Informationen zur Raumentwicklung Heft 6/7.26 337 Zukünftige Sicherung der Daseinsvorsorge Wie viele Zentrale Orte sind erforderlich? Thomas Pütz Martin Spangenberg 1 Daseinsvorsorge und Zentrale Orte Gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Teilräumen des Bundesgebiets setzen eine flächendeckende Sicherung der Daseinsvorsorge zwingend voraus. Das seit langem bewährte raumordnerische Instrument, mit dem überörtlich die Leistungserbringung der Daseinsvorsorge in Infrastruktureinrichtungen räumlich organisiert wird, ist das Zentrale-Orte-Konzept. Im Raumordnungsgesetz des Bundes (ROG) sind sowohl die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in allen Teilräumen des Bundesgebiets ( 1 ROG) wie auch das Zentrale-Orte-Konzept fest verankert. Das zentralörtliche System liefert das Grundgerüst für eine dem Leitbild der dezentralen Konzentration folgende Ausrichtung der Siedlungsstruktur ( 2 Abs. 2 Satz 2 ROG) und die Bündelung von sozialer Infrastruktur ( 2 Abs. 2 Satz 4 ROG). Zentrale Orte sollen zusätzlich eine Rolle als Träger der Entwicklung im ländlichen Raum übernehmen ( 2 Abs. 2 Satz 6 ROG). Ihre Festlegung ist folgerichtig ein wesentlicher Inhalt der zu erstellenden Raumordnungspläne der Länder ( 7 Abs. 2 Satz 1b ROG). Raumordnungsklauseln in verschiedenen einschlägigen Fachplanungsgesetzen sollen sicherstellen, dass Infrastrukturstandorte oder -netze auch von Fachplanungsseite am zentralörtlichen System ausgerichtet werden. Der demographische Wandel, der sich regional unterschiedlich vor allem in Rückgängen sowie Überalterung der Bevölkerung vollzieht, stellt die flächendeckende Sicherung der Daseinsvorsorge vor eine gewaltige Herausforderung. Das betrifft zum einen das Kostenproblem der Versorgung mit stadttechnischer Infrastruktur bei rückläufigen Nutzerdichten (dies insbesondere dort, wo gleichzeitig eine disperse Siedlungsentwicklung zu einer kostentreibenden Entdichtung beiträgt). Zum anderen hängt die Tragfähigkeit von Infrastruktureinrichtungen an zentralen Orten stark von den Nachfragepotenzialen ihrer Einzugsbereiche ab, die aus ihrer räumlichen Verteilung und den jeweiligen regionalen Erreichbarkeitsverhältnissen hervorgehen. Denn Infrastruktureinrichtungen sind in der Regel betriebswirtschaftlich nicht in beliebig kleine Einheiten teilbar. Verstärkend kommen Konzentrationsprozesse im Zusammenhang mit der Privatisierung öffentlicher Leistungsangebote hinzu, wie etwa im Krankenhausbereich. Die Ministerkonferenz für Raumordnung (MKRO) hat zuletzt mit ihrem Beschluss vom 28. April 25 Sicherung und Weiterentwicklung der öffentlichen Daseinsvorsorge vor dem Hintergrund des demografischen Wandels 1 das System der Zentralen Orte als Grundgerüst zur Bewältigung regionaler Anpassungsprozesse bestätigt. Der aktuelle politische Prozess der Formulierung neuer Leitbilder und Handlungsstrategien für die Raumentwicklung in Deutschland 2 greift ebenfalls die Anpassung des Zentrale-Orte-Konzepts im Leitbildkomplex Sicherung der Daseinsvorsorge als künftigen Lösungsansatz zur Bewältigung des demographischen Wandels auf. Zur Diskussion stehen die Inhalte staatlicher Daseinsvorsorge, angemessene Mindeststandards und zumutbare Erreichbarkeiten als Grundlage