3.1 Grundlagen psychologischer Diagnostik 3.1.3 Interview Gabriele Helga Franke Prof. Dr. habil. Hochschule Magdeburg-Stendal Rehabilitationspsychologie B. Sc. Oktober 2010 3.1.3.1 Begriffsbestimmungen 3.1.3.2 Der Prozeß der Befragung 3.1.3.3 Strukturiertheitsgrad des Interviews 3.1.3.4 Gütekriterien des Interviews 3.1.3.5 Arten von Interviews 3.1.3.6 Bewertung der Datenerhebungsmethode Interview 1
3.1.3. Interview Einleitung Strukturierte klinische Interviews und Beurteilungsverfahren (rating-skalen) sind Methoden der Fremdbeurteilung Für den Bereich der Psychotherapie gilt Die Forderungen nach Systematisierung, Evaluation und Qualitätssicherung der Psychotherapie führen zur Weiterentwicklung diagnostischer Methoden Die Wirkung von Psychotherapie ist nachgewiesen Jetzt stellen sich Fragen nach differenzieller Psychotherapieindikation Somit sind eine differenzierte Diagnostik der Ausgangslage des Patienten, die Verlaufsbeobachtung und die Erfolgskontrolle besonders bedeutsam 2
3.1.3. Interview Einleitung Für den Bereich der Rehabilitationspsychologie gilt analog Rehabilitation zielt auf die Beseitigung oder Verringerung der Folgen einer chronischen Erkrankung, Behinderung oder eines spez. akuten Ereignisses (z.b. Unfall) Es stellen sich auch hier Fragen nach differenzieller Indikation rehabilitationspsychologischer Interventionen (unterhalb psychologischer Psychotherapie) Somit sind eine differenzierte Diagnostik der Ausgangslage des Patienten, die Verlaufsbeobachtung und die Erfolgskontrolle besonders bedeutsam Die 10 Aufgabenbereiche der Psychodiagnostik in der Psychotherapie (Hautzinger, 2001) lassen sich direkt auf die Rehabilitationspsychologie übertragen: 3
3.1.3. Interview Einleitung 10 Aufgabenbereiche der Psychodiagnostik (1-5) 1. Bestimmung und Deskription der Ausgangslage des Patienten 2. Konzeption therapeutischer Problemstellungen (Fallkonzeption) 3. Selektion und Beschreibung therapeutischer Problemund Zielbereiche 4. Klassifikation der Symptomatik des Patienten 5. Erklärung von Ätiologie und Genese der Symptomatik des Patienten (ätiologische und funktionale Analyse) 4
3.1.3. Interview Einleitung 10 Aufgabenbereiche der Psychodiagnostik (6-10) 6. Selektion angemessener Interventionsstrategien und Zuordnung zu spezifischen therapeutischen Vorgehensweisen (differentielle und selektive Indikation) 7. Abschätzung der Entwicklung und Therapierbarkeit der Symptomatik sowie des Entwicklungsverlaufs der Therapie (Prognose) 8. Qualitäts- und Prozesskontrolle sowie Therapie- und Prozesssteuerung (adaptive Indikation) 9. Berurteilung des Erfolgs und der Effektivität der Therapie (Evaluation) 10. Dokumentation des Behandlungsverlaufs 5
3.1.3. Interview Einleitung Psychodiagnostik ist darüber hinaus eine Basis für Supervision Eigenständige Therapieerfolge, wenn der Patient durch die Mitarbeit an der psychologisch-diagnostische Arbeit Einsicht in Problemzusammenhänge gewinnt und dadurch Selbstreflexion und Selbstmanagement gefördert werden Indikation, Verlauf und Evaluation sind die drei Bereiche, in denen Psychodiagnostik stattfinden muss 6
