Unheimliches Erzählen und die Unheimlichkeit des bürgerlichen Subjekts Von Richard T. Gray Das Urteil gehört ohne Zweifel zu den meist interpretierten Kurztexten Kafkas, was dazu geführt hat, dass es unter Literaturwissenschaftlern geradezu zum Brauch geworden ist, jeder Neuinterpretation dieses Textes eine Apologie vorauszuschicken. Diesem Brauch soll hier nicht gefolgt werden. Stattdessen sollen als Einführung kurz die Gründe dafür skizziert werden, warum ausgerechnet diesem Text Kafkas so viel hermeneutische Energie und Akribie gewidmet worden sind. Kafka selbst ist zum Großteil dafür verantwortlich, denn er schrieb dem Urteil eine Schlüsselstellung in seiner eigenen literarischen Entwicklung zu. Unmittelbar nach der Niederschrift dieser Geschichte in der Nacht vom 22. zum 23. September 1912 notiert er in seinem Tagebuch:»Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele«(KKAT 461); und anlässlich der Druckfahnenkorrektur des»urteils«behauptet Kafka, die Geschichte sei»wie eine regelrechte Geburt mit Schmutz und Schleim bedeckt«(kkat 491) aus ihm herausgekommen. Damit wird der von Spontanität und Unreflektiertheit gekennzeichnete Schaffensprozess, der Das Urteil hervorbringt, für ihn zum Wahrzeichen jedes authentischen literarischen Schreibens. Noch vier Jahre später, im August 1916, schreibt Kafka an seinen Verleger Kurt Wolff, diese Geschichte sei von seinen Werken die ihm»liebste Arbeit«(Br 149), und dieses Urteil über Das Urteil behält er bis zum Ende seines Lebens bei. Die Bedeutung dieser durchaus positiven Auffassung wird erst dann verständlich, wenn man sie vor dem Hintergrund der
übermäßig scharfen Kritik betrachtet, mit der Kafka sonst seinen eigenen literarischen Produkten begegnete. Nicht nur die fragmentarisch gebliebenen Romane, sondern Texte wie Die Verwandlung und In der Strafkolonie, deren Veröffentlichung Kafka selbst autorisierte, fallen dieser Tendenz zu strenger Selbstkritik anheim. Der Schlüsselstellung des Urteils innerhalb von Kafkas Schaffen entspricht die Schlüsselstellung, die das Auslegen dieses Textes in der Kafka-Forschung eingenommen hat: Keine Gesamtinterpretation seines Werks kann um eine Interpretation dieses Textes umhin, und nicht selten wird das Auslegen dieser Erzählung zum Ausgangspunkt für eine Darstellung des Kafka schen Gesamtwerks. 1 Ein zweiter Grund für die Häufigkeit der Auseinandersetzungen mit diesem Text ist darin zu sehen, dass Kafka selbst sich mit seiner Auslegung befasst hat. Bei einem Dichter, der sich äußerst selten und dann meistens nur kurz und aphoristisch zu seinen Texten äußert, bilden die recht ausführlichen Erläuterungen zum Urteil eine bemerkenswerte Ausnahme. 2 Durch das Heranziehen dieser Auslegungsansätze Kafkas hoffen viele Interpreten ein sichereres Fundament für den Bau ihrer eigenen Interpretation schaffen zu können. Doch gründet diese Hoffnung in dem Postulat, der Autor wie diese Bezeichnung selbst andeutet habe absolute Autorität über den von ihm verfassten Text; aber gerade dieses Postulat, wie im Folgenden erörtert werden soll, gilt für das Urteil nicht. Ein weiterer Grund für die vielfältigen Versuche, diese Geschichte zu interpretieren, liegt in der hermeneutischen Herausforderung der Erzählung: Wie fast kein anderer Text der literarischen Moderne ist dieser gekennzeichnet durch formale Geschlossenheit und inhaltliche Offenheit, durch den Gegensatz zwischen einer klaren, konsequenten sprachlich-erzählerischen Entwicklung und einem anscheinend alogischen, inkonsequenten Handlungsablauf. Während die diskursive Ökonomie dieser Geschichte den Eindruck eines abgeschlossenen, folgerichtigen und lückenlosen Textgefüges erweckt, erscheint die Handlung als sprunghaft und von unerklärlichen
Rissen durchzogen. Hinzu kommt, dass Kafka in den einleitenden Absätzen, in denen die empirische Umwelt des Helden Georg Bendemann und dessen persönliche Situation beschrieben werden, den Anschein erweckt, es handele sich einfach um eine konventionelle Erzählung, die den Normen des literarischen Realismus folgt. 3 Im Laufe der Geschichte werden aber die am Anfang hervorgerufenen Lesererwartungen zunehmend enttäuscht. Letztlich wirft der Text eine Reihe rätselhafter Fragen auf: Wer ist und was bedeutet der Freund in Petersburg? Wie erklärt es sich, dass der Vater einerseits die Existenz dieses Freundes anzweifelt (E 28), andererseits aber behauptet, er habe selbst brieflichen Kontakt mit diesem Freund und sei sein»vertreter«(e 30)? Was motiviert das strenge und harte Urteil, das der Vater über Georg verhängt? Warum akzeptiert Georg diese Strafe, ja wieso führt er sie selbst aus? Ist Georg ein unschuldiges Opfer? Wenn nicht, worin liegt seine Schuld? Es ist auffallend, dass Kafka gerade diese Erzählung, die er sein Leben lang als seine höchste literarische Leistung angesehen hat, für unerklärlich deklariert. An Felice Bauer schreibt er:»findest Du im Urteil irgendeinen