Prof. Dr. Klaus Marxen Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie http://marxen.rewi.hu-berlin.de/ AG zur Vorlesung Strafrecht Besonderer Teil 2 23. April 2009 Sommersemester 2009 1. Schweigegeld-Fall A hat vor drei Monaten nachts unter Alkoholeinfluss einen tödlichen Verkehrsunfall verursacht und ist anschließend geflüchtet. Der Polizei ist es nicht gelungen, den Fall aufzuklären. B, Wohnungsnachbar des A, weiß jedoch davon, weil A ihm in jener Nacht, als sie sich zufällig im Treppenhaus trafen, in aufgelöstem Zustand davon berichtet und ihn um Stillschweigen gebeten hat. Da B sich in Geldnot befindet, entschließt er sich, sein Wissen auszunutzen. Er fordert von A, als er ihn wieder einmal im Treppenhaus trifft, die Zahlung von 5.000 Euro Schweigegeld ; falls dieser sich weigere, zu zahlen, werde er ihn bei der Polizei anzeigen. A lehnt jedoch eine Zahlung ab. Daraufhin kündigt B für den Abend seinen Besuch in der Wohnung des A an. Bei diesem Besuch lässt B sich zum eigenen Schutz von C begleiten, der als Schläger bekannt und in das Vorhaben eingeweiht ist. Als A sich erneut weigert, die geforderte Summe zu bezahlen, beginnt C auf Aufforderung des B damit, Wohnungsgegenstände des A zu zerstören. Er tritt mit Füßen in die Stereoanlage und macht sich daran, den Wohnzimmerschrank umzukippen. Gleichzeitig greift B zum Telefon und droht A an, die Nummer der Polizei zu wählen. Nunmehr erklärt A sich einverstanden. Er holt aus der Küche eine Plastiktüte, begibt sich damit in ein Nebenzimmer, wo er in einem Safe Geld verwahrt, und steckt 5.000 Euro in die Tüte. Diese händigt er B aus, der sie an C mit der Aufforderung weiterreicht, das Geld zu zählen. Beim Zuschauen gerät A in Erregung. Er ist wütend über den Geldverlust und möchte ihn noch irgendwie abwenden. Außerdem möchte er sich an B rächen und verhindern, dass weitere Geldforderungen folgen oder B seine Unfallflucht anzeigt. Ohne dass B und C etwas davon bemerken, holt A aus der Küche ein scharf geschliffenes Küchenmesser mit einer 10 cm langen Klinge. Er tritt von hinten an B heran, der nach der Aushändigung des Geldes keine Gegenwehr von A mehr erwartet und aus dem Fenster schaut, um abzuwarten, dass C mit dem Geldzählen fertig wird. A reißt den Kopf des B nach hinten und schneidet ihm mit vier schnellen Schnitten die Kehle durch. B bricht zusammen und verstirbt umgehend. Überrascht und geschockt lässt C das Geld fallen und rennt aus der Wohnung. Strafbarkeit des A gem. 211, 212 StGB?
Schweigegeld-Fall Seite 2 Vorschlag für den Aufbau der Prüfung Strafbarkeit des A wegen Mordes gem. 211, 212 Abs. 1 StGB 1 I. Tatbestandsmäßigkeit 1. Objektiver Tatbestand a) Grundtatbestand, 212 Abs. 1 StGB (+) b) Qualifikation, 211 StGB (Mordmerkmale der 2. Gruppe) Schwerpunkt: Heimtückische Tötung? (+/ ) 2. Subjektiver Tatbestand a) Vorsatz im Hinblick auf den Grundtatbestand (und im Falle der Annahme auch auf die Qualifikation der heimtückischen Tötung) (+) b) Qualifikation, 211 StGB (Mordmerkmale der 1. und 3. Gruppe) aa) Habgier ( ) bb) Verdeckungsabsicht ( ) cc) sonstige niedrige Beweggründe ( ) II. Rechtswidrigkeit: Notwehr gem. 32 StGB? 1. Notwehrlage: gegenwärtiger rechtswidriger Angriff (+) 2. Notwehrhandlung: erforderliche und gebotene Verteidigung a) Schwerpunkt: Erforderlichkeit? (+/ ) aa) Geeignetheit der Verteidigung (Ex-ante-Betrachtung) bb) Auswahl des mildesten unter gleichermaßen geeigneten Mitteln b) Gebotenheit (+) 3. ggf. Verteidigungswille (+) III. ggf. Schuld (+) 1 Möglich ist auch eine getrennte Prüfung von Grunddelikt und Qualifikation (so das Verhältnis von Mord und Totschlag nach h. L.). Ein solcher Aufbau hätte den Vorzug, bei der Diskussion um die normative Auslegung des Heimtückemerkmals auf die bereits beim Grunddelikt geprüfte Notwehrlage verweisen zu können. Dieser Aufbau sollte jedoch nur gewählt werden, wenn eine Rechtfertigung im Ergebnis abgelehnt wird. Ansonsten würde die Prüfung nicht mehr zur Diskussion der Mordmerkmale gelangen. Bei der hier gewählten gemeinsamen Prüfung von 211 und 212 StGB ist für die Erörterung der Heimtücke allerdings ein Vorgriff auf die Notwehrkonstellation erforderlich.
