Eine identische rekurrente Lautsequenz kann verschiedenen Bedeutungen. Eine identische Bedeutung kann verschiedenen rekurrenten Lautsequenzen

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Fortmann, Proseminar Morphologie / Universität Konstanz Wintersemester 2006/07 II Morphem Die Elemente der morphologischen Struktur haben wir als Morpheme bezeichnet. Ein Morphem ist eine minimale Folge von Lauten, denen eine Bedeutung (wie 'HUND') oder grammatische Spezifikation (wie NUM = Pl) korrespondiert. Zur Bestimmung eines Morphems wird in Äußerungen nach wiederkehrende Lautfolgen gesucht und geprüft, ob diesen Lautfolgen eine konstante Bedeutung oder grammatische Spezifikation assoziiert ist. Die bisher dargestellten und diskutierten Beispiele lassen vermuten, daß die Zuordnung von Lautfolge und Bedeutung/grammatischer Spezifikation wechselweise eindeutig ist: Jede wiederkehrende Lautfolge ist genau einer Bedeutung/grammatischen Spezifikation assoziiert und umgekehrt. (1) Hunden Hund- -en Konzept HUND Numerus, Kasus Die Zuordnung von Lautfolge und Bedeutung/grammatischer Spezifikation ist indessen nicht immer eindeutig. Abweichungen sind nach zwei Seiten hin möglich: Eine identische rekurrente Lautsequenz kann verschiedenen Bedeutungen zugeordnet sein; Eine identische Bedeutung kann verschiedenen rekurrenten Lautsequenzen zugeordnet sein. Statt eins-zu-eins-beziehungen haben wir mit viele-zu-vielen-beziehungen zu rechnen. Die Dimiutiv-Bildung im Deutschen gibt ein Beispiel für die erste Möglichkeit. Diminutive können durch Verknüpfung eines Nomens mit entweder chen oder lein gebildet werden. Auch wenn es dialektale oder sonstige Präferenzen geben mag ist die Bedeutung beider Varianten die gleiche. In vielen Fällen ist die Wahl auch frei. 1 1 Die Diminutivbildung ist in der Regel möglich, wenn das Nomen einen gegenständlichen Referenten hat, bei Abstrakta können Schwierigkeiten auftreten, ebenso bei gewissen Wortformen wie etwa: Versuchung, Verlautbarung. 1

(2) a. Herr Herrchen b. Paul Paulchen c. Tisch Tischchen/-lein d. Schiff Schiffchen/-lein e. Bein Beinchen f. Tür Türchen/Türlein g. Mär Märchen In (2) ist das Element, welches das Konzept bezeichnet (z.b. 'HERR' in Herr und in Herrchen) in beiden Formen gleich. Das ist nicht immer so. In (3) ändert sich die Form des entsprechenden Elements unter der Verknüpfung mit chen resp. mit lein. (3) a. Satz Sätzchen b. Klaus Kläuschen c. Hund Hündchen d. Ohr Öhrchen/Öhrlein e. Huhn Hühnchen/Hühnlein f. Laus Läuschen g. Luft Lüftchen/Lüftlein In (3) haben wir es also offenbar mit einer doppelten Zuordnung einer Bedeutung zu unterschiedlichen Lautfolgen zu tun. (4) a. Konzept SATZ {Satz, Sätz-} b. Konzept KLAUS {Klaus, Kläus-} c. Konzept HUND {Hund, Hünd-} d. Konzept OHR {Ohr, Öhr-} e. Konzept HUHN {Huhn, Hühn-} f. Konzept LAUS {Laus, Läus-} G. Konzept LUFT {Luft, Lüft} Solche mehrfache Zuordnung ist erstens nicht auf Nomina beschränkt und zweitens nicht auf eine Verdoppelung. Es gibt namentlich bei den Verben im Deutschen auch Fälle von dreifacher Differenzierung der Formen, die einer identischen Bedeutung assoziiert sind. (5) a. die Stare stehlen Kirschen b. die State stahlen Kirschen c. die Stare haben Kirschen gestohlen 2