3.1.3.1 Begriffsbestimmung Interview = mündliche Befragung eines Einzelnen durch einen einzelnen Gesprächsführer Ziel: Gewinnung diagnostisch relevanter Informationen, Schaffung eines vertrauensvollen Verhältnisses Zweck: z.b. Personalauslese, Abklärung von Problemen Interview vergleichsweise unstrukturiertes Verfahren Exploration = Ermittlung der Symptome, persönlicher Daten, Persönlichkeitsmerkmale Anamnese = Erhebung der Vorgeschichte eines Problems durch den Eigenbericht des Klienten oder derjenigen Personen, die dessen Vorstellung beim Psychologen/ Arzt veranlasst haben (Hauptanwendungsfeld des Interviews; v.a. klinischer Bereich) 7 GHF B.Sc. 4.1.3 3.1.3 Interview
3.1.3.2 Der Prozess der Befragung Im Interview bestehen größere Freiheiten in der Planung Ziel jeder Art der Datenbeschaffung: Aufstellung und Prüfung verschiedener Hypothesen: Hypothese: Definition des Zustandes, auf den hin gearbeitet werden soll (entsprechend den Wünschen der Klienten) Daher sollte die Datenbeschaffung mit Exploration beginnen. 8
3.1.3.2 Der Prozess der Befragung Im Rahmen der Exploration werden Informationen über äußere Umstände sowie Verhaltensdaten (Körperhaltung, Gestik, Mimik, Sprache ) übermittelt. Kognitionen vers. Art (Mitteilungen, Beurteilungen, Bewertungen) in Bezug auf die eigene Person Sowie Kognitionen über andere beteiligte Personen und Emotionen und Verhaltensweisen in Bezug auf die eigene Person Diese Daten liefern hypothetisch Aufschluss über den evtl. problematischen Ausgangszustand Motivation Soziale Variablen 9
3.1.3.2 Der Prozess der Befragung Der Prozess der Interaktion: Sicht des Probanden Proband baut ein Konzept der Situation auf (verhaltenssteuernde Systeme werden im tägl. Leben entwickelt) Beispiel: Tendenz des Probanden, bei Gesprächen mit unbekannten Personen misstrauisch und verschlossen zu sein Einfluss auf das Verhalten in der Exploration Proband wird sich wahrscheinlich verschlossen und misstrauisch zeigen Proband könnte ebenfalls eine Hypothese bilden im Sinne von: Was will der Untersucher mit seiner Frage bezwecken? Je nachdem welche Schlussfolgerung der Proband zieht, kann er sein Verhalten entsprechend steuern (z.b. Einfluss des Gewissens ) 10
3.1.3.2 Der Prozess der Befragung Der Prozess der Interaktion: Anforderungen an den Interviewer Informationen verarbeiten (in Hinblick auf Hypothesen), eigenes Wissen abrufen und Informationen speichern Inhalte der nächsten Fragen festlegen sofortige Umsetzung neuer Zielsetzungen (geeignete Frageformulierungen finden, offene Verhaltensweisen) ständige Kontrolle seines eigenen, offenen Verhaltens SEHR hohe Anforderungen verschiedene Möglichkeiten des Versagens 11
3.1.3.2 Der Prozess der Befragung Der Prozess der Interaktion: Mögliche Fehlerquellen auf Seiten des Interviewers Schwierigkeiten bei der Informationsverarbeitung (benötigtes Wissen wird zu langsam abgerufen) ungeschickte Verhaltensweisen (Pausen unterbrechen ) mangelhafte taktische Planung (keine neuen Fragen parat, Wiederholungen, lange Pausen ) Mangel an Mitteln für die taktische Planung (mangelndes Einfühlungsvermögen ) Konzentration auf die Auswertung der Daten keine freie Kapazität mehr für die Kontrolle des eigenen Ausdrucksverhaltens 12
3.1.3.2 Der Prozess der Befragung Der Prozess der Interaktion: Mögliche Fehlerquellen auf Seiten des Interviewers unklare, mehrdeutige Begriffe beim Stellen von Fragen lange, kompliziert gestellte Fragen Suggestivfragen Warum-Fragen Alternativ- bzw. Ja/ Nein-Fragen kein Spiegeln (also keine Kontrolle ob man das Gesagte des Probanden wirklich richtig verstanden hat) Einbringen pers. Stellungnahmen, Kommentare, Wertungen, Kommunikation von Affekten Untersucher verlässt hier seine prof. Rolle 13
