Wolff, Michael: Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel: mit einem Essay über Freges Begriffsschrift, Frankfurt/M. 1995

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Transkript:

1 Zusammenfassung zu Wolff (1995) Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel [Skript: Dr. P. Natterer] Zusammenfassung zu: Wolff, Michael: Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel: mit einem Essay über Freges Begriffsschrift, Frankfurt/M. 1995 Paul Natterer Zur kantischen Urteilstafel ist Wolff (1995) der umfassendste und bedeutendste aktuelle Forschungsbeitrag. Die Arbeit umfasst drei Kapitel (1. Kapitel: Diskussion und Differenzierung von logischen Funktionen Urteilsformen Kategorien; 2. Kapitel: Der Vollständigkeitsbeweis in der Kritik der reinen Vernunft ; 3. Kapitel: Kants Begriff der Formalen Logik) und einen Anhang zur Kritik der kantischen Urteilstafel durch G. Frege. Wir fassen Wolff (1995) in 20 Thesen zusammen und erörtern auf dieser Grundlage, die wir abgesehen von drei randständigen Thesen als zutreffend ansehen, die in Rede stehenden Sachverhalte (Ziffern in Klammern beziehen sich auf die Seitenzahlen ebendort). Zwecks leichterer Orientierung stellen wir dem Überblick die kantische Urteilstafel voran. Die Gliederung Kants zeigt bereits, dass sie sich auf der obersten Ebene nicht auf Urteilsformen bezieht, sondern auf vier logische Elementarformen oder Funktionen des Denkens (KrV B 95), denen je drei elementare Urteilsformen zugeordnet werden. Tafel der Funktionen des Denkens Urteilstafel (KrV B 95) 1. Quantität der Urteile Allgemeine Besondere Einzelne 2. 3. Qualität Relation Bejahende Kategorische Verneinende Hypothetische Unendliche 4. Modalität Problematische Assertorische Apodiktische Disjunktive Hier nun die Interpretation Wolffs: (1) Vier logischen Funktionen des Verstandes in Urteilen (B 95) werden je drei elementare Urteilsformen zugordnet. Diese logischen Funktionen sind nicht identisch mit logischen Urteilsformen und transzendentalen Kategorien, sondern Erstere sind den letzten

2 Zusammenfassung zu Wolff (1995) Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel [Skript: Dr. P. Natterer] beiden vor- und übergeordnet (28 32). Die logische Form eines Urteils ist ein Komplex aus logischen Formen... als Momente einer Formeneinheit (12, 15), d.h. die Urteilsform ist eine komplexe Funktion..., die mehrere Elementarfunktionen als Momente enthält (28). (2) Die Verstandeserkenntnis ist als sprachlich vermittelt auch 'symbolische Erkenntnis' (cognitio symbolica) (AA, II, 396) (65). Es besteht ein Parallelismus zwischen Verstandesfunktionen in Urteilen und logischen Formen der Urteile als Sprechhandlungen (21 25, 65, 115). (3) Anschauung ist objektive Perzeption oder Erkenntnis (cognitio) existierender Individuen. Der Begriffsbaum der Vorstellung in B 376 77 nennt Anschauung (intuitus) eine objektive Perzeption oder Erkenntnis (cognitio). Und zwar eine einzeln[e] und unmittelbar auf den Gegenstand bezogene cognitio (61). Vgl. KrV B 33: Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntniß auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselbe unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung. Diese findet aber nur statt, so fern uns der Gegenstand gegeben wird (59). (4) Denken ist objektive Perzeption (cognitio) gemeinsamer Merkmale (Begriffe). Vgl. KrV B 40: Man