(6) a. die Spatzen sitzen auf dem Dach b. die Spatzen saßen auf dem Dach c. die Spatzen sind auf dem Dach gesessen Nach der gewohnten Prozedur lassen sich aus (5) und (6) die in (7) aufgeführten elementaren Bestandteile der Verben isolieren. (7) a. -en in: stehl-en, stahl-en, gestohl-en, sitz-en, saß-en, gesess-en b. ge- in: ge-stohlen, ge-sessen Und aufgrund von (7) unter der Maßgabe, daß der verbleibende Rest eine Lautfolge darstellt, welche eine Bedeutung resp. eine grammatische Spezifikation ausdrückt: (8) a. stehl in: stehl-en b. stahl in: stahl-en c. stohl in: ge-stohl-en d. sitz in: sitz-en e. saß in: saß-en f. sess in: ge-sess-en Die Lautzuordnung in diesen Beispielen ist dann jeweils dreifach: (9) a. Konzept STEHL {stehl, stahl, stohl} b. Konzept SITZ {sitz, saß, sess} Es bestehen auch keine Bedeutungsnuancen zwischen den drei je verschiedenen Lautformen in (9), die die Annahme rechtfertigen könnten, daß es sich um die Lautformen unterschiedlicher Morpheme handeln könnte. Die Interpretationsunterschiede der Verben in (5) und (6) resultiert allein aus den zugefügten, unter (7) aufgeführten Elementen. In (4) und (9) haben wir es mit konzeptuellen Bedeutungen zu tun, denen unterschiedliche Lautformen korrespondieren. Eine Diversifikation der Lautformen findet man auch bei Elementen, welche grammatische Spezifikationen wie Numerus, Genus, Kasus ausdrücken. Zur Illustration betrachten wir in den folgenden Satzpaaren jeweils nur die Nomen. 3

(10) a. der Hund heult a'. die Hunde heulen b. der Bauer schwitzt b'. die Bauern schwitzen c. der Bote kommt c'. die Boten kommen d. der Volvo röhrt d'. die Volvos röhren e. der Legat schweigt e'. die Legaten Schweigen f. der Geist schwebt f'. die Geister schweben Aus diesen Satzpaaren lassen sich u.a. wieder die folgenden elementaren Lautfolgen die in der Mehrzahl aus lediglich einem Phonem bestehen isolieren: (11) -e in: Hund-e -n in: Bauer-n, Bote-n -s in. Volvo-s -en in: Legat-en -er in: Geist-er Die Beispiele in (10) sind jeweils parallel in Rücksicht auf die Wahl des Konzepts, welches durch das Nomen repräsentiert wird und auf dessen Grammatische Funktion. Die Grammatische Funktion Subjekt wird durch den Kasus Nominativ kenntlich gemacht. Unter diesen Voraussetzungen (diese Bedingung ist essentiell!) drücken die unter (11) aufgeführten Lautfolgen die grammatische Spezifikation: 'Numerus = Pl' aus. (12) Numerus: Pl {-e, -n, -s, -en, -er} Im Fall der Pluralbildung (10) ist ein in seiner Form unverändertes Formelement beispielsweise Haus genommen und mit einem der Elemente aus (12) verknüpft. Vielfach erfährt das Element, dem eines aus (12) zugefügt wird, selbst eine Veränderung, wenn ein Plural gebildet wird. in (13) (15) sind feminina, maskulina und neutra verzeichnet. (13) Kuh Kühe {Kuh, Küh}, {-e, -n, -en,..} Magd Mägde Kraft Kräfte Macht Mächte Haut Häute Sau Säue Kunst Künste 4