3.1.3.3 Strukturiertheitsgrad des Interviews Formal ist das unstrukturierte Interview eine hypothesengeleitete organisierte Datenerhebung: Planung erster Fragen entsprechend der Hypothesen Auswertung der Antworten Formulierung weiterer Fragen Nachteil: geringe psychometrische Qualität (Objektivität, Reliabilität, Validität sind eher gering) Der Grad der Strukturiertheit kann sich auf die Thematik oder auf die Abfolge der Fragen beziehen: Vollstrukturierte Interviews: Wortlaut und Abfolge der Fragen exakt festgelegt (Haben Sie Schlafstörungen? Was tun Sie dann?) Halbstrukturierte Interviews: Stichwortartige Vorgaben zu einzelnen Themen sind gegeben (Schlafstörungen?) Unstrukturierte Interviews: höchstens einzelne übergeordnete Themen sind vorgegeben (Beschwerden) 14
3.1.3.3 Strukturiertheitsgrad des Interviews Antwortmodus sollte offen sein, also hinsichtlich Art und Inhalt der Antwortformulierung nicht eingeschränkt; geschlossene Formen sind möglich (kurze Bemerkungen) In dem Maße, wie zur Auswertung bestimmte Kategorien, Checklisten oder Ratingskalen vorgegeben werden, wird das Interview strukturierter Den stärksten Grad der Strukturierung auf allen Ebenen hat die Befragung beim Computer-Interview (Einsatz bei der psychiatrischen Diagnosestellung im klinischen Bereich) 15
3.1.3.3 Strukturiertheitsgrad des Interviews Auch bei unstrukturierten, hypothesengeleiteten Befragungen ist eine gewisse Strukturierung möglich: Gliederung des Gesprächs in Phasen (Vorbereitung, Einleitung, themenbezogene Fragen, Abschluss) Übergang von allgemeinen zu speziellen Inhalten Übergang von eher neutralen zu persönlicheren Inhalten 16
3.1.3.4 Gütekriterien des Interviews Mit zunehmender Strukturierung des Interviews steigt der Grad der Objektivität bei der Durchführung und Auswertung der Befragung. Beurteilerübereinstimmung (Auswertungsobjektivität) selbst bei stark strukturierten Interviews, spezifischen Fragen und gut trainierten Beurteilern nicht befriedigend Der Versuch die Reliabilität als Stabilität zu bestimmen (Test- Retest) erscheint schwierig, da die Probanden kaum motiviert sind, sich der gleichen Exploration nochmals zu unterziehen und kein konsistentes Verhalten zeigen könnten. 17
3.1.3.4 Gütekriterien des Interviews Validitätsprüfung: Explorationsinterne Überprüfung: Sind die Aussagen des Probanden während des Gesprächs widerspruchsfrei und plausibel? Explorationsexterne Überprüfung: Heranziehen weiterer Daten zum angesprochenen Sachverhalt (z.b. Fremdbeurteilungen, Schulnoten ) Konkurrente Validität: Korrelation der Interviewdaten mit aktuellen Leistungsdaten oder den Scores aus relevanten Testverfahren Angesichts der vergleichsweise niedrigen Auswertungsobjektivität selbst bei strukturierten Interviews kann man generell keine sonderlich guten Validitätswerte erwarten 18
3.1.3.5 Arten von Interviews Unterscheidung zw. klinischen Interviews & Interviews im Rahmen organisatorischer Aufgabenstellungen (z.b. Einstellungsinterview) Einsatzmöglichkeit des klinischen Interviews: Anamnese, prozessbegleitender Einsatz zur Prüfung des Ablaufs der praktischen Phase, Endinterview zur diagnostischen Prüfung der Modifikation Einsatz der Interviews in Organisationen: Ziel = Auswahl und Platzierung von Bewerbern, Beurteilung von Mitarbeitern, Arbeitsanalyse, Mitarbeiterbefragung zur strategischen Planung und Durchführung von Projekten 19
