Kindeswohlgefährdung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Inhalt l Definition Kindeswohlgefährdung l Fallzahlen l Dilemma innerfamiliärer Kindeswohlgefährdung l Kinderschutz in Berlin (Institutionen, gesetzliche Grundlagen) l Rolle der KJP l Spezielle Aspekte (Strafverfolgung, Datenschutz) l Fallbeispiel
Sozialwissenschaftliche Einteilung der Kindeswohlgefährdung l Körperliche Misshandlung l Seelische Misshandlung l Sexueller Missbrauch l Vernachlässigung
Häufigkeit von Kindeswohlgefährdung (Ergebnis Befragung 16 Jugendämter / Münder et.al.2000) 160 140 120 100 80 60 40 20 0 159 73 40 21 25 Vernachlässigung Seel. Mißbrauch Sex. Mißbrauch Körperl. Mißhandlung Sonstiges N=318
Häufigkeit Schätzungsweise 5% aller Kinder wachsen in Verhältnissen auf, in denen ein Risiko für Vernachlässigung besteht (Fegert)
Kindeswohlgefährdung KJP St. Joseph Krankenhaus SGKJ: Überwiegend Venachlässigung und seelische Misshandlung; V.a. sexuellen Missbrauch (häufig nicht zu bestätigen) Pro Monat durchschnittlich 1 Fall im Kinderbereich und 1 Fall im Jugendbereich
Definition Vernachlässigung Unterlassung von ausreichender Ernährung, Kleidung, Körperpflege, medizinischer Versorgung, ungestörtem Schlaf, altersgemäßer emotionaler Zuwendung Unterlassung von Betreuung und Schutz vor Gefahren
Vernachlässigung des seelischen und geistigen Wohls durch ein unzureichendes oder ständig wechselndes und dadurch nicht verlässliches, tragfähiges emotionales Beziehungsangebot, Mangel an Aufmerksamkeit und emotionaler Zuwendung, Nichteingehen auf Bedürfnisse des Kindes, Unterlassen einer angemessenen alters- und entwicklungsgerechten Betreuung, Erziehung und Förderung, u.a. auch das Desinteresse der Eltern am regelmäßigen Schulbesuch des Kindes
Seelische Misshandlung (nach H. Kindler) l Feindselige Ablehnung l Ausnutzen und Korrumpieren l Terrorisieren l Isolieren l Verweigerung emotionaler Responsivität
l Feindselige Ablehnung z.b. ständiges herabsetzen, beschämen, kritisieren oder demütigen eines Kindes
Ausnutzen oder Korrumpieren z.b. Kind wird zu einem selbstzerstörerischen oder strafbaren Verhalten angehalten oder gezwungen bzw. ein solches Verhalten wird widerstandslos zugelassen
l Terrorisieren z.b. ein Kind wird durch ständige Drohung in einem Zustand der Angst gehalten
l Isolieren z.b. Kind wird in ausgeprägter Form von altersentsprechenden sozialen Kontakten fern gehalten
l Verweigerung emotionaler Responsivität z.b. Signale des Kindes und seine Bedürfnisse nach emotionaler Zuwendung werden anhaltend und in ausgeprägter Form übersehen und nicht beantwortet
Definition Sexueller Missbrauch l Einbeziehen des Kindes in eigene sexuelle Handlungen l Nötigung zu sexuellen Handlungen l Aufforderung, sich mit und/oder vor anderen sexuell zu betätigen u.a.