Schweigegeld-Fall Seite 3 Hinweise zu den Problemschwerpunkten Strafbarkeit des A wegen Mordes gem. 211, 212 Abs. 1 StGB I. Tatbestandsmäßigkeit 1. Objektiver Tatbestand a) Grunddelikt, 212 Abs. 1 StGB (+) b) Qualifikation, 211 StGB (Mordmerkmale der 2. Gruppe) Schwerpunkt: Heimtückische Tötung Heimtückisch tötet, wer die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tötung ausnutzt. 2 Das Opfer wird üblicherweise als arglos angesehen, wenn es zu Beginn des Tötungsversuchs keinen Angriff auf Leib oder Leben erwartet. 3 Dies war vorliegend der Fall, da B keine Gegenwehr von A erwartete, als dieser zu den tödlichen Schnitten ansetzte. Bei der Auslegung der Mordmerkmale ist jedoch die absolute Strafandrohung des 211 StGB zu berücksichtigen. Während für den Totschlag nach 212 Abs. 1 StGB ein Strafrahmen von 5 bis 15 Jahren ( 38 Abs. 2 StGB) Freiheitsstrafe zur Verfügung steht, hat die Erfüllung eines Mordmerkmals nach der gesetzlichen Regelung zwingend die Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Folge. In der Erfüllung eines Mordmerkmals muss deshalb ein im Vergleich zum Totschlag besonders hohes Maß an Schuld zum Ausdruck kommen. Aus diesem Grund ist eine restriktive Auslegung sämtlicher Mordmerkmale geboten. Die verfassungsrechtliche Grundlage für dieses Gebot bilden der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 20 Abs. 3 GG) und das Schuldprinzip (Art. 20 Abs. 3 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG). Ein Anknüpfungspunkt für eine restriktive Auslegung der Heimtücke bildet im vorliegenden Fall das Geschehen, das der Tötung vorausging. B hatte A dazu gebracht, ihm ein Schweigegeld von 5.000 EUR auszuhändigen. Dieses ließ B von C noch in der Wohnung des A zählen. Wenngleich B mit Gegenwehr des A faktisch nicht gerechnet hatte, stellt sich die Frage, ob er angesichts des vorangegangenen Geschehens mit einer solchen nicht wenigstens hätte rechnen müssen. Dieser Umstand gibt Anlass zu der Überlegung, ob das Merkmal der Arglosigkeit im Gegensatz zu einer rein faktischen Beurteilung einer wertenden Betrachtung zuge- 2 Rengier, Strafrecht BT II, 10. Aufl. 2009, 4 Rn. 23. 3 Vgl. Rengier (Fn. 2), 4 Rn. 24.