Sinn, ich meine irgendeinen geraden, zusammenhängenden, verfolgbaren Sinn? Ich finde ihn nicht und kann auch nichts darin erklären. Aber es ist vieles Merkwürdige daran«(f 394). Und ein paar Tage später behauptet er noch apodiktischer:»das Urteil ist nicht zu erklären«(f 396). Von daher ist die Hypothese berechtigt, Kafka habe diese Rätselhaftigkeit, diesen Mangel an einem»geraden, zusammenhängenden, verfolgbaren Sinn«für das wesentliche Kriterium eines gelungenen literarischen Textes gehalten. Eine Tendenz der Kafka-Forschung hat dieses Unerklärlichkeitspostulat nicht nur für Das Urteil, sondern für Kafkas Texte überhaupt beim Wort genommen; sie vertritt die Ansicht, diese hätten eben nicht e i n e n»verfolgbaren Sinn«, sondern seien so strukturiert, dass sie eine Vielfalt möglicher Sinnzuschreibungen hervorrufen. 4 Diesen Befürwortern der Sinndisseminierung gegenüber steht eine andere Gruppe von Interpreten, die glauben,
doch noch e i n e n Sinn im Urteil aufdecken zu können. Sie lesen den Text als eine literarisch verschlüsselte Darstellung von Kafkas psychobiographischer Situation, 5 und auch sie können sich auf Aussagen des Autors stützen, denn Kafka hat in seinen Ansätzen zur Analyse des Urteils autobiographische Elemente betont. Georg hat soviel Buchstaben wie Franz. In Bendemann ist»mann«nur eine für alle noch unbekannten Möglichkeiten der Geschichte vorgenommene Verstärkung von»bende«. Bende aber hat ebensoviele Buchstaben wie Kafka und der Vokal e wiederholt sich an den gleichen Stellen wie der Vokal a in Kafka. Frieda hat ebensoviel Buchstaben wie Felice und den gleichen Anfangsbuchstaben, Brandenfeld hat den gleichen Anfangsbuchstaben wie Bauer und durch das Wort»Feld«auch in der Bedeutung eine gewisse Beziehung. (KKAT 492) Es besteht kein Zweifel daran, dass der Herbst 1912, also die Zeit seines literarischen Durchbruchs, für Kafka in vielerlei Hinsicht eine Wasserscheide in seinem Leben bedeutete. Einerseits wurde seine erste Buchveröffentlichung in dieser Zeit vorbereitet, so dass er sich in seiner Berufung zum Schriftstellertum bestätigt fühlen konnte; andererseits war er gerade im Begriff, sich mehr denn je den bürgerlichen Wert- und Lebensverhältnissen zuzuwenden, die seiner Schriftstellerpersona so verhasst waren und die er in der Figur seines Vaters Hermann Kafka verkörpert sah. Ende 1911 wurde Kafka mit seinem Schwager Karl Hermann Mitbegründer und Mitbesitzer einer Prager Asbestfabrik, und damit betrat er ob willentlich oder unwillentlich ist nicht mit Sicherheit festzustellen eine bürgerliche Laufbahn, die der seines Vaters nicht unähnlich war. 6 Es dauerte nicht lange, bis ihm die zusätzliche Verantwortung für die Fabrik zur Last wurde und er seinen Verpflichtungen als Fabrikbesitzer weder nachkommen wollte noch konnte. 7 Hinzu kommt, dass Kafka im August 1912 Felice
Bauer kennen lernte und kurz nach der Niederschrift des Urteils mit ihr Briefkontakt aufnahm. Er plante seit der Begegnung mit Felice seinen Eintritt in das bürgerliche Leben mittels einer Heirat, die Gründung seiner eigenen Familie. Wenn er durch die Fabrikgründung zum Nachfolger seines Vaters im geschäftlichen Leben wurde, sollte die Heirat diese Nachfolgerschaft im bürgerlichen Privatleben vollziehen. Damit konnte Kafka symbolisch in die Fußstapfen seines Vaters treten, ein Sohn werden, der dem Wunschbild des Vaters mehr entsprach als der neurotisch gequälte Einzelgänger, der einen Freiraum außerhalb der bürgerlichen Gesellschaftsordnung für das Dichten seiner merkwürdigen Geschichten suchte. Es steht außer Frage, dass diese Problematik das Verhältnis zwischen Georg, seinem Vater und dem Petersburger Freund im Urteil mitbestimmt. Georg Bendemann ist dabei, seinen Vater sowohl im geschäftlichen als auch im sexuellen Bereich zu ersetzen, während der Freund vor diesem restlosen Aufgehen im bürgerlichen Leben zurückschreckt und in die Fremde flüchtet. Rückblickend hat Kafka seinen Entschluss zur Heirat so beschrieben:»ein durch seine Lebensumstände und durch seine Natur gänzlich unsocialer Mensch [...] entschließt sich allerdings unter dem stärksten innersten Zwang, zum Heiraten, also zur socialsten Tat«(F 598). Im Urteil vertritt der Freund in Petersburg, der»keine rechte Verbindung mit der dortigen Kolonie seiner Landsleute«und auch»fast keinen gesellschaftlichen Verkehr mit einheimischen Familien«(E 23) hatte, Kafkas Wesenszug des»unsocialen Menschen«, 8 während Georg den vom»stärksten innersten Zwang«zum bürgerlichen Verkehr getriebenen Sohn Hermann Kafkas also Kafkas bürgerliches Zwangs-Ich verkörpert. Dadurch, dass man die autobiographischen Korrelate der Geschichte aufgedeckt hat, hat man nur den Anlass des Textes erklärt, aber bei weitem noch nicht den Text an sich interpretiert. Denn Das Urteil ist weit mehr als nur eine Verschlüsselung von Kafkas persönlichem Konflikt; es konkretisiert eine allgemeinere Krise des bürgerlichen