3.1.3.5 Arten von Interviews Strukturierte Interviews: Vorformulierte Fragen, Antworten sind meist frei; Auswertungen können, müssen aber nicht bestimmten Vorgaben folgen Interviewleitfäden mit präkodierten Items: Stellen der Fragen nach stichpunktartigen oder völlig strukturierten Vorgaben, Antworten können frei, halb- oder vollstrukturiert erfolgen, Bewertung der Antworten nach vorgegebenen Ratingskalen oder Antwortkategorien; Einsatz v.a. bei klinischen, psychiatrischen Interviews 20
3.5 Arten von Interviews Unstrukturierte Interviews mit Ratings: Befragung verläuft unstrukturiert, Auswertung erfolgt oft auf sehr detaillierten Ratingskalen. Frageschemata (teilstrukturierte Form des Interviews): Gedächtnisstützen zu einzelnen Inhalten bzw. Themenbereichen, Abfolge der Themen meist freigestellt 21
3.1.3.5 Arten von Interviews Beispiele für Interviews und Checklisten: Diagnostisches Interview für psychische Störungen (DIPS; Schneider & Margraf, 2009, ISBN 3540413626) Strukturierte Klinische Interview für DSM-IV (SKID; Wittchen, Zaudig & Fydrich, 1997, http://www.testzentrale.de/?mod=detail&id=373 ) Internationale Diagnosen Checklisten (IDCL; Hiller, Zaudig, & Mombour, 1995, http://www.testzentrale.de/?mod=detail&id=366 ) Strukturiertes Inventar für Anorektische & Bulimische Essstörungen (SIAB; Fichter & Quadflieg, 1999, http://www.testzentrale.de/?mod=detail&id=746 ) Gute Übersicht: Strauß und Schumacher (ISBN 3801718603) 22 GHF B.Sc. 4.1.3 3.1.3 Interview
3.1.3.6 Bewertung der Datenerhebungsmethoden Interview Unstrukturierte Befragung: weist eine völlig unzureichende psychometrische Qualität auf Abhängigkeit des Erfolges einer Exploration von der Formulierung expliziter Hypothesen: vage Hypothesen mangelnde taktische Planung des Gesprächs Stellen überflüssiger Fragen, Vergessen wichtiger Fragen Unstrukturierte Interviews sind nur dann ein brauchbares Instrument der Datengewinnung, wenn sie hypothesengeleitet durchgeführt werden Prüfen der H & Planung testbasierter Datenerhebung Einfluss validitätsmindernder Faktoren bei der Durchführung und Auswertung: Vorinformationen zur Schichtzugehörigkeit, klinischen Diagnosen, Halo-Effekt, Sympathieeffekt 23
3.1.3.6 Bewertung der Datenerhebungsmethoden Interview Stärker strukturierte Interviews: Charakter einer eigenständigen Erhebung, können zu praktischen Entscheidungen führen, dennoch: weitgehend unzulängliche psychometrische Qualität Mit stärkerer Strukturierung des Interviews steigt dessen psychometrische Qualität Eine hochstrukturierte Befragung hat eigentlich nicht mehr viel mit der Idee eines Interviews als flexible Form der Datenerhebung zu tun. Tatsächlich gleichen strukturierte Interviews eher normalen Testverfahren (v.a. Fragebogen) zur Beschaffung von subjektiven Daten als traditionellen Interviews! 24
3.1.3.6 Bewertung der Datenerhebungsmethoden Interview Eine gewisse Wiederannäherung der stärker strukturierten Verfahren an die Zielsetzung der unstrukturierten Befragung könnte sich durch die vermehrte Verwendung computergestützter Explorationsverfahren ergeben: Antwortabhängiges Testen Strategien des adaptiven und sequentiellen Testens (individuelle Orientierung am Fall) 25