muss einen jeden Begriff als eine Vorstellung denken, die in einer unendlichen Menge von verschiedenen möglichen Vorstellungen (als ihr gemeinschaftliches Merkmal) enthalten ist, mithin diese unter sich enthält... (61) (5) Denken gleich diskursive Erkenntnis gleich Erkenntnis durch Begriffe: 'Diskursive Erkenntnis' ist einfach ein anderer Ausdruck für 'Denken' oder 'Erkenntnis durch Begriffe' (63). Objektbereich der Urteilstafel: Die logischen Funktionen der Urteilstafel beziehen sich als diskursive Verstandesformen nur auf generelle Sätze, d.h. auf logische bzw. Verstandesurteile i.e.s.: die a e i o-urteile der kategorischen Syllogistik. Auszuschließen sind daher (a) singuläre Urteile (mit nichtallgemeinbegrifflichen Eigennamen, Kennzeichnungen, indexikalischen Ausdrücken) und (b) Relationsurteile (mit nichtallgemeinbegrifflichen lokalisierenden Kennzeichnungen) (84 86, vgl. Wolff / Nortmann / Beckermann: Diskussion: Kants Urteilstafel und die Vollständigkeitsfrage. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 52 (1998), 406-459). (6) Begriffe beruhen auf Funktionen (KrV B 93) Funktionen bringen die Anschauungen oder deren Teilvorstellungen in eine hierarchische Ordnung. Diese Funktionen der Einheit des Bewusstseins beziehen sich einmal auf die Einheit des empirischen Allgemeinbegriffs: Einem Allgemeinbegriff werden im analytischen Begriffsbildungsverfahren viele Anschauungen oder Begriffe hierarchisch untergeordnet (47, 66 67): Diese Verwandlung gegebener Vorstellungen in Begriffe betrifft nur die Form der Allgemeinheit. Denn es können keine Begriffe dem Inhalte nach analytisch entspringen (B 103). KrV B 33: Alles Denken [...] muß sich, es sei geradezu (directe), oder im Umschweife (indirecte), vermittelst gewisser Merkmale zuletzt auf Anschauungen, mithin bei uns auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann. Diese Form ist aber eine logische Funktion und deswegen eine Leistung der formalen Logik. Diese Funktionen der Einheit des Bewusstseins beziehen sich zum andern auf die Einheit des reinen Allgemein- begriffs: Einem reinen Verstandesbegriff wird im synthetischen Begriffsbildungsverfahren (synthetische Einheit der Apperzeption) ein Mannigfaltiges aus analytischbegrifflich identifizierten Empfindungen und reinen Anschauungen hierarchisch untergeordnet (68). Dabei gilt, dass die Arten und die Anzahl reiner Verstandesbegriffe darauf beruhen, daß es verschiedene, den Funktionen des Verstandes entsprechende Arten von (spontanen) Verstandeshandlungen gibt, nämlich verschiedene Arten, Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen

3 Zusammenfassung zu Wolff (1995) Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel [Skript: Dr. P. Natterer] Vorstellung zu ordnen. (72) Letzteres ist genau die Begriffsbestimmung des Denkens als Gebrauch von Begriffen in hierarchischer Ordnung, d.h. als Urteilen, gründend auf Funktionen. (7) Denken ist letztlich stets und nur Gebrauch von Begriffen im Urteil (iudicium). Wolff folgert daraus seitens Kant die Beseitigung der simplex apprehensio (nichtpropositionaler Gebrauch von Begriffen). Dies ist in dieser allgemeinen Form nicht richtig. Vgl. Natterer: Systematischer Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft, Berlin / New York 2003, Kap. 13.2 zum Vorhandensein der simplex apprehensio in der kantischen Theorie. Vgl. auch (10) und (13) in Folge. Die