konkreter Anpassungen des zentralörtlichen Systems in den Raumordnungsplänen der Länder. Das Zentrale-Orte-Konzept wird durch die Einbeziehung der Metropolregionen mit hoher Bedeutung für wirtschaftliches Wachstum und Entwicklung und durch flexible Angebotsformen von Leistungen der Daseinsvorsorge, etwa als temporär-mobile Dienstleistungen der Grundversorgung, erweitert. Diese neuen Organisationsformen können die zentralörtliche Versorgung gerade in dünn besiedelten Regionen mit starkem Bevölkerungsrückgang wirkungsvoll ergänzen. Hinsichtlich der Sicherung der Daseinsvorsorge ergibt sich die Fragestellung, inwiefern und in welchen Regionen das aktuell landesplanerisch ausgewiesene zentralörtliche System anpassungsbedürftig ist und welche Spielräume künftig für die Ausgestaltung eines auch langfristig tragfähigen, zentralörtlichen Versorgungsnetzes unter Wahrung angemessener Mindeststandards offen bleiben. Empirische Untersuchungen des BBR können hierzu Informationsgrundlagen bereitstellen. Thomas Pütz Martin Spangenberg Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung Deichmanns Aue 31 37 53179 Bonn E-Mail: thomas.puetz@bbr.bund.de martin.spangenberg@bbr.bund.de
338 Thomas Pütz, Martin Spangenberg: Zukünftige Sicherung der Daseinsvorsorge 2 Erreichbarkeitsmodellierung des zentralörtlichen Systems Das Spannungsverhältnis zwischen Erreichbarkeit von zentralen Orten und ihrer dauerhaften Tragfähigkeit ist Gegenstand von zwei räumlichen Analysen des BBR, deren Ergebnisse hier vorgestellt werden: zur Erreichbarkeit und Tragfähigkeit von Mittelund Oberzentren und zur Bestimmung optimaler Standorträume für zentralörtliche Funktionen und Einrichtungen. Sie beruhen auf der Verknüpfung des BBR-Erreichbarkeitsmodells 3 mit Ergebnissen der aktuellen regionalen Bevölkerungsprognose des BBR 4 und der laufenden Erfassung der landesplanerischen Ausweisungen von Zentralen Orten. Mittels Erreichbarkeitsmodellierungen lassen sich sowohl die Einhaltung von Erreichbarkeitsstandards für den motorisierten Individualverkehr in zentralörtlichen Ebenen prüfen wie auch zentralörtliche Einzugsbereiche zur Bestimmung ihrer Einwohnerpotenziale abgrenzen. Diese Analysen liefern kleinräumige Ergebnisse nicht nur aktuell, sondern genauso für künftig veränderte Bevölkerungsverteilungen gemäß der BBR-Bevölkerungsprognose. Raumbezug der Analysen sind die 4 844 Verbandsgemeinden 5 mit Gebietsstand 31.12.23. Ihre Siedlungsschwerpunkte bilden als räumliche Bezugspunkte mit ihrer Bevölkerung das im Raum verteilte Nachfragepotenzial ab. Gleichzeitig stellen sie das Untersuchungsraster der möglichen Kandidaten für zu identifizierende zentrale Standorträume 6 dar. Als Mittelpunkte zentraler Standorträume kommen im Rahmen der Analysen demnach nur Siedlungsschwerpunkte von Gemeinden/Verbandsgemeinden in Betracht. Erreichbarkeit und Tragfähigkeit von Mittel- und Oberzentren Das derzeit landesplanerisch festgelegte System der Mittel- und Oberzentren 7 ist Gegenstand der Erreichbarkeits- und Tragfähigkeitsanalysen des BBR, die jeweils aktuelle Erreichbarkeitsdefizite und künftige Tragfähigkeitsprobleme untersuchen. Die hierzu notwendigen Kriterien bzw. Schwellenwerte, die sich i. d. R. an Kataloge der MKRO