Industrie 4.0 braucht Arbeitszeit 4.0! Autor: Dr. Burkhard Scherf, & Dr. Scherf Schütt Zander GmbH Industrie 4.0 heißt Flexibilität Die Schlagworte Industrie 4.0 und Internet der Dinge erfreuen sich aktuell großer Popularität. Die Bunderegierung setzt auf Industrie 4.0 als wesentlichen Bestandteil ihrer High-Tech-Strategie und sieht sich durch führende Experten in Ihrer Einschätzung unterstützt, dass durch die zunehmende Automatisierung und Flexibilisierung der Produktion sowie die Vernetzung Cyber-physischer Systeme der Produktionsstandort Deutschland langfristig gesichert werden kann. In Forschungslaboren wird mit öffentlichen Fördermitteln an den technischen Voraussetzungen für Industrie 4.0 gearbeitet, auf Konferenzen, in Technik- und Wirtschaftsmagazinen werden die Zuhörer und Leser auf die Flexibilisierung aller Produktionsverfahren, auf immer kürzere Lieferfristen, automatisierte und individualisierte Fertigung ( Losgröße eins ) eingeschworen. Ja, auch wir glauben, dass die Zukunft der Produktion in immer stärkerer Flexibilisierung und Automatisierung liegt. Auch wenn es manchmal schwer fällt, zwischen Visionen von der schönen neuen Welt und Sprechblasen einzelner Politiker ( "MegaBits, MegaHerz, MegaStark, so NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft in ihrer Pressekonferenz zum Jahresbeginn) noch die realen Themen zu erkennen, an denen es zu arbeiten gilt. Dass die Flexibilisierung der Produktion auch die Flexibilisierung der Mitarbeiter voraussetzt, bleibt in der heutigen Diskussion nahezu unberücksichtigt Für uns als Arbeitszeitberater war dabei völlig klar: Eine flexiblere Produktion stellt auch deutlich wachsende Anforderungen an die Flexibilität der Arbeitszeit der in der Produktion Beschäftigten. Etwas gewundert hat uns, dass dies in der öffentlichen Diskussion bisher überhaupt nicht auftauchte. Sollten tatsächlich alle Forscher übersehen haben, dass der auch in hoch automatisierten Produktionsanlagen unverzichtbare Mitarbeiter, über dessen zunehmend geforderte Qualifizierung durchaus zu lesen ist, genauso flexibel auf individuelle Kundenanforderungen und gewünschte Lieferzeiten reagieren muss wie die von ihm bedienten und überwachten Produktionsanlagen? Sollte diese Flexibilität tatsächlich stillschweigend als selbstverständlich vorausgesetzt werden, wo doch Produktionsunternehmen heute schon häufig daran scheitern, eine über das ganze Jahr weitgehend fixe Schichtbesetzung auch unter den Randbedingungen von Urlaub und Krankheit sicherstellen zu können? Ganz zu schweigen von den heute festzustellenden Defiziten bei der ggf. auch kurzfristigen Reaktion auf stark schwankende Besetzungsanforderungen in einer auftragsorientierten Produktion. Fraunhofer-Studie zeigt deutlich auf, dass Industrie 4.0 flexible Mitarbeiter benötigt Da ist es doch beruhigend zu sehen, dass wir offenbar doch nicht die einzigen sind, die diese Herausforderung wahrnehmen. In der Fraunhofer-Studie Produktionsarbeit der Zukunft Industrie 4.0 1, einem der häufig zitierten Grundlagen-Papiere in diesem Zusammenhang, sind 1 Dieter Spath (Hrsg.), Oliver Ganschar, Stefan Gerlach, Moritz Hämmerle, Tobias Krause, Sebastian Schlund: Produktionsarbeit der Zukunft Industrie 4.0, Fraunhofer-Verlag, Stuttgart, 2013
auf Basis einer Befragung von 661 produzierenden Unternehmen auch Aussagen zu finden, die ansonsten in desn Diskussionen zu Industrie 4.0 gerne stillschweigend übergangen werden: Insbesondere Unternehmen, die auch zukünftig einen großen Wertschöpfungsanteil in manuellen Produktions- und Montagebereichen erzielen, sind daher gezwungen, ihre Reaktionsfähigkeit auf Marktschwankungen immer stärker aus der Flexibilität ihres Mitarbeitereinsatzes heraus sicherzustellen. 