traditionelle Unterscheidung dreier Verstandeshandlungen: Begriff Urteil Schluss wird bei Kant zur Binnenunterscheidung dreier Gesichtspunkte einer einzigen Verstandeshandlung des Urteils. Prolegomena 39: Die Verstandeshandlung, die alles übrige enthält fand ich bestehe im Urtheilen (131). Dazu macht M. Wolff den interessanten Verweis auf die Lateinische Logik C. Wolffs, 55: Kants Gedanke, daß der Gebrauch von Begriffen immer schon die zweite und dritte Verstandeshandlung involviert, ist in Christian Wolffs Logik vorgeprägt. (101, Anm. 108) Kant versteht unter den Verstandeshandlungen als logischen Funktionen des Denkens aber nicht schlicht diese traditionellen Verstandesoperationen: Begriff Urteil Schluss (so Brandt: Die Urteilstafel: Kritik der reinen Vernunft A 67 76; B 92 201, Hamburg 1991, 54, 71, 104 105, 110), sondern die vier Funktionen unter (10). (8) Urteile verwenden nur Begriffe, nie Anschauungen zur Bestimmung eines Gegenstandes. In keinem Urteil wird 'zur Erkenntnis eines Gegenstandes' eine Anschauung gebraucht, sondern statt einer unmittelbaren Vorstellung' (= Anschauung) 'eine höhere [Vorstellung], die diese und mehrere unter sich begreift' (= Begriff). (= These (27) (82). (9) Begriffe in Urteilen haben notwendig Bedeutung als Gegenstandsbezug im weiten Sinn. Wie die Diskussion von Wolff / Nortmann / Beckermann: Kants Urteilstafel und die Vollständigkeitsfrage. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 52 (1998), 406-459, va. 442-443, 446, 455-456) zeigt, meint Wolff präziser: Das logische Urteil ist vom realen Urteil zu unterscheiden. Nur das Erstere ist in Sachen logischer Funktionen der Bezugsrahmen; das logische Urteil ist aber nicht objektiv-real, sondern bietet maximal die Form realer Urteile. Auch in Kapitel 3. seiner Untersuchung bringt Wolff selbst den in Rede stehenden Sachverhalt auf den Punkt, indem er die radikale methodische Beschränkung der Allgemeinen Logik auf abstrakte Verstandesformen und Begriffsgehalte (Intensionen) herausarbeitet. Er geht dabei von der Unterscheidung aus zwischen (a) Erkenntnis i.e.s. (Gegenstandsbezug, reale Referenz) und (b) Erkenntnis i.w.s. (Gedankendinge, vgl. B XXVI; Bedingung hierfür ist Widerspruchsfreiheit). Letztere ist Objekt der Allgemeinen Logik (206f). Nun gilt: Die formale Logik abstrahiert nicht nur 'von allen Objecten der Erkenntniß und ihrem Unterschiede' [B IX] sowie von der 'Verschiedenheit' der 'Gegenstände', auf die sich die 'Verstandeserkenntniß' bezieht [B 78]. Sie abstrahiert vielmehr auch 'von allem Inhalte der Erkenntniß (ob sie rein oder empirisch sei) [B 170], und zwar in dem Sinne, daß sie dabei von 'aller Beziehung derselben auf das Object [B 79]... absieht. Dies bringt die formale Logik genaugenommen in die Lage, auch davon absehen zu müssen, daß die Erkenntnisse wahr sind oder falsch [...] da Wahrheit 'in der Übereinstimmung einer Erkenntniß mit ihrem Gegenstande besteht' [B 83]. (226) Wolff diskutiert in anderem Zusammenhang andererseits den komplementären Sachverhalt der nur methodischen Ausklammerung des mindestens hypothetisch notwendigen Gegenstandsbezugs (291). Daher, so Wolff: Diese Aufffassung von formaler Logik läßt sich gut in dem Sinne verstehen, daß die Geltung der allgemeinen Regeln, die sie lehrt, ganz unabhängig davon gelten, ob die Gegenstände existieren, von denen die Sätze handeln, auf die sich die Regeln beziehen. (292) (10) Vier Verstandeshandlungen sind die erschöpfenden logischen Grundfunktionen der Einheit in Urteilen (105 106, 115, 118). Denken oder Verstand überhaupt als Gebrauch von Begriffen in Urteilen (Funktion I) ist prädikativ: Prädikatbegriff (Funktion II), und nichtprädikativ: Subjektsbegriff (81), wobei der Subjektsbegriff wiederum unmittelbar

