Predigt am 16.Mai 2005 (Pfingstmontag) über Genesis 11, 1-9 Prof. Dr. Rolf Schieder

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Transkript:

Predigt am 16.Mai 2005 (Pfingstmontag) über Genesis 11, 1-9 Prof. Dr. Rolf Schieder Gnade sei mit Euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen. Der Predigttext für den Pfingstmontag steht im ersten Buch Mose im 11. Kapitel: Es hatten aber alle Menschen die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte. Als sie von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Land Schinar und siedelten sich dort an. Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! So dienten ihnen gebrannte Ziegel als Steine und Asphalt als Mörtel. Und sie sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einen Namen machen und nicht über die ganze Erde zerstreut werden. Da fuhr der Herr hernieder, um sich die Stadt und den Turm anzusehen, die die Menschenkinder bauten. Und der Herr sprach: Siehe, es ist ein Volk und alle haben eine Sprache. Und das ist erst der Anfang ihres Tuns. Sie werden nicht ablassen von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasset uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des Anderen Sprache verstehe. Also zerstreute sie der Herr von dort in alle Länder und sie hörten auf, die Stadt zu bauen. Darum nennt man sie Babel, denn dort hat der Herr die Sprache aller Welt verwirrt, und sie von dort zerstreut in alle Länder. Es gibt biblische Geschichten, liebe Gemeinde, die sind so gut, dass man sie sich in Ruhe ansehen muss - am besten unter verschiedenen Blickwinkeln. Sehen wir uns die Geschichte vom Turmbau zu Babel zunächst aus dem Blickwinkel der Menschen an, die dabei sind, eine Stadt und einen Turm zu bauen. Aus ihrer Sicht hat sich folgendes zugetragen: 1

Auf dem Zug vom iranischen Bergland nach Osten finden sie zwischen Euphrat und Tigris eine Ebene, die sich zum Bau einer Stadt bestens eignet. Nicht nur die geographischen Verhältnisse stimmen, sondern auch die politischen. Es herrscht Einigkeit und Einigkeit macht stark. Die Erfindung des Ziegelbrennens und die Technik, die Ziegel durch Asphalt miteinander zu verbinden, ermöglichen es, eine Stadt von beeindruckender Größe zu planen. Die Größe der Stadt erzwingt aus Sicherheitsgründen den Bau eines so hohen Turms, dass seine Spitze bis an den Himmel reichen soll - wir würden heute sagen: an den Wolken kratzt. Der Bibeltext legt nicht nahe, dass sich die Menschen damit zur Gottähnlichkeit erheben oder sich gar an die Stelle Gottes setzen wollen. Sie bauen die Stadt und den Turm, um sich zu schützen und - was ja irgendwie menschlich ist - um sich einen Namen zu machen. Die Stadt erhält den Namen Babel - was so viel wie Tor Gottes heißt. Weil man einander gut versteht, macht der Bau rasche Fortschritte. Dann jedoch schwindet das Verständnis füreinander - aus Gründen, die den Menschen offenbar verborgen bleiben. Das ehrgeizige Projekt kann nicht zu Ende geführt werden. Das Ziel, eine großes und sicheres Zentrum für alle Menschen zu errichtet, wird nicht erreicht. Noch schlimmer: was man unter allen Umständen vermeiden will, tritt ein: man zerstreut sich in alle Länder und aus der einen wird eine Vielzahl von Sprachen. Ein frühes Beispiel für Migration und Globalisierung. Ein Fehlverhalten oder gar einen Aufruhr gegen Gott haben sich die Menschen nicht vorzuwerfen. Die Erde zu bebauen ist ein Schöpfungsauftrag und das Bedürfnis in sicheren Verhältnissen zu leben, ist nicht nur verständlich, sondern lebensnotwendig. 2