(14) Bauch Bäuche {Bauch, Bäuch}, {-e, -en, -er,..} Schlauch Schläuche Kanal Kanäle Koch Köche Bach Bäche Mann Männer {Mann, Männ}, {-e, -en, -er,..} Zug Züge Pflug Pflüge Rand Ränder Schlund Schlünde (15) Haus Häuser {Haus, Häus}, {-e, -en, -er,..} Schloß Schlösser Dach Dächer Loch Löcher Lamm Lämmer Band Bänder Bund Bünde {Bund, Bünd}, {-e, -en, -er,..} In (13) bis (15) ist die grammatische Spezifikation Numerus: Plural an beiden Formelementen ausgedrückt, die das Nomen bilden. Es sind auch beide Elemente nötig. Die dem Plural entsprechende Formvariante des Elements, welches das Konzept denotiert kann allein nicht vorkommen. (16) *Häus, *Schlöß, *Männ, *Ränd, *Kräft, *Mächt Um den Plural von Nomen wie Hund oder Haus zu bilden, ist es unabdingbar, eines der Elemente aus (12) anzuknüpfen. Fehlt dieses, haben wir entweder eine überhaupt unzulässige Form vorliegen, wie in (16) oder eben eine Form, die dei grammatische Bestimmung 'Numerus = Sg' impliziert. Im Deutschen müssen wir indessen auch mit Formen der Pluralbildung rechnen, bei denen eine solche Hinzufügung eines den Plural indizierenden Elements nicht stattfindet. Zunächst sind hierunter Fälle zu nennen, bei denen genau das erforderlich ist, was in (16) als unzulässig ausgewiesen ist. Hier wird die grammatische Spezifikation wie 'Numerus Plural' lediglich durch die Wahl einer modifizierten Form für das Formelement, welches das Konzept ausdrückt, bewirkt. 5

(17) Nagel Nägel {Nagel, Nägel} Magen Mägen Garten Gärten Mangel Mängel Acker Äcker Boden Böden Ofen Öfen Mantel Mäntel Sattel Sättel Abwasser Abwässer {Abwasser, Abwässer} Mutter Mütter {Mutter, Mütter} Bogen Bögen Kasten Kästen Tochter Töchter Kloster Klöster Es ist offensichtlich, daß in diesen Fällen die Anknüpfung eines der Elemente aus (12) vollkommen deplaziert ist. (18) *Nagel-e, *Nagel-n, *Nagel-s, *Nagel-en, *Nagel-er Und schließlich gibt es noch Fälle von grammatischen Spezifikationen, wie die Pluralbildung zu gewärtigen, die überhaupt keine Wahl einer differenzierenden Form involvieren. (19) Wagen Wagen {Wagen} Fenster Fenster Rahmen Rahmen Samen Samen Becher Becher Köcher Köcher Gerippe Gerippe Messer Messer Löffel Löffel Gebinde Gebinde Wir sind eingangs davon ausgegangen, daß die als Morphem bezeichneten Strukturelemente, die nebst ihrer Verknüpfung den Gegenstand morphologischer Analyse und Beschreibung abgeben, rekurrente Laut-Bedeutungspaare darstel- 6

len. Wenn wir diesen Grundsatz strikt beherzigen, dann erhalten wir für die zuvor dargestellten Fälle u.a. die folgende Liste von Morphemen. (20) {Hund, HUND} {Haus, HAUS} {Häus, HAUS} {Bauch, BAUCH} {Bäuch, BAUCH} {Kuh, KUH} {Küh, KUH} {-e, PL,...} {-n, PL,...} {-er, PL,...} {-en, PL,...} {stehl, STEHL} {stahl, STEHL} {stohl, STEHL} {ge-, PART,...} {Nagel, NAGEL, SG,...} {Nägel, NAGEL, PL,...} {Wagen, WAGEN, PL,...} {Wagen, WAGEN, SG,...} Dieses Resultat ist in mehrer Hinsicht unbefriedigend. Die Entscheidung ob zwei gegebene elementare Lautfolgen Vorkommen eines identischen Morphems ist, läßt sich positiv nur dann entscheiden, wenn sie sowohl mit Rücksicht auf ihre lautliche Gestalt als auch ihre Bedeutung und/oder grammatische Spezifikation übereinstimmen. Unter dieser Voraussetzung sind aber die Paare {Haus, HAUS} und {Häus, HAUS} ebenso voneinander verschieden wie die Paare {Haus, HAUS} und {Hund, HUND}. Das wiederum läßt eine sinnvolle Generalisierung beispielsweise über die Pluralbildung nicht zu. Während wir nämlich den Plural Hunde erklären könnten als das Resultat der Verknüpfung eines identischen Morphems {Hund, HUND} mit dem Morphem {-e, PL,...}, könnten wir den Plural von Haus i.e. Häuser nicht auf die gleiche Weise erklären, denn wir könnten nicht behaupten, daß wir das Morphem {-er, PL,...} einem der Singularform i- dentischen Morphem {Haus, HAUS} hinzugefügt hätten. Der Umstand, daß Haus und Häus Lautformen sind, die ein identisches Konzept bedeuten kann unter dieser Betrachtungsweise nicht dadurch ausgedrückt werden, daß beide ein identisches Morphem bilden. Um diesen evidenten Mangel zu beheben, begreift man als die elementaren morphologischen Struktureinheiten nicht die einer fixen Bedeutung korrespondierende konkret einzelne lautliche Realisierung, sondern abstrakte Einheiten 7

