit über ihre Wahrheit ist möglich (nach Schurz, 2008²) 20
Rationale Rekonstruktion Rationale Rekonstruktion Voraussetzungen (2) Voraussetzung 1 - minimales gemeinsames erkenntnistheoretisches Modell von Wissenschaften: E3: Objektivitätsstreben da niemals Subjektunabhängigkeit gegeben ist, gibt es keinen direkten Zugang zu Wahrheit aber die prinzipielle Möglichkeit der intersubjektiven Überprüfung E4: minimaler Empirismus Gegenstandsbereich einer Wissenschaft muss im Prinzip der Erfahrung/Beobachtung zugänglich sein E5: Streben nach logischer Klarheit Anwendung logischer Methoden zur Formulierung Begriffen, Sätzen und Theorien zur Präzisierung von Bedeutungen (nach Schurz, 2008²) 21
Rationale Rekonstruktion Rationale Rekonstruktion Voraussetzungen (3) Voraussetzung 2 (folgt aus Voraussetzung 1) - gemeinsame methodologische Merkmale: M1: Wissenschaft sucht nach möglichst allgemeinen und gehaltvollen Sätzen (Gesetze, Theorien) M2: Wissenschaft sucht nach möglichst vielen, relevanten Beobachtungssätzen, welche die Resultate von Beobachtungen, Experimenten und Messungen wiedergeben (nach Schurz, 2008²) 22
Rationale Rekonstruktion Rationale Rekonstruktion Voraussetzungen (4) Voraussetzung 2 (folgt aus Voraussetzung 1) - gemeinsame methodologische Merkmale: M3: Wissenschaft versucht, mit allgemeinen und hypothetischen Sätzen, die zum Zeitpunkt bekannten aktualen Beobachtungssätze zu erklären und neue Beobachtungssätze vorauszusagen M4: Wissenschaft versucht, ihre allgemeinen und hypothetischen Sätze empirisch zu überprüfen, indem die vorausgesagten mit den aktuellen Beobachtungssätzen verglichen werden. Übereinstimmung deutet auf Bewährung/Bestätigung, logischer Widerspruch auf Schwächung/Falsifikation (nach Schurz, 2008²) 23
Die wissenschaftliche Methode Wissenschaftliche Theorien Voraussage Erklärung Schwächung Bestätigung Empirische Gesetze Voraussage Erklärung Schwächung Bestätigung Aktuale Beobachtungssätze drei Ebenen der wissenschaftlichen Methode (nach Schurz, 2008²) 24
Theorie T (+ Hintergrundwissen): Theoriemodifkation T*: Empirisches Gesetz G: Gesetzesmodifikation G*: Aktuale Beobachtungssätze E: Erklärung; V: Voraussagen ;S: Schwächung; B: Bestätigung (nach Schurz, 2008²) 25
Theorie T (+ Hintergrundwissen) T1: Kohlenmonoxid im Rauch reduziert Sauerstoffgehalt im Blut T2: Sauerstoffmangel im Blut führt zu Schwindel Theoriemodifkation T*: Kohendioxidmangel führt auch bei Sauerstoffüberschuss zu Schwindel Bekanntes empirisches Gesetz G Empirisches Gesetz G: Rauchen führt zu Schwindel Neue empirische Gesetze: Schwindel bei starkem Smog Schwindel bei Hyperventilation Gesetzesmodifikation G*: außer bei Gewohnheitsrauchern Bekannte Fälle Neue Fälle: Nichtraucher Gewohnheitsraucher Aktuale Beobachtungssätze E: Erklärung; V: Voraussagen ;S: Schwächung; B: Bestätigung (nach Schurz, 2008²) 26
Klassifikation wissenschaftlicher Disziplinen Klassifikation wissenschaftlicher Disziplinen nach Gegenstandsbereichen: Wissenschaften 1) von der Natur: Chemie, Physik, Biologie, Geologie, Medizin (Astronomie, Kosmologie, Geographie, Paläontologie ) 2) von der Technik: Maschinenbau, Elektrotechnik, Informatik. 3) vom Menschen: Psychologie (auch: Pädagogik, Medizin, Kognitionswissenschaft ) 4) von der Gesellschaft: Soziologie, Ökonomie, Politologie, (auch: Anthropologie, Ethnologie, Geographie) 5) von der Geschichte (der Menschheit): Geschichtswissenschaft (auch: Anthropologie, Ethnologie, Philosophie als Geistesgeschichte) (nach Schurz, 2008²) 27
Klassifikation wissenschaftlicher Disziplinen Klassifikation wissenschaftlicher Disziplinen nach Gegenstandsbereichen: Wissenschaften 6) von den kulturellen Schaffensprodukten des Menschen: Jura, Sprachwissenschaft,Literturwissenschaft, Kunst- und Musikwissenschaft, Medienwissenschaft (auch: Pädagogik, Religionswissenschaft) 7) von formalen Strukturen: Mathematik, formale Methodologie und Wissenschaftstheorie 8) von den allgemeinen Grundlagen geistiger Welterfassung: Philosophie 9) von Gott: Theologie (nach Schurz, 2008²) 28
Klassifikation wissenschaftlicher Disziplinen Klassifikation wissenschaftlicher Disziplinen nach Quantifizierungsgrad ihrer Methodologien: logisch-mathematisch quantitativ Logik Statistik und Messtheorie Technologie natursprachlich qualitativ Hermeneutik Inhaltsanalyse Feldforschung (nach Schurz, 2008²) 29
Was ist Akademisierung? Akademisierung der Professionen Text Akademisierung ist mehr als Lehre (Siegmüller 2009) Frage: - was ist hier mit Wissenschaftstheorie gemeint? 30
Literatur und Quellen: Carrier, Martin (2008) Wissenschaftstheorie zur Einführung, Hamburg: Junius Curd, Martin et.al. (1998) Philosophy of Science the Central Issues, New York, London: W.W. Norton Kusch, Martin (2012) Wissenschaftstheorie 1, http://univie.academia.edu/martinkusch/teaching Mühlhölzer, Friedrich (2011) Wissenschaft, Stuttgart: Reclam Poser, Hans (2012)² Wissenschaftstheorie, eine philosophische Einführung, Stuttgart: Reclam Schülein, Johann A., Reize Simon (2005)², Wissenschaftstheorie für Einsteiger, Wien: WUV besonders leicht lesbar! Schurz, Gerhard (2008)² Einführung in die Wissenschaftstheorie Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 31