4 Zusammenfassung zu Wolff (1995) Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel [Skript: Dr. P. Natterer] (Funktion III) oder mittelbar (Funktion IV) gegenstandsbezogen verwendet werden kann. Wolff: Das unmittelbare Beziehen dieser Begriffe auf Gegenstände besteht darin, den nichtprädikativ gebrauchten Begriff als Stellvertreter für Anschauungen zu verwenden. Das mittelbare Beziehen besteht dagegen darin, dem nicht-prädikativ gebrauchten Begriff eine Vorstellung unterzuordnen, und zwar so, daß sich der nicht-prädikativ gebrauchte Begriff in Rahmen eines implizit mitgedachten Urteils als dessen Prädikat auf dessen Vorstellung bezieht. (106) (11) Den Verstandeshandlungen (I) bis (IV) sind nun gegebene Klassen von Urteilsformen in Sprechhandlungen (Quantität, Qualität, Relation, Modalität), sowie weitere Unterklassen (die drei Urteilsmomente pro Klasse), systematisch zuzuordnen. (12) Kant verlangt bei dieser systematischen Zuordnung der Urteilsformen von jedem Inhalt abzusehen. Der Inhalt des Urteils (B 100) sind Begriffe (bei Quantität und Qualität), oder selbst schon Urteile (bei Relation und Modalität) als propositionaler Inhalt = der nominalisierte Satz daß p (einschließlich der nichtmodalen Urteilsformen) (126). (13) Der Definition des Verstandes als Verstand überhaupt, d.h. im weiten Sinn als Vermögen zu urteilen, oder als Funktion (I), entspricht die Urteilsform der Modalität. Die Unterklasse der problematischen Urteile entspricht dabei dem Verstand im engeren Sinn als dem Vermögen der Begriffe so daß eine 'bloß willkürliche Aufnehmung' (apprehensio) eines 'Satz[es]' 'in den Verstand' zustande kommt (A 75/B101). So wird, trotz der Ausführung einer Urteilshandlung, die Urteilskraft gleichsam suspendiert von ihrer eigentümlichen Subsumptionsaufgabe, zu unterscheiden, ob Gegenstände unter den Prädikatbegriff des Urteils zu subsumieren sind oder nicht; ob... dem propositionalen Inhalt des Urteils Gegenstände entsprechen oder nicht. (149) Assertorisches Urteilen ist Leistung der Urteilskraft (149). Apodiktisches Urteilen ist schließlich die formale apodiktische Konsequenz in der Schlusslogik. (14) Die prädikative Funktion (II) entspricht der Urteilsform der Quantität. Sie betrifft die a priori möglichen Verhältnisse der Begriffs-Inhalte von Subjekt und Prädikat: (a) Teilmenge, (b) Durchschnittsmenge, (c) Einerdurchschnittsmenge (143 148). Die mengentheoretische Terminologie hier und in (15) stammt von mir [P.N.]; desgleichen die kognitionswissenschaftliche Terminologie in (16). (15) Die unmittelbare nichtprädikative Funktion (III) entspricht der Urteilsform der Qualität. Sie betrifft die a priori möglichen Verhältnisse der Begriffs-Umfänge von Subjekt und Prädikat: (a) Teilmenge, (b) leere Durchschnittsmenge, (c) Restmenge. Durch die Bejahung und Verneinung wird nach herkömmlichen Verständnis der Prädikatbegriff eines Urteils Gegenständen 'beigelegt' bzw. abgesprochen (diesen 'entgegengesetzt') und so das Urteil (vermittelt durch den Subjektausdruck) unmittelbar