bestehend aus einer Bedeutung resp. grammatischen Spezifikation und einer Menge möglicher lautlicher Realisierungsformen. Dementsprechend wird die Terminologie ein wenig modifiziert. Man spricht vom Morphem als der abstrakten Einheit, die im jeweils gegebenen Einzelfall durch ein Morph realisiert wird. Für den Fall, daß ein Morphem durch unterschiedliche Morphe realisiert wird, nennt man diese die Allomorphe des resp. Morphems. Man kann ein Morphem auch als die Menge aller Paare auffassen, die durch eine gegebene invariante Bedeutung oder grammatische Spezifikation und deren verschiedene mögliche Lautformen gebildet werden. Diese Betrachtungsweise ist unter anderem auch dadurch begründet, daß in vielen Fällen die Variation der Lautform verschiedener Allomorphe ein und desselben Morphems auf allgemeine phonologische Regeln zurückgeführt werden kann, die angewendet werden, wenn ein Morphem mit einem anderen verknüpft wird. So findet sich die Form Häus, wenn das Morphem mit dem Diminutiv- Morphem, realisiert durch das Allomorph -chen oder mit dem Pluralmorphem, realisiert durch -er verbunden wird. Es ist nun auch unschwer zu erkennen, daß auch das Plural-Morphem eine Reihe von Realisierungsformen, also verschiedene Allomorphe hat. So war es in (12) oben bereits angedeutet. (12) Numerus: Pl {-e, -n, -s, -en, -er} Hier ist allerdings zu gewärtigen, daß die jeweiligen Elemente neben der Numerusspezifikation noch weitere ausdrücken ein Problem, das folgenreich und noch zu besprechen ist. Die eben gegebene Bestimmung des Morphems beinhaltet die Zuordnung einer identischen Bedeutung zu unterschiedlichen lautlichen Realisierungsformen. Der umgekehrte Fall ist gleichfalls gegeben, bei dem eine identische Lautform unterschiedlichen Bedeutungen zugeordnet ist. In (21) ist dies illustriert. Die differierenden Bedeutungen können nicht auf irgend transparente Weise eine aus der andern abgeleitet werden. 2 (21) a. Mangel 1 Instrument zum Plätten insbesondere von Wäsche b. Mangel 2 Das Fehlen von etwas c. Hund 1 männliches Säugetier b. Hund 2 Beförderungsmittel, insbesondere im Bergbau Insofern der Bezugspunkt für die Identifizierung eines Morphems die assoziierte Bedeutung ist, liegen in (21) je zwei verschiedene Morpheme vor, die (zufällig) 2 Hier und im Weiteren werden die unterschiedlichen Lesarten durch einen Subindex auseinander gehalten. 8