Hier wird also nicht die Großstadt kritisiert und die unberührte Natur gepriesen. Auch ist die Moral von der Geschichte nicht, dass Hochmut vor den Fall kommt. Es wird einfach nur berichtet, dass Gott es für richtig hält, dass die Menschen viele verschiedene Sprachen sprechen und dass sie sich über die Welt ausbreiten. Richten wir also jetzt die Aufmerksamkeit auf das Handeln Gottes: Was mag er sich gedacht haben, als er die Sprachen verwirrte und die Menschen in alle Länder zerstreute? Gottes Verhalten wird in der biblischen Geschichte mit einer gehörigen Portion Ironie beschrieben. Während die Menschen einen Turm bauen wollen, der bis an den Himmel reicht, muss Gott selbst sehr weit hinabsteigen, um zu sehen, was da unten eigentlich entsteht. Dann stellt er allerdings beeindruckt fest: Da ist ein Volk, eine Sprache, und ein Wille, die eigenen Vorstellungen auch in die Tat umzusetzen. Dann beschließt er, aus der Einheit eine Vielheit zu machen - mit dem Effekt, dass die Menschen das große Einheitsprojekt aufgeben und sich über den Globus verteilen: Also zerstreue sie der Herr von dort in alle Länder. Was die Menschen vermeiden wollten, erlegt er ihnen auf. Wozu? Von Strafe jedenfalls ist nirgendwo die Rede. Die Menschen haben sich ja auch nichts zuschulden kommen lassen. Hinter der Sprachverwirrung und der Zerstreuung muss also eine Absicht stecken. Welche? Erster Antwortversuch: Möglicherweise ist ja die eine Sprache den Menschen gar nicht zuträglich gewesen! Eine Sprache, ein Volk, ein Reich, ein Führer? Hinter der Einheit droht das Totale. Wir haben im zwanzigsten Jahrhundert erfahren, was ein totalitärer Wille anzurichten imstande ist. Vielleicht waren die Menschen, die einer Sprache und den gleichen Worten 3

gehorchten, so verschieden wie wir heute - und vielleicht war die Einheitssprache eher ein Mittel zur Gleichschaltung als zur Verständigung. Und wer ist Wir? Wir wollen uns einen Namen machen? Meist heißt das, dass sich einige auf Kosten anderer einen Namen machen. Auch das kennen wir: Damit die reine Einheit des Volkes gewährleistet werden kann, müssen die Störenfriede beseitigt werden. Zweiter Antwortversuch: Möglicherweise war auch das Titanenhafte des Stadt- und Turmbaus für die Menschen gar nicht gut. Das Überdimensionale ist das Unmenschliche. Albrecht Speers architektonische Pläne, die Berlin in Germania verwandeln sollten, lassen einen heute noch schaudern. Freilich, die Überdimensionierung des Menschen begegnet uns nicht nur in der Vergangenheit. Wer an den Baustellen Berlins vorbeigeht, wird von überdimensionalen Gesichtern angeblickt. Keine Götter-, sondern Menschenbilder. Aber eben doch als Ikonen ausgestellt, die auffordern, sich ihnen anzugleichen. Der überdimensionale Mensch im Zentrum: das tut nicht gut. Und so kann man die Geschichte vom Turmbau vielleicht auch als eine Geschichte der Dezentrierung des Menschen lesen. Das Zentrum soll leer bleiben für Gott - und dafür entstehen viele Orte lebendigen Austausches und des lebendigen Unterwegsseins. Dritter Antwortversuch: Möglicherweise hat Gott der Herr uns mit der Sprachverwirrung in eine Schule der Menschlichkeit geschickt. Vielleicht war die Sprachverwirrung geradezu ein Motor der Verständigung. Gerade weil wir wissen, dass Verstehen keine Selbstverständlichkeit ist, bemühen wir uns umso mehr um sie. Nur wenn sich jemand bemüht, uns zu verstehen, glauben wir, dass er uns wirklich versteht. Und gerade weil wir wissen, wie schwierig das ist, sind wir umso dankbarer für deren Gelingen. An den Schulen versuchen wir mühsam genug, die heranwachsende 4