94,7% der befragten Unternehmen sagen, dass bereits heute der flexible Einsatz ihrer Produktionsmitarbeiter wichtig oder sehr wichtig ist. In fünf Jahren wird dies sogar für 97,7% der Unternehmen der Fall sein. Es ist doch jedem verständlich, dass man in Hochphasen entsprechende Kapazitäten zur Verfügung stellen muss, aber dabei nicht mit starren Systemen arbeiten kann. Die Volatilität wird weiter zunehmen. Volatile Märkte und ein starres System, was die Arbeitszeit betrifft das passt nicht zusammen. Heute geht es überwiegend (für 47% der Unternehmen) um Absatzschwankungen von Woche zu Woche. In fünf Jahren wird dies bereits für 61% der Unternehmen der Fall sein. Hinzu kommt, dass für 42% der Unternehmen starke Schwankungen von Tag zu Tag und für 27% der Unternehmen sogar innerhalb des einzelnen Tages relevant werden. Eine zunehmende Flexibilität des Mitarbeiter-Einsatzes wird sowohl im Hinblick auf die Verteilung der Arbeitszeit als auch im Hinblick auf den Einsatz der Mitarbeiter in unterschiedlichen Organisationseinheiten erforderlich sein. 72,1% der befragten Unternehmen sagen, dass die bestehenden Regelungen zum flexiblen Mitarbeitereinsatz in der Produktion erweitert werden müssen, um die Schwankungen des Absatzmarktes in fünf Jahren abdecken zu können. 66,2% sagen, dass sie dazu Möglichkeiten für einen kurzfristigeren Mitarbeitereinsatz als heute benötigen werden. Industrie 4.0 braucht neue Arbeitszeitmodelle: Arbeitszeit 4.0 Das Problem ist also erkannt. Doch worin besteht die Lösung? Die Lösung lautet: Industrie 4.0 braucht Arbeitszeit 4.0. Aber was ist das? Ähnlich wie die großen Umbrüche in der Industrialisierung kann man auch in der Historie der Gestaltung von Arbeitszeit Stufen der Anpassung an die wachsenden Flexibilitäts-Anforderungen erkennen. Hier eine kurze historische Einordnung: Arbeitszeit 1.0: Feste Arbeitszeiten, starre Schichtpläne, Honorierung von Anwesenheit meist auf Stundenbasis Arbeitszeit 2.0: Erste Ansätze zur Flexibilisierung, Zeitkonten, Gleitzeit, Honorierung von Zeitverbrauch in Form einer Mehrarbeitsvergütung Arbeitszeit 3.0: Bedarfsorientierte Personaleinsatzplanung, die sich ganz überwiegend am betrieblichen Bedarf, aber kaum an den Interessen der Mitarbeiter orientiert und nur bei im Umfang begrenzten oder langfristig vorhersehbaren Bedarfsschwankungen zu akzeptierten Ergebnissen führt; oder auch: Vertrauensarbeitszeit vor dem Hintergrund begrenzter und relativ gut vorhersehbarer Bedarfsschwankungen in administrativen oder projektgetriebenen Tätigkeiten Arbeitszeit 4.0: Wirtschaftlich effizienter, bedarfsorientierter Personaleinsatz unter den Rahmenbedingungen sehr kurzfristiger und starker Bedarfsschwankungen bei gleichzeitig hoher Quote der Erfüllung individueller Arbeitszeitpräferenzen der Mitarbeiter
Arbeitszeit 4.0 ist die konsequente Ausrichtung der Arbeitszeit an betrieblichen und individuellen Bedürfnissen der Mitarbeiter Arbeitszeit 4.0 bedeutet also, die Anforderungen einer hochflexiblen Produktion mit den Anforderungen hoch qualifizierter Mitarbeiter an ihre Work-Life-Balance auf einen Nenner zu bringen. Kurzfristige Anpassungsnotwendigkeiten der Schichtzeiten und Besetzungsstärken auf der einen, individuelle Wünsche und Prioritäten für die persönliche Arbeitszeit auf der anderen Seite. Die Lösung ist nicht trivial, aber das muss uns nicht schrecken: Die Lösungen für Industrie 4.0 sind bei weitem komplizierter, dennoch werden sie (zumindest wenn man den vielfältigen Ankündigungen glauben darf) strategisch und mit Mut angegangen. Und anders als bei Industrie 4.0 liegen in unserer Wahrnehmung die einzelnen Bestandteile der Lösung für Arbeitszeit 4.0 heute bereits auf dem Tisch: Flexible Schichtsysteme, die nicht mehr auf feste, stets im gleichen Rhythmus rotierende Schichtgruppen setzen, sondern auf Kleingruppen (bis hin zur Gruppengröße eins), die Flexibilisierungselemente zur Anpassung an unterschiedliche Besetzungsbedarfe enthalten und dennoch für überschaubare Zeiträume den Mitarbeitern eine Sicherheit über ihre arbeitsfreien Tage geben können. Strukturierte und klar definierte Planungsprozesse, die den Schicht- und Einsatzplanern die Basis für eine erfolgreiche, wirtschaftlich effiziente Planung liefern und Klarheit darüber schaffen, welche Kriterien in welcher Prioritätenfolge bei der Planerstellung zu berücksichtigen sind. Arbeitszeit 4.0: Konsequente Ausrichtung der Arbeitszeit am betrieblichen und persönlichen Bedarf