aus den 196er bis 8er Jahren anlehnen, werden aus den Programmen und Plänen der Länder abgeleitet (Tab. 1). Erreichbarkeitsdefizite werden in Anlehnung an die landesplanerischen Vorgaben dort festgestellt, von wo aus mehr als 3 Minuten Pkw-Fahrzeit zur Erreichung des nächsten Mittelzentrums und/oder mehr als 6 Minuten Pkw-Fahrzeit zur Erreichung des nächsten Oberzentrums benötigt werden. Eine Gefährdung bzw. starke Gefährdung der Tragfähigkeit wird bei Mittelzentren dann angenommen, wenn sie bis 25 einen Bevölkerungsrückgang von mehr als 15 % bzw. mehr als 3 % verzeichnen und damit unter den Schwellenwert von 35 Einwohnern im Verflechtungsbereich geraten. Die Mittelzentren werden demnach auf die Tragfähigkeit in ihrem Verflechtungsraum (Abgrenzung nach den bestehenden Mittelbereichsabgrenzungen der Länder und eigenen Ergänzungen) untersucht. Oberzentren werden ebenfalls auf die Tragfähigkeit in ihrem Einzugsbereich (Abgrenzung nach der kürzesten Pkw-Fahrzeit) untersucht. Als in ihrer Tragfähigkeit gefährdet bzw. stark gefährdet werden die Oberzentren eingestuft, die bis 25 mit einem Bevölkerungsrückgang von mehr als 2 % bzw. mehr als 3 % zu rechnen haben und infolgedessen unter den Schwellenwert von 3 Einwohnern im Einzugsbereich liegen. Tabelle 1 Kriterien und Schwellenwerte der Erreichbarkeit/Tragfähigkeit von Zentralen Orten Zentrenebene Mindestbevölkerung Verflechtungsbereich Mindesterreichbarkeitsstandard (ÖV) Oberzentrum Oberbereich 2 3 9 min Mittelzentrum Mittelbereich 3 35 45 min Unter-, Grund- oder Kleinzentrum Nahbereich 7 1 3 min
Informationen zur Raumentwicklung Heft 6/7.26 339 Karte 1 Tragfähigkeit und Erreichbarkeit Zentraler Orte Karte 1 zeigt die Ausgangsituation: Sie transformiert die Ergebnisse der regionalen Bevölkerungsprognose auf das Standortraster der Mittel- und Oberzentren und veranschaulicht räumlich konkret die Auswirkungen des Bevölkerungsrückgangs (Karte 1). Die demographische Entwicklung führt demnach für eine Vielzahl von Mittel- und Oberzentren zu einer Gefährdung ihrer Tragfähigkeit. Dies betrifft insbesondere sehr dünn besiedelte Regionen mit starkem Bevölkerungsrückgang. Aber auch in Regionen mit einem sehr dichten Netz Zentraler Orte (vor allem auf der mittelzentralen Ebene) ist die Tragfähigkeit der Versorgungsbereiche in Zukunft häufig nicht mehr gesichert. Das derzeitige Zentrale-Orte-System erfüllt weitgehend die bei den hier vorgelegten Analysen bundesweit einheitlich zugrunde gelegten Mindeststandards der Erreichbarkeit von 3 bzw. 6 Minuten Pkw-Fahrzeit. Defizite beschränken sich in den alten Ländern auf Küsten- und Grenzlagen und können durch die Übernahme von Teilfunktionen durch niederrangige Zentrale Orte abgedeckt werden. In den neuen Ländern treten in der überlagernden Darstellung der Analyseergebnisse mehrere Problemräume deutlich hervor. Betroffen sind vor allem die Altmark, Uckermark, Prignitz und die Niederlausitz, wo bereits die derzeit vorhandenen zentralörtlichen Netze den angesetzten Erreichbarkeitsstandards nicht gerecht werden und die Zentren gleichzeitig in ihrer Tragfähigkeit gefährdet sind (ein Beleg dafür, dass die Formulierung von Standards die jeweiligen regionalen Besonderheiten berücksichtigen muss).