auf Gegenstände bezogen. Dies ist die epistemische Einheit des Urteils (84), d.h. viele Anschauungen auf einen Begriff... bringen und... zusammenziehen (96, 143 148). Wolff: Und so scheint denn auch Kant anzunehmen: (a) In Verstandesurteilen sagt die Bejahung aus, daß der Prädikatbegriff mit einer Vorstellung der Gegenstände, die der Subjektbegriff ausdrückt, übereinstimmt. (b) Die Verneinung sagt aus, daß er einer solchen Vorstellung widerstreitet. (145) (16) Die mittelbare nichtprädikative Funktion (IV) entspricht der Urteilsform der Relation. Sie betrifft die a priori möglichen Beziehungen nichtprädikativ gebrauchter Begriffe in der strukturellen Begriffshierarchie und in prozessualen Begriffsschemata, d.h. als Prädikate anderer möglicher Urteile: (a) vertikale, aufsteigende Bottom-up-Relation: innerliches Enthaltensein in der grundlegenden Anschauung (kategorische Urteile), (b) horizontale Prozessrelation: äußerliches Verhältnis, (c) vertikale, absteigende Top-down-Relation: äußerliches Verhältnis und innerliches Enthaltensein (143 148). Äußerlich meint: Hypothetische Urteile sind wahr unabhängig von den Wahrheitswerten der Einzelaussagen (147). Disjunktive Urteile sind eine Kombination von innerlicher und äußerlicher Relation: Von hypothetischen Urteilen unterscheiden sich disjunktive Urteile aber insofern, als sie nicht unausgemacht lassen, ob einer ihrer Teilsätze gelten soll. (B 99) (147)

5 Zusammenfassung zu Wolff (1995) Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel [Skript: Dr. P. Natterer] (17) Der höchste[n] Punkt der synthetischen Einheit der Apperzeption, an den man nach Kant allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik und nach ihr die Transzendentalphilosophie heften muss (B 134) ist der Verstand als Vermögen der Erkenntnis durch Begriffe. So werden die grundlegenden Thesen der Urteilstafel mit Hilfe der logischen Dekomposition des Gebrauchs von Begriffen in Urteilen gewonnen. (177). Vgl. hierzu auch Scheffer (Kants Kriterium der Wahrheit: Anschauungsformen und Kategorien a priori in der Kritik der reinen Vernunft, Berlin/New York [= KS/EH 127] 1993, 237 251). Die Anmerkung S. 194 zur Tafel der Reflexionsbegriffe ist u.e. der einzige Abschnitt, in dem die Auslegung missglückt oder mindestens missverständlich ist. Wolff behauptet hier, dass in der KrV der Vergleich von Begriffen gemäß dem Widerspruchsprinzip nicht mehr zum logischen Verstandesgebrauch gehöre, sondern zur logischen Reflexion der Reflexionsbegriffe. Kap. 13 15 meines Systematischen Kommentars zeigen die Unhaltbarkeit dieser Behauptung. Die Begründung scheint ebenfalls verwirrend: Insofern die logische Reflexion dem objectiven Urtheilen vorangehe... kann sie in der Kritik der reinen Vernunft nicht mehr zum logischen Verstandesgebrauch gezählt werden. Dieses Argument spricht aber umgekehrt für den logischen Charakter dieser Reflexion, da die Logik von allem Objektbezug abstrahiert. Kap. 20 des Systematischen Kommentars macht deutlich, dass Kant erstens diese logische Reflexion der Reflexionsbegriffe sowohl von der intentionalen formallogischen wie intentionalen transzendentallogischen Dimension unterscheidet: sie ist reflexionslogisch, d.h. sie reflektiert und leitet in beiden Fällen kritisch die intentionale Dimension. Ihre Funktion ist genau die Unterscheidung und Integrierung beider intentionaler Ebenen in der