Schweigegeld-Fall Seite 4 führt werden sollte. Eine solche normative Auslegung der Arglosigkeit hat der BGH für die hier vorliegende Fallgruppe einer Notwehrlage nach einer vorangegangenen Erpressung gefordert. 4 Er hält eine solche für erforderlich, um einen Gleichklang mit dem Notwehrrecht herzustellen. Wenn ein überraschender Gegenangriff als erforderliche Notwehrhandlung anzusehen sei, solle dem Verteidiger nicht das Risiko aufgebürdet werden, etwa bei Überschreitung der sozialethischen Grenzen der Notwehr, sogleich eines Heimtückemordes schuldig zu sein. Daher entfalle die Arglosigkeit des Erpressers grundsätzlich von Beginn des konkreten erpresserischen Angriffs bis zu dessen Beendigung durch das Sichern der Beute. In der Literatur wird diese Argumentation von einigen Stimmen kritisiert. 5 Bei einer Überschreitung der zulässigen Verteidigung bestehe für eine Privilegierung des Verteidigers kein Anlass, denn eine solche Verteidigung sei von der Rechtsordnung gerade nicht gebilligt. Außerdem sei die Unterscheidung des BGH zu grob. Es gebe durchaus auch Verteidigungsfälle in denen im Ausnutzen der (faktischen) Arglosigkeit des Opfers ein besonders hohes Maß an Schuld zum Ausdruck komme. Daran zeige sich, dass die Herstellung eines Gleichklangs mit dem Notwehrrecht verfehlt sei, denn es handele sich dabei jeweils um unterschiedliche Problemlagen. Schließlich wird dem BGH vorgeworfen, die gesetzgeberische Entscheidung in 33 StGB zu umgehen. Die dortige Regelung für Fälle, in denen die Grenzen zulässiger Notwehr überschritten werden, sei als abschließend anzusehen. Aber auch in der Literatur gibt es Vorschläge für eine einschränkende Auslegung der Heimtücke, mit denen man im vorliegenden Fall zu einer Ablehnung des Merkmals kommen kann. So wird der Wortbestandteil der Tücke dafür angeführt, lediglich Fälle zu erfassen, in denen für die Tötung ein besonderes Vertrauensverhältnis ausgenutzt wird. Kritisiert wird daran allerdings, dass dadurch gerade typische Konstellationen eines Angriffs aus dem Hinterhalt von der Anwendung ausgenommen würden. Ebenfalls aus dem Wortbestandteil der Tücke wird herausgelesen, nur ein hinterhältig-planendes, berechnendes Vorgehen sei zu erfassen. Mit dieser Ansicht kann man im vorliegenden Fall ebenfalls vertretbar zu einer Ablehnung der Heimtücke kommen. Schließlich wird die Auffassung vertreten, im Vorliegen eines Mordmerkmals sei lediglich ein Indiz dafür zu sehen, dass es sich um eine besonders verwerfliche Tötung handele. Im Wege einer negativen Typenkorrektur könne jedoch in Ausnahmefällen durch eine Gesamtwürdigung festgestellt werden, dass es an einer solchen be- 4 BGHSt 48, 207 ff. (ebenfalls abgedruckt in: NJW 2003, 1955 ff.). 5 Vgl. etwa H. Schneider, NStZ 2003, 428 ff. und Zaczyk, JuS 2004,750 ff.
Schweigegeld-Fall Seite 5 sonderen Verwerflichkeit fehle und damit der Tatbestand des Mordes im Ergebnis abgelehnt werden. Auf dieser Grundlage scheint es gut vertretbar, der Tötung hier eine besondere Verwerflichkeit abzusprechen und damit den Tatbestand zu verneinen. (Mit entsprechender Begründung lässt sich jedoch auch dessen Erfüllung vertreten.) 2. Subjektiver Tatbestand a) Vorsatz im Hinblick auf den Grundtatbestand (und im Falle der Annahme auch auf die Qualifikation der heimtückischen Tötung) (+) b) Qualifikation, 211 StGB (Mordmerkmale der 1. und 3. Gruppe) aa) Habgier ist das rücksichtslose Streben nach Vermögensvorteilen um den Preis eines Menschenlebens. 6 Im vorliegenden Fall hatte A zwar verschiedene Beweggründe für die Tötung, vor allem aber ging es ihm um die Wiedererlangung seines Geldes. Die Anwendung des Merkmals ist gleichwohl mit Problemen verbunden. Das betrifft etwa die Frage, ob auch die bloße Vermeidung eines Vermögensverlustes ein Handeln aus Habgier begründen kann. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass A Eigentümer des Geldes war und insoweit lediglich einen rechtmäßigen Vermögensvorteil anstrebte. Auch bei diesem Merkmal ist schließlich die besondere Konstellation des Falles zu beachten. Denn das Motiv, den Geldverlust zu vermeiden, entspricht ja gerade dem Verteidigungswillen. Wer mit dem BGH einen Gleichklang mit dem Notwehrrecht fordert, wird deshalb auch an dieser Stelle das Mordmerkmal der Habgier ablehnen müssen. Gleiches ist anzunehmen, wenn der Tatbestand bereits zuvor abgelehnt wurde, weil der Tötung im Wege der negativen Typenkorrektur eine besondere Verwerflichkeit abgesprochen wurde. bb) A tötete B nicht zuletzt auch deshalb, weil er verhindern wollte, dass dieser ihn bei der Polizei wegen des tödlichen Verkehrsunfalls anzeigt. Eine restriktive Auslegung der Mordmerkmale gebietet jedoch, ein Handeln in zur Verdeckung einer Straftat nur dann anzunehmen, wenn dieses Motiv bewusstseinsdominant gewesen ist. Unter den verschiedenen genannten Beweggründen stand das Verdeckungsmotiv des A jedoch nicht im Vordergrund. 6 Rengier (Fn. 2), 4 Rn. 13.