Generation nicht nur für die eigene, sondern auch für fremde Sprachen zu sensibilisieren. Je mehr Sprachen es gibt, umso differenzierter kann sich der Mensch in seiner Wirklichkeit zurechtfinden. Mag es auch anstrengender sein, erst einmal eine fremde Sprache lernen zu müssen, bevor man sich verständigen kann, so liegt der heilsame Effekt doch darin, dass auf diese Weise der Respekt vor anderen gefördert wird. Vierter Antwortversuch: Der göttliche Akt der Sprachverwirrung hat auch für Sprachenreichtum gesorgt. Die Sprachen der Musik und der Kunst erschließen uns ganz eigene Welten. Ein Gedicht kann inspirieren und neue Gefühlsräume aufschließen. Die Sprachen der Religionen mühen sich darum, Gottes Stimme, seinen Ruf und sein Wort zu identifizieren. In seiner Schrift an die Ratsherren aus dem Jahre 1524 formuliert Martin Luther: Und lasst uns das gesagt sein, dass wir das Evangelium nicht wohl werden erhalten ohne die Sprachen. Wohlgemerkt: Sprachen. Letzter Antwortversuch: Vielleicht müssen wir die Begriffe Sprachverwirrung und Zerstreuung nur ins Licht der Geschichte Gottes mit den Menschen rücken - und schon wird aus der Verwirrung Vielfalt und Zerstreuung ein Unterwegssein zu Gott: eine Pilgerschaft. Viele Gaben und ein Geist - das war die Formel, mit der der Apostel Paulus die verwirrende Vielfalt frühchristlicher Lebensstile im Licht göttlicher Gnade ordnete. Ähnlich verhält es sich mit der Zerstreuung. Also zerstreute sie der Herr von dort in alle Länder heißt es in unserem Bibeltext. Das klingt ziemlich negativ. Liest man freilich weiter, dann stellt man überrascht fest, dass es mit der Zerstreuung keineswegs ein Ende hat - im Gegenteil. Nur wenige Verse nach der Turmbaugeschichte wird Abraham aufgefordert, seine Heimat und sein Vaterhaus zu verlassen. Mose 5

bekommt den Auftrag, den vierzigjährigen Zug durch die Wüste und weg von den Fleischtöpfen Ägyptens zu organisieren. Die Propheten fordern Um- und Abkehr von lieb gewordenen Gewohnheiten. Jesus verlangt, alles zu verlassen und ihm nachzufolgen. Bei Paulus wird der Gedanke der Zerstreuung mit dem der Mission verknüpft. Bis an die Enden der Erde sollen sich die Christen zerstreuen - aber nicht um zu vereinzeln und zu verzweifeln, sondern als Botschafter Jesu Christi. Wozu also hat Gott die Menschen verwirrt und zerstreut? Damit sie sich auf den Weg mit ihm machen und in aller Verwirrung und Zerstreuung das Reich Gottes suchen. Werfen wir einen letzten Blick auf die Turmbaugeschichte. Gute Geschichten haben den Hörern etwas zu sagen. Sie sorgen dafür, dass die Hörer zu ihr Stellung nehmen. Sie verlangen, dass man eine Lehre aus ihnen zieht. Welche Lehre können wir aus der Turmbaugeschichte ziehen? Nicht angemessen wäre eine romantische Sehnsucht nach dem urzeitlichen Zustand. Nicht die Rückkehr ins Paradies ist die christliche Hoffnung, sondern die mutige und offensive Verwandlung dieser Welt. Auch der Aufruf: Schön bescheiden bleiben! verpasst den theologischen Gehalt der Geschichte. Sie erschließt sich uns eigentlich erst dann, wenn wir uns klar machen, dass wir am Ende der Geschichte stehen. Der Umgang mit verwirrender Vielfalt und zuweilen mühsames Unterwegs sein in dieser Welt - das sind die unhintergehbaren Bedingungen, unter denen Menschen glauben. Mehr noch: Verwirrung und Zerstreuung machen den Auftrag, den wir in dieser Welt haben, überhaupt erst plausibel! Was sollte ein Missionsauftrag in einer Welt, in der es nichts arbeiten gäbe. Vielfalt kann immer in Zwietracht, Zerstreuung immer in Verlorenheit enden - unsere Aufgabe ist es, den Reichtum der Vielfalt und das die Hoffnung auf das Reich Gottes als Ziel der Zerstreuung wach zu halten. 6