durch die gleichen Morphe realisiert werden. Wir haben es hier mit Homonymie zu tun. (21) liefert Beispiele für Morpheme, die ein Konzept repräsentieren und eine im weiteren Sinne referentielle Bedeutung haben. Homonymie begegnet aber insbesondere auch in Fällen grammatischer Spezifikation. Oben haben wir sehen können, wie die Numerusspezifikation Plural durch verschiedene Allomorphe ausgedrückt wird: {-e, -n, -s, -en, -er}. Jede dieser, in der Mehrzahl aus lediglich einem Phonem bestehenden, Lautfolgen stellt ein Allomorph des Morphem PL dar. Bei genauerem Hinsehen erweist sich, daß diese Bestimmung wohl nicht falsch ist, denn sie trifft in den gegebenen Beispielen zu. Sie ist jedoch nicht vollständig und, da auf eine eingeschränkte Menge von Beispielen bezogen sehr einseitig. Die in (12) aufgeführten einzelnen Allomorphe drücken nicht nur eine einzige grammatische Spezifikation aus, sondern mehrere. Diese Mehrdeutigkeit ist etwas vertrackt. Die (Allo-)Morphe {-e, -n, -s, -en, -er} zum Beispiel drücken in ihrer Verknüpfung einesteils die Bestimmung: Plural aus, wie in der Gegenüberstellung (10) bereits zu sehen war. (10) a. der Hund heult a'. die Hunde heulen b. der Bauer schwitzt b'. die Bauern schwitzen c. der Bote kommt c'. die Boten kommen d. der Volvo röhrt d'. die Volvos röhren e. der Legat schweigt e'. die Legaten Schweigen f. der Geist schwebt f'. die Geister schweben Die als Plurale ausgewiesenen Nominalphrasen bilden in diesen Beispielen alle das Subjekt des Satzes. Die Grammatischen Funktionen, Subjekt, Objekt etc. werden im Deutschen durch Kasus kenntlich gemacht und der Kasus wiederum erhält einen morphologischen Ausdruck. Der morphologische Ausdruck des Kasus eines Nomens ist allerdings im Deutschen mit dem des Numerus amalgamiert, das heißt, für Kasus und Numerus werden nicht verschiedene Lautformen als Indikatoren verwendet, sondern eine Lautform fungiert als Exponent von beiden. Dies läßt sich leicht erkennen, wenn wir das Morph -e hernehmen. In (10a') kennzeichnet es den Plural Hunde. Der morphologische Index für den Plural ändert sich jedoch in Abhängigkeit davon, welche grammatische Funktion die NP und damit welchen Kasus das Nomen hat, in der das Nomen eingeschlossen ist. (21) a. die Hunde heulen b. das Geheul der Hunde geht mir auf die Nerven c. mit heulenden Hunden kann man seinen Ärger haben d. ich kann heulende Hunde nicht ausstehen 9

(21) zeigt, daß der Plural durch -e ausgedrückt wird, wenn die Kasusbestimmung entweder Nominativ, Genitiv oder Akkusativ lautet. Im Fall des Dativ drückt -e den Plural nicht aus, statt dessen ist hier -en am Platze. Wir sehen her erstens, daß ein gegebenes Morph hier -e verschiedene grammatische Bestimmungen simultan ausdrückt und daher in einer gegebenen Verknüpfung beispielsweise mit Hund zu Hund-e mehrdeutig ist. Zweitens ist aus (21) aber auch zu ersehen, daß ein identisches Morph unterschiedliche Spezifikationen einer gegebenen Menge von Grammatischen Bestimmungen ausweisen kann. Die grammatischen Bestimmungen sind Numerus und Kasus (von weiteren ist für den Moment abgesehen). Wenn wir die Bestimmung Numerus: Plural fixieren, drückt das Morph -e dann möglicherweise immer noch unterschiedliche Bestimmungen des Kasus aus, nämlich Nominativ, Genitiv oder Akkusativ. Da wir die Differenzierung der Morpheme nicht von der konkreten lautlichen Gestalt, sondern vom Gehalt ihrer Bedeutung abhängig gemacht haben und hierunter auch die grammatischen Bestimmungen rangiert haben, ist es angemessen, von unterschiedlichen Morphemen zu sprechen, die im Fall von -e homonym sind. (22) -e 1 {Pl, Nom,... } -e 2 -e 3 {Pl, Gen,... } {Pl, Akk,... } Zu den Varianten in (22) gesellt sich noch eine weitere, in der -e nicht als Exponent von Plural sondern von Singular figuriert, allerdings in der in (22) nicht vorgefundenen Kombination mit dem Kasus Dativ. (23) dem heulenden Hunde ist nicht zu trauen Womit wir also erhalten (24) -e 4 {Sg, Dat,... } -e ist nicht der einzige homonyme Kandidat unter den Allomorphen in (12). Ein weiterer ist das Element -er, welches den Plural im Nominativ des Nomens Geister ausweist. Dieses Element hat ein Vorkommen, in welchem es primär nicht als Indikator der grammatischen Spezifikationen Numerus, Kasus etc. fungiert, sondern aus einem Verb ein Nomen macht und dieses Nomen mit einer spezifischen Bedeutung versieht. 10

