Veranstaltung der GKV zur Gesundheitsreform am 28.6.2006 Statement von Prof. Dr. Edda Müller, Vorstand Verbraucherzentrale Bundesverband Es gilt das gesprochene Wort! Sehr geehrte Damen und Herren, in der seit Jahren geführten Auseinandersetzung um eine solidarische und nachhaltige Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung hat sich der Verbraucherzentrale Bundesverband für den Ansatz der Bürgerversicherung stark gemacht. Die Ergänzung der bisherigen auf Lohn und Gehalt bezogenen Beiträge durch andere Einkommensarten sowie die Einbeziehung weiterer Bevölkerungsschichten in den Solidarausgleich sind die Eckpunkte einer solchen Finanzierungsreform. Die Idee der Bürgerversicherung bedeutet indes nicht, eine Einheitskasse zu errichten. Schließlich kann ein fairer Wettbewerb mit nachvollziehbaren Wahloptionen für die Versicherten nur entstehen, wenn alle Versicherungsanbieter, privat oder gesetzlich, gleichen Marktbedingungen unterliegen, beim Vertragszugang der Versicherten wie bei der Struktur der Beitragsbemessung, und auch beim Katalog der notwendig zu erbringenden Leistungen. Die Identität der Kassenarten ist dabei kein Wert an sich. Vielmehr müssen sich die Profile der Versicherungsanbieter in Zukunft stärker an den konkreten Versorgungsaufgaben bilden als daran, welche Berufgruppe die Krankenkasse vor hundert Jahren einmal versichert hat. Welche Probleme muss aber eine Reform der Krankenversicherung im Sinne einer nachhaltigen Finanzierung angehen und wie können dabei faire Angebotsbedingungen für gesetzliche (GKV) und private Krankenversicherungen (PKV) geschaffen werden? Dazu möchte ich unsere Position in acht Punkten skizzieren: 1. Entschärfung des durch anhaltend hohe Arbeitslosigkeit und die absehbare demografische Entwicklung verursachten strukturellen Einnahmeproblems der GKV, indem die finanzielle Leistungsfähigkeit der Versicherten in der Beitragserhebung besser berücksichtigt wird. So sollten neben Erwerbseinkommen auch anderer Einkommensarten im Sinne einer größeren Lastengerechtigkeit in den Solidarausgleich einbezogen werden. Die Einnahmen der GKV aus Steuermitteln zu ergänzen, wäre indes nur dann nachhaltig, wenn ein solcher Zuschuss erstens auf eine gesetzlich gesicherte Basis gestellt und zweitens verhindert wird, dass
sich die Leistungsfähigen ihrer Steuer- bzw. Beitragsschuld trickreich entziehen können. 2. Abmilderung der negativen Auswirkungen eines möglichen Anstiegs der Gesundheits- auf die Arbeitskosten, um Anreize für mehr Beschäftigung zu setzen. Je nachdem, wie die Strukturveränderungen und kostendämpfenden Maßnahmen der Reform wirken, ist mit einer mehr oder weniger hohen Dynamik der Leistungsausgaben zu rechnen. Die vom Gesetzgeber gewollte Entlastung der Arbeitgeber muss aber so ausgestaltet werden, dass diese an der Dynamik der Gesundheitsausgaben weiter beteiligt werden und damit ein Interesse an der Abwehr von Kostenanstiegen behalten. 3. Stärkung und Ausweitung des Solidarausgleichs zwischen Gesunden, Jungen und Gutverdienern auf der einen und Kranken, Alten und Armen auf der anderen Seite durch die sukzessive Einbeziehung bisher privat Versicherter in die gesetzliche Ausgleichsgemeinschaft. Das Solidarprinzip ist noch vor dem Versicherungsprinzip die tragende Basis der kollektiven Absicherung von Gesundheitsrisiken; es genießt darum hohe Anerkennung in der Bevölkerung und ist angesichts zunehmender Individualisierung wesentlich für eine nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft. Die deutsche Besonderheit, dass gerade gut Verdienende die Möglichkeit haben, sich dem Solidarausgleich zu entziehen, ist nur historisch zu erklären. 