Schweigegeld-Fall Seite 6 cc) Auch wird diskutiert, ob das bei A vorhandene Motiv der Rache für die Annahme eines sonstigen niedrigen Beweggrundes herangezogen werden kann. Der Wunsch nach Rache war für A jedoch lediglich ein Begleitmotiv und damit für die Annahme eines niedrigen Beweggrundes, der ebenfalls bewusstseinsdominant gewesen sein muss, nicht ausreichend. II. Rechtswidrigkeit: Notwehr gem. 32 StGB 1. Notwehrlage: gegenwärtiger rechtswidriger Angriff (+) 2. Notwehrhandlung: erforderliche und gebotene Verteidigung? a) Schwerpunkt: Erforderlichkeit Eine Verteidigungshandlung ist erforderlich, wenn sie zur Abwehr des Angriffs geeignet ist und unter gleichermaßen wirksamen Verteidigungsmöglichkeiten die schonendste ist. Die Eignung des Mittels hat sich eigentlich im späteren Verlauf erwiesen, der richtige Prüfungsmaßstab ist jedoch eine Ex-ante-Betrachtung. Daher scheint es vertretbar, angesichts der bloßen Hoffnung des A, er werde das Geld von C wiedererlangen, wenn er B die Kehle durchschneide, das Mittel als ungeeignet anzusehen. Ferner ist zu überlegen, ob nicht die bloße Drohung mit dem Messer bereits ausreichend gewesen wäre, um das Geld von C wieder zu erlangen. Zwar waren die Angreifer in der Mehrzahl und dem Opfer kann es in der Regel nicht zugemutet werden, sich auf einen Kampf mit ungewissem Ausgang einzulassen. Gleichwohl bestehen an der Erforderlichkeit der tödlichen Schnitte erhebliche Zweifel. Da die Angreifer nicht bewaffnet waren, ist nicht davon auszugehen, dass A seine Verteidigungsposition durch eine vorausgehende Drohung erheblich geschwächt hätte. Auch hätte A vor einer sofortigen, gezielten Tötung zunächst versuchen müssen, B handlungsunfähig zu machen. Diese Gründe sprechen dafür, die Tötung des B im Ergebnis als nicht mehr erforderliche Verteidigungshandlung anzusehen (der Gegenstandpunkt ist jedoch ebenfalls vertretbar). b) Bei der Prüfung der Notwehr wird immer wieder der Fehler gemacht, eine Güterabwägung vorzunehmen. Eine solche findet bei der Notwehr jedoch grundsätzlich nicht statt. Nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen ist aus sozialethischen Gründen eine
Schweigegeld-Fall Seite 7 Einschränkung des Notwehrrechts vorzunehmen. Ihre gesetzliche Grundlage findet diese Einschränkung darin, dass die Notwehr auch geboten 7 sein muss. Zu denken wäre etwa an ein krasses Missverhältnis zwischen Eingriffs- und Rechtfertigungsgut. Allerdings überschreitet das Schweigegeld mit einem Wert von 5.000 Euro die Bagatellgrenze deutlich. Diskutiert werden kann auch das Vorverhalten des A, also zunächst die leichtsinnige Gewährung des Einlasses, obwohl A bereits von dem Vorhaben des B wusste. Ferner kann angeführt werden, dass A ursprünglich durch sein strafbares Vorverhalten erst den Anlass zu der Erpressung gegeben hat. Im Ergebnis wird man die Verteidigung des A damit aber nicht als Überschreitung der sozialethischen Notwehrgrenzen werten können. 3. ggf. Verteidigungswille (+) III. ggf. Schuld (+) Literatur Fall des Monats, Mai 2003, Raubkopien-Fall, abrufbar unter http://www.fall-des-monats.de/ Zaczyk, JuS 2004, 750 ff. 7 Ausführlich für einen vergleichbaren Fall S. Dreher, JA 2005, 789, 791 f.