(25) a. schrei(en) Schreier b. arbeit(en) Arbeiter c. sprech(en) Sprecher Wir sehen, daß wir bei der Assoziierung von Laut und Bedeutung, auf der die Definition des Morphems ja beruht, sowohl mit der Beziehung einer Lautform auf mehrere Bedeutungen (Homonymie) zu rechnen haben, wie auch mit der Beziehung einer Bedeutung auf verschiedene Lautformen (Allomorphie). (26) veranschaulicht die gerade angesprochenen Fälle. Die horizontale Zuordnungin der linken Spalte zeigt Allomorphie an, die vertikal Homonymie. (26) {-er} N {-e, -n, -s, -en, -er} {Pl, Nom Gen Akk,...} {-e} {Sg, Dat,... } Auch wenn die Zuordnung von Lautform und Bedeutung resp. grammatischer Spezifikation im Einzelfall mehr oder weniger verwickelt sich darstellen mag, so ist in den behandelten Fällen jedenfalls immer eine solche Zuordnung gegeben und so den definitorischen Anforderungen für ein Morphem (cf. Harris) Genüge getan. Es gibt darüber hinaus allerdings auch Lautfolgen, die bei der Bestimmung der Morphologischen Struktur übrig bleiben teilweise kommen sie nur in einer Kombination vor oder auch als rekurrente Folgen vorliegen, denen man aber keine Bedeutung oder grammatische Spezifikation (mehr) zuordnen kann. (27) a. Stachel-beere b. Him-beere c. Erd-beere d. Johannis-beere e. Krons-beere f. Bick-beere g. Brom-beere h. Heidel-beere Heidel-berg i. Schorn-stein j. Feh-werk k. Schar-werk l. Bern-stein Bern-burg 11

Morphe wie Him- oder Schorn- sind Lautfolgen, denen wenigsten synchron keine Bedeutung mehr zugeordnet werden kann. Als Lautfolgen ohne Bedeutung können sie sensu strictu können sich nicht als Realisierungen eines Morphems angesehen werden. Da sie dennoch in Kombination mit einem andern Morphem eine differenzierte Bedeutung hervorbringen zählt man sie unter der Bezeichnung unikales Morphem oder auch hapax legomenon (Pl: hapax legomena) auch zu den Morphemen. Aufgaben Morphembestimmung Das Formativ -en kommt im Deutschen in verschiedenen Kombinationen vor (cf. oben Legat-en). Das Vorkommen ist jedoch nicht auf Nomen beschränkt. 1. Ermitteln Sie die verschiedenen möglichen Verwendungen und geben Sie Beispiele dafür an. Bestimmen Sie die lexikalische Kategorie der Wörter, die ein -en enthalten können und geben Sie die grammatischen Spezifikationen an, die dieses Formativ ausdrückt. 2. Klassifizieren Sie die ermittelten grammatischen Spezifikationen und bestimmen sie die entsprechend zugehörigen Morpheme. 3. Prüfen Sie weiter, ob es für die in Schritt 2 ermittelten Morpheme neben dem Morph -en andere Realisierungsformen, also weitere Allomorphe gibt. 4. Formulieren Sie gegebenenfalls auftretende Unklarheiten, Schwierigkeiten oder Probleme. 12