Softwaresysteme zur Personaleinsatzplanung, die den Planern die benötigten Informationen zeitgerecht und in hoher Qualität zur Verfügung stellen und die auch in komplexen Situationen noch Lösungsvorschläge für gute Schicht- und Einsatzpläne anbieten können Lebensarbeitszeitmodelle, die den Mitarbeitern die Möglichkeit bieten, in unterschiedlichen Lebensphasen unterschiedliche und individuelle Definitionen ihrer persönlichen Work-Life-Balance zu finden, ohne in den damit verbundenen Auszeiten die finanzielle Absicherung zu verlieren Flexible Entlohnungssysteme, die Mitarbeitern Anreize bieten, möglichst viel Flexibilität in Bezug auf ihre möglichen Einsatzzeiten anzubieten, aber niemanden zwingen mehr Flexibilität möglich zu machen, als für ihn selbst langfristig verträglich ist. Die Kunst in der Implementierung des bedarfsgerechten Arbeitszeitmodells einer konkreten Produktion der Zukunft wird dann nur noch darin bestehen, einerseits gute Verfahren zur Berechnung der benötigten Betriebszeiten und Besetzungsstärken für die kurzfristig immer wieder neu berechneten Produktionsprogramme zu etablieren und andererseits den für das jeweilige Unternehmen geeigneten Methoden-Mix aus den oben genannten Bestandteilen zu identifizieren und zu einem Ganzen zusammenzufügen. Mit der Umsetzung von Arbeitszeit 4.0 muss jetzt angefangen werden Problem erkannt, Lösung bekannt können wir nun mit Blick auf die Arbeitszeitgestaltung die Hände in den Schoß legen und warten, bis in einigen Jahren Industrie 4.0 Realität geworden ist? Davon möchten wir dringend abraten! Wer schon einmal an der Veränderung eines Schichtplans mitgewirkt hat, weiß, dass selbst in einfachen Fällen (z.b. Umstellung von wöchentlichem Schichtwechsel auf eine kurze Vorwärtsrotation bei sonst gleich bleibenden Schichtbesetzungen und Gruppenkonstellationen) eine solche Veränderung gefühlt einer Revolution gleich kommt und erhebliche Widerstände bei Mitarbeitern, Betriebsräten und Führungskräften berücksichtigt und schließlich überwunden werden müssen. Wenn wir gleichzeitig wissen, dass die meisten Produktionsbetriebe sich schon heute schwer tun, auf die im Vergleich zur Zukunft noch moderaten Flexibilitäts-Anforderungen bei der Schichtplangestaltung angemessen und wirtschaftlich effizient reagieren zu können, dann muss die Antwort lauten: Wir müssen uns schon heute auf den Weg machen, um die ersten Elemente einer Flexibilisierung in die Schicht- und Einsatzpläne einzubauen, Planungsprozesse zu etablieren, die es den Planern ermöglichen, unter den Rahmenbedingungen der zunehmenden Flexibilität effiziente Pläne zu erstellen, Software-Systeme zur Unterstützung der Personaleinsatzplanung zu installieren, wenn die Anforderungen für eine rein manuelle Planung zu vielfältig und komplex sind, die Implementierung von Lebensarbeitszeitmodellen zu überprüfen, die Gestaltung flexibler Entlohnungssysteme zu evaluieren, die Anreize für eine individuell angemessene, flexible Verfügbarkeit der Mitarbeiter schaffen.
Jeder Schritt in die Richtung Arbeitszeit 4.0 hilft den Unternehmen bei der Bewältigung der bereits heute notwendigen Flexibilitätsanforderungen Das alles erfolgreich umzusetzen, wird eine gewisse Zeit dauern. Das Gute daran ist: Jeder einzelne Schritt wird auch in einer Welt, in der Industrie 4.0 noch Zukunftsmusik ist, schon kurzfristig nach seiner Umsetzung helfen, die bereits heute in (fast) allen Produktionsbetrieben benötigte Flexibilität besser und wirtschaftlicher zu bewältigen! Und jeder Schritt bringt das Unternehmen den personalwirtschaftlichen Voraussetzungen für die Fabrik der Zukunft näher. Gefährlich wäre es hingegen, einfach abzuwarten: Wenn eines Tages Industrie 4.0 auf die heutigen starren Schichtmuster trifft, könnten erhebliche Investitionen in Technik und Automatisierung an vermeintlich trivialen Fragen der Schichtplangestaltung scheitern!