4. Modernisierung des Zugangs zum Versicherungsschutz sowie der Mitgliedschaftsrechte und Beitragsgestaltung angesichts der Zunahme unsteter Erwerbsverläufe, prekärer Beschäftigungsverhältnisse und Kleinselbstständigkeit. Das bisherige Versicherungssystem ist auf die sich wandelnde Arbeitswelt nicht eingestellt. Notwendig wäre daher nicht nur ein Rückkehrrecht für Menschen ohne Krankenversicherung, sondern auch eine Absenkung des Mindestbeitrags in der GKV für gering verdienende Selbständige, um dem Verlust des Versicherungsschutzes vorzubeugen. 5. Verminderung des Anreizes zur einkommens- und gesundheitsbezogenen Risikoselektion durch Krankenkassen oder Versicherungsunternehmen. Dazu gehört auf der Seite der GKV, den Risikostrukturausgleich noch präziser an den Morbiditätsrisiken der Versicherten auszurichten. Für die private Krankenvollversicherung fordern wir ein Verbot von Gesundheitsprüfungen. 6. Rückführung der versicherungsfremden Leistungen bzw. angemessene Kompensation für die Wahrnehmung gesamtgesellschaftlicher, etwa familienpolitischer Aufgaben durch die gesetzliche Krankenversicherung, indem z.b. die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern durch eine gesetzlich gesicherte Abgabe getragen wird. 7. Schaffung verbindlicher und fairer Angebotsbedingungen für PKV und GKV, durch die gesetzliche Verpflichtung zu einer modifizierten Form des Standardtarifs, der die Leistungen der GKV absichert und die PKV- Versicherten in den Risikostrukturausgleich einbezieht. Darüber hinaus muss die Verwendung von Stornogewinnen zur Absenkung der Neugeschäftsbeiträge im Sinne von Lockangeboten verboten werden. Ergän- Verbraucherzentrale Bundesverband: Statement Prof. Dr. Edda Müller 2/5
zend die bereits genannten Maßnahmen: Kontrahierungszwang im PKV-Standardtarif, die Wiederaufnahme Versicherter, die ihren Versicherungsschutz verloren haben, und das Verbot von Gesundheitsfragen. 8. Erhöhung der Transparenz bei der Einführung von Wahltarifen für privat oder gesetzlich Versicherte. Souveräne und kompetente Verbraucherentscheidungen sind nur bei einer überschaubaren Anzahl marktweit gleicher und qualitätsgesicherter Alternativangebote möglich. Das Tarifchaos in der PKV muss zurückgeführt und darf unter keinen Umständen auf die GKV übertragen werden. Intransparente Wahloptionen dienen letztlich nicht den Verbraucherinnen und Verbrauchern, sondern fördern lediglich die Geschäfte der Finanzberater. Die Umsetzung dieser Forderungen ist weitgehend unabhängig davon, ob man eine Bürgerversicherung, ein Gesundheitsprämienmodell anstrebt, beim gegenwärtigen System verbleibt oder einen Gesundheitsfonds als dritten Weg beschreiten will. Die entscheidende Frage ist jedoch: Welche dieser beschriebenen Probleme werden durch das derzeit diskutierte Fondsmodell eigentlich gelöst? Zunächst einmal kommt es je nach Ausgestaltung des Modells zu einer mehr oder weniger deutlichen Entlastung der Arbeitskosten und damit der Arbeitgeber, die durch Deckelung ihres Beitrags an der Ausgabendynamik nicht mehr beteiligt wären. Ob dies indes angesichts des eher geringen Anteils der Gesundheitsausgaben an den Lohn-Stück-Kosten zu