Wenn Du durch die Hölle gehst, dann geh weiter! soll Winston Churchill gesagt haben. Christlich gewendet heißt das: Wenn wir leiden und wenn wir kämpfen müssen, dann wollen wir nicht verzweifeln, sondern unseren Weg in der Gewissheit gehen, dass wir von Gott nicht verlassen sind. Das Tor zu Gott befindet sich nicht in gesicherten Stadtmauern, sondern oft genug in der Bedrängnis und in der Bewährung. Wie die aus Babel Zerstreuten sind auch wir unterwegs - mit einem bestimmten Ziel. Wir sind auf dem Weg zum Reich Gottes. Die Zerstreuung schreckt uns nicht mehr, weil wir sie als einen Moment auf dem Weg hin zur letzten Einheit mit Gott begreifen. Sie ist nichts Endgültiges, sie ist etwas Vorläufiges. Das Reich Gottes ist in der Bibel ebenfalls als Stadt vorgestellt. Als eine Stadt, die freilich Gott selbst baut. Die er sich nicht nur anschaut, sondern in der er bleibt. Eine Stadt übrigens ohne Kirchen und Tempel. Die sind dann nicht mehr nötig, weil Gott selbst bei den Menschen wohnen wird. Da schaut Gott nicht nur mal vorbei und macht sich ein Bild, sondern er kommt und bleibt. Und er wohnt mit allen Völkern in seiner Stadt, in einer Stadt mit offenen Toren. Bis es so weit ist, steht uns der Heilige Geist bei - das ist die Botschaft von Pfingsten. Der Heilige Geist haust nicht in hohen Türmen und beeindruckenden Gebäuden. Nicht einmal unsere Kirchen - so schön sie sind - sind seine bevorzugte Wohnung. Ihr seid Gottes Tempel - sagt Paulus und der Kirchenvater Euseb meint, dass der eigentliche Tempel des Christen seine vernünftige Seele sei. O Heilger Geist kehr bei uns ein - und lass uns Deine Wohnung sein hieß es im Eingangslied. Der Heilige Geist wohnt am liebsten in jeden Einzelnen von uns. In uns will er wirken - unscheinbar und trotzdem effektiv. 7

Auch der Heilige Geist schenkt uns keine einheitliche Sprache. Und doch schenkt er uns etwas, das uns über alle Sprachverwirrung hinweg und durch alles Missverstehen hindurch mit der Menschheit und der gesamte Schöpfung vereint. Seine Geschenke lassen uns den Prozesscharakter der Wahrheit, das Fragmentarische unserer Verständigungsbemühungen und die Ungesichertheit unserer Existenz aushalten - gerade weil sie über uns selbst hinausweisen. Sie verweisen uns an die Zukunft und sie verweisen uns an unseren Nächsten. Die drei Geschenke des Heiligen Geistes, derer wir heute besonders gedenken, sind Glaube, Hoffnung und Liebe. Die Sprache tätiger Liebe versteht jeder - dazu braucht man keine besonderen Sprachkenntnisse. Glaube und Hoffnung verändern die Welt. Sie muss nicht so bleiben, wie sie ist. Die Geschichte vom Turmbau zu Babel ist nur der Anfang der Geschichte Gottes mit den Menschen, wir sind mitten in dieser Geschichte und dürfen, wenn auch nicht sicher, so doch gewiss sein, dass es am Ende auf die Gemeinschaft von Gott und Mensch hinausläuft. Das macht so manche Verwirrung und so manche Zerstreuung erträglich. Amen. 8