Besondere Fallgruppen seelischer Misshandlung l Wiederholtes Erleben gewaltätiger Auseinandersetzungen in der Familie l Gezielte Entfremdung von einem Elternteil durch einen anderen l Parentifizierte Kinder l Gedeihstörungen aufgrund psychosozialer Gründe
Kriterien für die Einschätzung der Gewährleistung des Kindeswohls: l Ausmaß/Schwere der Beeinträchtigung/ Schädigung l Häufigkeit/Chronizität der Schädigung l Verlässlichkeit der Versorgung durch die Sorgeberechtigten (SB) l Ausmaß und Qualität der Zuwendung der SB l Erziehungskompetenz der SB l Selbsthilfekompetenz des Kindes (entsprechend seines Alters, Entwicklungsstandes, seine Resilienz und seine Fähigkeit, Hilfe zu holen)
Risikofaktoren in Familien eigene Deprivationserfahrungen, Sucht, Psychische Krankheit, geistige Behinderung, eingeschränkte Leistungsfähigkeit, Analphabetismus, Kinderreichtum, angespannte finanzielle Situation, Arbeitslosigkeit, Eltern- oder Paarkonflikte, unerwünschte Elternschaft, kulturell bedingte Konflikte, mangelnde Integration in soziales Umfeld
l Seelische Misshandlung bei mehr als 10% der Kinderschutzfälle der Jugendhilfe im Vordergrund l Zweithäufigste Gefährdungsform l Selten allein auftretend
Vernachlässigung und seelische Misshandlung - Chronifiziert - Geringe Dringlichkeit - schwer nachweisbar - bei älteren Kindern wenig öffentlichkeitswirksam
l Staatliches Wächteramt des Jugendamtes Hilfen zur Erziehung, Inobhutnahme, Einbeziehung des Famililengerichtes zur Überprüfung der Erziehungsfähigkeit
Rolle der Kliniken l Wer l Bezieht wie das Jugendamt mit ein l Bis wann (In welchem Zeitfenster)
Am Beispiel der KJP sjk: l Wer: Fallführender oder Sozialdienst unter Rücksprache mit dem CA / OA l Wie Jugendamt einbeziehen: internes Arbeitspapier l Bis wann: abhängig von Ausmaß/Schwere
o Wie: o Anhaltspunkte objektivieren in Gespräch mit Vorgesetzten und Kollegen (Teambesprechung) o Anhaltspunkte dokumentieren o Ergebnis der Rücksprache dokumentieren
Dilemma beim Kinderschutz: familiäre Bindung contra familiäre Schädigung
Kooperation mit Kindeseltern soweit möglich Stärkung des Familiensystems durch Hilfen
Wie: Elterngespräche o Elterngespräch (möglichst zu zweit): weitere Informationen erlangen, Kooperationsfähigkeit einschätzen, Unterstützungsangebote durch Jugendhilfe erläutern und auf Besorgnis im Team und Notwendigkeit einer Einbeziehung des Jugendamtes hinweisen (ggf. Einverständnis der Ke unterschreiben lassen)
Einschätzung der Mitwirkungsbereitschaft der Ke l Problemakzeptanz l Problemkongruenz l Hilfeakzeptanz
Einbeziehung des Jugendamtes: akut: sofortige Inobhutnahme, bei mehr Zeit: Helferkonferenz, Vorgehen nach Absprache mit Jugendamt
Kriterien zur Dringlichkeitseinschätzung (nach AV Ju`A) - Häufigkeit/Chronizität - Verlässlichkeit der Versorgung - Ausmaß und Qualität der Zuwendung, Annahme, Erziehungskompetenz - Selbsthilfekompetenz des Kindes (alters- und entwicklungsabhängig, Widerstandsfähigkeit, Fähigkeit sich Hilfe zu holen)
Datenschutz l Kinderschutz bricht Datenschutz (bei konkreter Gefährdungslage) l Aber: nur bezüglich der Kontaktaufnahme mit dem Jugendamt oder einer strafverfolgenden Behörde l Besser mit Einverständnis der Ke handeln l Auch bei Nichteinverständnis der Ke diese möglichst informieren über die Kontaktaufnahme zum Jugendamt oder Polizei
Vorgehen bei V. a. Gefährdung des Kindeswohls im SGKJ - 2.Person (mögl. Arzt/ Psychologe) zu Gespräch mit Ke hinzuziehen - Informationen sammeln, dokumentieren - Kollegiale Beratung, dokumentieren - Einbeziehung CA über Visite oder je nach Gefährdungsgrad Extratermin, dokumentieren - Erneut Gespräch mit Ke über Besorgnis informieren, soweit möglich, mit Ke gemeinsam Lösungen finden, Ke für Hilfen über das Jugendamt und (ggf.) KJPD motivieren, - Schweigepflichtsentbindung einholen - Bei nicht-kooperierenden Ke diese informieren, dass das Jugendamt von uns einbezogen wird (u. ggf. KJPD) - Dokumentieren (Fähigkeit bzw. Unfähigkeit der Ke das Wohl des Kindes zu gewährleisten, Problemakzeptanz durch Ke, Kooperation der Ke bezüglich weiterer Hilfen - Einbeziehung des Jugendamtes (ggf. KJPD), dokumentieren -Weitere Maßnahmen bezüglich der Kindeswohlgefährdung in Absprache mit dem Jugendamt - Fallkonferenz/ Helferkonferenz mit Jugendamt u.a. Beteiligten (je nach Kooperationsfähigkeit der Ke mit oder ohne bzw. mit späterer Beteiligung der Ke)
Sonderfälle KJP intern l Datenschutz/ Schweigepflicht bei Loyalitätskonflikten der Opfer und wenig objektivierbaren Indizien l Strafrechtliche Aspekte l Vermutete Kindeswohlgefährdung ohne psychiatrische Indikation bei Notvorstellung
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und einen erfreulichen weiteren Fachtag!