spürbaren Beschäftigungseffekten führt, ist stark zu bezweifeln. Nachdem durch Zuzahlungen und Zusatzbeiträge der Versicherten die Parität in der Finanzierung schon aus der Balance geraten ist, wären die Arbeitgeber künftig nur noch zu einem guten Drittel an den Gesundheitskosten beteiligt. Umgekehrt würden Versicherte und Steuerzahler deutlich stärker belastet. Zu befürchten ist daher, dass die geringen Beschäftigungseffekte durch den realen Kaufkraftverlust der Verbraucherinnen und Verbraucher wieder wettgemacht werden. Gesellschafts- und familienpolitische Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung wie z.b. die beitragsfreie Mitversicherung der Kinder sollen aus Steuermitteln kompensiert werden. Angesichts der Tatsache, dass der erst 2004 eingeführte Zuschuss aus den Erträgen der Tabaksteuer durch Koalitionsbeschluss aus dem Jahr 2005 schon 2007 wieder auslaufen soll, sind Zweifel an der Nachhaltigkeit einer solchen Steuerfinanzierung geboten. Will man den Zuschuss für die beitragsfreie Kindermitversicherung nicht der jeweiligen finanzpolitischen Großwetterlage anheim stellen, müsste er als zweckgebundene Abgabe oder durch ein eigenes Leistungsgesetz auf eine solide gesetzliche Grundlage gestellt werden. Dabei wäre auch zu klären, ob und wie privat Versicherte, die ja als Steuerzahler für die Finanzierung mit aufkommen, ebenfalls in den Genuss einer beitragsfreien Mitversicherung der Kinder kommen. Wie sich eine solche Regelung auf die Attraktivität der gesetzlichen gegenüber der privaten Krankenversicherung auswirkt, kann nur im Verbraucherzentrale Bundesverband: Statement Prof. Dr. Edda Müller 3/5
Rahmen einer grundsätzlichen Überprüfung der Angebotsbedingungen von GKV und PKV geklärt werden. Hier liegt einer der großen offen Stellen der bisherigen Reformdiskussion: Wie soll das Ziel eines fairen Wettbewerbs aller Anbieter bzw. eine Einbeziehung der privaten Krankenversicherung in einen solidarischen Gesundheitsfonds bewerkstelligt werden, wenn Zugangsbedingungen, Beitrags- und Leistungsgestaltung der PKV unangetastet bleiben? Kann ein für die Gesamtbevölkerung angelegtes System einer solidarischen Umlagefinanzierung mit einem auf bestimmte Gruppen bezogenen kapitalgedeckten Versicherungsmodell im wahrsten Sinn des Wortes in einen Topf geworfen werden? Zahlen die privat Versicherten je nach Risiko in den Fonds oder wie alle anderen nach Leistungsfähigkeit und wie gleicht die PKV den Risikoanteil in ihrem Finanzierungsmodell aus? Der geplante Gesundheitsfonds, in den alle Versicherten nach ihrer Leistungsfähigkeit einzahlen, setzt im Prinzip nur das in reale Zahlungsvorgänge um, was im bisherigen Risikostrukturausgleich virtuell schon passiert: Er koppelt die Einnahmesituation der Krankenkassen ein Stück weit vom Risikoprofil ihrer Versicherten ab. Im Hinblick auf die finanzielle Leistungsfähigkeit ist der Fonds konsequent, denn für die Krankenkasse, die für jeden Versicherten ja nur einen bestimmten Kopfbetrag erhalten soll, wäre es künftig unwichtig, wie viel der Versicherte in den Fonds eingezahlt hat. Eine Risikoselektion nach Einkommen fiele damit weg. Verschärfen würde sich hingegen der Selektionsdruck im Hinblick auf die Morbidität, denn die Leistungsausgaben schlagen sich wie in einem Preis unmittelbar in dem geplanten pauschalen Versichertenbeitrag nieder. Diese kleine Kopfprämie, mit der die Wechselbereitschaft der Versicherten