Konstitution des Objektbegriffs empirischer Gegenstände. (18) Eigenständige Leistungen Kants in der formalen Logik und transzendentalen Logik. Im Gegensatz zur kritischen Reserviertheit des Hauptstroms der Fachlogiker vgl. etwa bei Stuhlmann-Laeisz die Warnung davor, daß man Kant als einen Logiker von solchem Gewicht ansieht, der er... doch nicht gewesen ist (Kants Logik. Eine Interpretation auf der Grundlage von Vorlesungen, veröffentlichten Werken und Nachlaß, Berlin/New York 1976, 4; vgl. auch Brandt a.a.o. 1991, 89) betont Wolff: Kant-Interpreten und Logikhistoriker unterschätzen gerne das Urteilsvermögen, mit dem Kant Umfang, Gebietseinteilung, Komplexität und Entwicklungsfähigkeit der Logik als Gesamtgebeit in Betracht gezogen hat. (198) Kants Beitrag zur Logik charakterisiert Wolff so: Kant hatte gute Gründe, seine eigene Stellung in der Geschichte der Logik darin zu sehen, erstens (auf der Grundlage der Kategorientafel) eine gänzlich neuartige, 'spezielle Logik', nämlich die als Fachlogik der Metaphysik konzipierte 'transzendentale Logik' geschaffen und zweitens (mit der Herleitung der Urteilstafel) einen Beitrag zur Systematisierung und damit zum Abschluß der 'allgemeinen Logik' geleistet zu haben. (Wolff, 1995, 241) (19) Die formale Logik ist im Verständnis Kants noch abstrakter als die Algebra. Wolff bilanziert, daß die formale Logik, wie Kant sie vor Augen hat, eine extrem abstrakte und auf ein extrem kleines Gebiet eingeschränkte Disziplin ist. (226). Formale Logik betrachtet die Urteile nur in ihrer sogenannten 'Verstandesform', d.h. nur insofern sie 'Verstandeserkenntnisse' sind. Auf diese Weise ist die formale Logik fähig, so etwas wie den Schlüssel zur 'Anatomie des Verstandes' zu liefern. (229) Deswegen das kantische Lob Ch. Wolffs wegen der engen Grenzen seiner Logik: Wolffs Logik ist die beste [;] die mehresten dieser Männer [Descartes, Malebranche, Tschirnhausen, Locke, Leibniz] setzten der Logik nicht die gehörige[n] Schranken. Sie ist sozusagen die Anatomie des Verstandes. [AA, XXIV, 613] (229) Alles darüber Hinausgehende ist nach der kantischen Theorie bereits Gegenstand spezieller Logiken. So ist die transzendentale Logik die Fachlogik der Metaphysik (210), und die mathematische Logik, mit deren Anfängen Kant durch Lambert konfrontiert ist, eine Fachlogik der Mathematik. (20) Die kantischen Urteilsformen sind systematisch und historisch ursprünglich. M. Wolff vermag zu zeigen, dass Kant im Recht ist, diese apriorischen Verstandesformen bzw. Urteilsformen als bereits aristotelische, ursprüngliche, denkgeschichtlich ausgezeichnete Formen

6 Zusammenfassung zu Wolff (1995) Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel [Skript: Dr. P. Natterer] anzusehen: Zunächst läßt sich nicht gut bestreiten, daß Kants Einteilung in den meisten Punkten genau der Einteilung entspricht, die Aristoteles in De Interpretatione 5 und Analytica priora A 2, 25 a 1 5 vorgenommen hat. (231) Dies betrifft zunächst die kategorische Logik und Syllogistik. Aber auch hypothetische und disjunktive Urteilsformen sind nicht erst stoisch, sondern bereits aristotelisch: als Urteilsformen des konditionalen Zusammenhangs, der Hypothesis, bzw. der disjunktiven Trennung, der Dihairesis. Wolff belegt dies anhand der Hinweise und Interpretationen bei Galen und dem wichtigsten Aristoteleskommentator Alexander v. Aphrodisias (232 240).