angeheizt werden soll, dürfte sich indes gerade bei den Versorgerkassen sehr rasch zu einer großen Kopfprämie entwickeln. Krankenkassen, die ihre wachsende Gestaltungskompetenz im Leistungsgeschehen zugunsten einer qualitativ besseren und damit zumindest kurzfristig teureren Versorgung der Patienten nutzen, hätten in einem derart verschärften Wettbewerb zunächst das Nachsehen gegenüber den zwar billigen, aber in der Versorgung leichtgewichtigen Kassen. Zu befürchten ist, dass der erwünschte Wettbewerb um bessere Qualität und Effizienz sich auf einen reinen Kostenwettbewerb reduziert. Wir wissen aber aus anderen Branchen, dass die Ausrichtung großer Systeme der Daseinsvorsorge auf kurzsichtige betriebswirtschaftliche Erlöse eine nachhaltige Entwicklung des Systems insgesamt eher gefährdet als voranbringt. Eine wesentliche Frage an jedes Finanzierungsmodell ist daher, wie sich die Morbidität der Versicherten im Risikostrukturausgleich (RSA) künftig niederschlagen soll. Dass der RSA reformiert wird, ist von der Koalition bereits beschlossen worden. Warum kann es beim virtuellen Fonds, den das Bundesversicherungsamt verwaltet, nicht bleiben, indem die Ein- und Ausgaberisiken der Krankenkassen gegeneinander abgeglichen und dann durch entsprechende Aus- Verbraucherzentrale Bundesverband: Statement Prof. Dr. Edda Müller 4/5
gleichszahlungen kompensiert werden? Warum müssen die Zahlungseingänge selbst mit hohem administrativem Aufwand in den gemeinsamen Topf eingezahlt werden? Welches der relevanten Probleme lässt sich durch die Schaffung einer zentralen staatlichen Einnahmestelle wirklich nachhaltig lösen? Eine Reduzierung der Verwaltungskosten der Krankenkassen ist zumindest dann kaum zu erwarten, wenn für die Einziehung der kleinen Kopfpauschale Verwaltungskapazität erhalten bleiben muss. Das Gesundheitsfonds-Modell wirft also mehr Fragen auf als es beantwortet. Abgesehen von der geplanten Einnahmeergänzung aus Steuermitteln nähme bei einem Fondsmodell der Einfluss des Staates auf das Gesundheitswesen auch durch die zentrale Finanzverwaltung der Krankenversicherung deutlich zu. Man kann über die Effektivität und Legitimation der Kassenselbstverwaltung sicher unterschiedlicher Ansicht sein; der Verbraucherzentrale Bundesverband sieht gerade im Hinblick auf die Repräsentation der Patientenbelange hier noch erheblichen Reformbedarf. Dass aber der Staat künftig für die gesetzliche Krankenversicherung als Teilfinanzier, zentraler Finanzverwalter und Aufsichtsbehörde gleichzeitig agiert, ist sicher nicht als Beitrag zur Stärkung der Subsidiarität zu werten. Im Ergebnis stellen wir fest, dass das gegenwärtig diskutierte Modell eines Gesundheitsfonds mehr Probleme aufwirft als es löst. Die zentralen Fragen einer nachhaltigen Finanzierung sowie verbindlicher fairer Angebotsbedingungen innerhalb der Krankenversicherungen sind unabhängig davon zu beantworten, wer das Geld der Versicherten einnimmt und verwaltet. Insofern sollte sich die gesundheitspolitische Diskussion der kommenden Wochen auf die Lösung dieser Fragen konzentrieren; hier erwartet die Öffentlichkeit zu Recht konkrete Vorschläge. Anstatt ordnungspolitische Nebelkerzen à la Gesundheitsfonds zu werfen, sollte eine seriöse gesellschaftliche, d.h. öffentliche Debatte zu diesen konkreten Problemen eröffnet werden. Stand: 26. Juni 2006 Verbraucherzentrale Bundesverband: Statement Prof. Dr. Edda Müller 5/5