34 Thomas Pütz, Martin Spangenberg: Zukünftige Sicherung der Daseinsvorsorge Abbildung 2 Gesamtverkehrsaufwand in Abhängigkeit von der Zahl der Zentren Räumliche Verteilung und Tragfähigkeit zentraler Standorträume Aus raumordnungspolitischer Sicht gilt es, diejenigen Standorträume zu bestimmen, die mit dem geringstmöglichen Reisezeitaufwand und einer möglichst geringen Zahl von Standorten das gesamte Nachfragepotenzial bundesweit flächendeckend versorgen können. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Erreichbarkeit (in Richtung Dekonzentration zur Einhaltung von Erreichbarkeitsmindeststandards durch Ausweitung des zentralörtlichen Netzes) und Tragfähigkeit der Zentren (in Richtung Konzentration im Sinne einer Ausdünnung des zentralörtlichen Netzes und Verbesserung der Tragfähigkeit der Zentralen Orte) gilt es auszubalancieren. Wesentliche Eingangsgrößen der Erreichbarkeitsmodellierung sind die Anzahl der auszuwählenden Standorte und der maximal zu tolerierende Zeitaufwand für ihre Zugänglichkeit. Von diesen Modellparametern hängen das von jedem ausgewählten Standort im Einzugsbereich abgedeckte Nachfragepotenzial sowie der insgesamt notwendige Zeitaufwand zur Erreichung der Standorträume ab. Die Standortoptimierung wird in einem mehrstufigen Verfahren durchgeführt, beginnend mit der mittelzentralen Ebene. Auf der Basis von Erreichbarkeitsanalysen werden zunächst die am besten zur effizienten Versorgung der Bevölkerung mit mittelzentralen Funktionen geeigneten Standorträume ermittelt. Zwischen den oben genannten Einflussfaktoren und Messgrößen bestehen in der Modellierung wechselseitige Wirkungszusammenhänge (Abb. 2): Erhöht man die Anzahl der ausgewählten Standorte, verringern sich der insgesamt notwendige Zeitaufwand und der maximal notwendige Zeitaufwand der einzelnen ausgewählten Standorte zur Erreichung ihres Nachfragepotenzials. Entsprechend verringert sich aber auch das Nachfragepotenzial im Einzugsbereich und damit die Tragfähigkeit jedes einzelnen Standorts. Bei gleicher vorgegebener Anzahl der Standorte führt die Veränderung von Erreichbarkeitsmindeststandards zur einer anderen Verteilung der Standorte: Soll z. B. in den Versorgungsbereichen eine maximale Pkw-Fahrzeit von 3 oder 45 Minuten nicht überschritten werden, so führt das zu einer räumlich ausgeglichenen Verteilung der Standorte, die jedoch die Bevölkerungsschwerpunkte weniger stark berücksichtigt. Der insgesamt notwendige Zeitaufwand zur Erreichung aller Nachfragepotenziale wird so deutlich erhöht. In den Gesamtzeitaufwand geht jede einzelne Person mit dem zu ihrer Erreichung notwendigen Zeitaufwand ein. Bei Standortoptimierungen mit ansteigenden Zahlen der zu verteilenden Zentren sinkt der Gesamtverkehrsaufwand exponentiell, der Grenznutzen weiterer Zentren sinkt stetig (Abb. 3). Abbildung 3 Ablaufschema Standortoptimierung
Informationen zur Raumentwicklung Heft 6/7.26 341 Als wesentlicher Parameter für die Bestimmung mittelzentraler Standorträume wird die Einhaltung des Erreichbarkeitsmindeststandards von 3 Pkw-Minuten Fahrzeit vorgegeben. Diese Erreichbarkeitsschwelle bestimmt die erforderliche Zahl von Standorträumen. Ab einer Zahl von etwa 4 Standorträumen ist der 3-Minuten-Standard für die gesamte Bevölkerung erfüllt (Tab. 2). Tabelle 2 Standortoptimierung bei einem Erreichbarkeitsmindeststandard von 3 Minuten Pkw- Fahrzeit 5 1 15 2 25 3 35 4 45 5 Anzahl der Zentren Gesamt-Verkehrsaufwand in Mio. Personenminuten für das erreichte Nachfragepotenzial 1 63,7 1 348,2 1 447,5 1 45,5 1 445,7 1 281,2 1 215,6 1 178,2 1 137,1 1 87,4 Anzahl nicht erreichter Orte 2 955 1 719 1 15 56 187 6 22 Quelle: Erreichbarkeitsmodell des BBR nicht erreichte Nachfrage (Bevölkerung) 29 353 381 14 668 817 7 248 56 3 61 34 94 293 254 425 56 822 Innerhalb der Kandidaten (Verbandsgemeinden bzw. deren Hauptorte) können die derzeitigen Oberzentren gesetzt werden, d. h. die zentralen Orte oberster Stufe bilden das Grundgerüst für die Auswahl der optimierten mittelzentralen Standorträume, da davon ausgegangen werden kann, dass die aktuellen Oberzentren mindestens mit mittelzentralem Status erhalten bleiben. 3 Ergebnisse der Standortoptimierung Mittelzentrale Standorträume Die Anzahl der zur ausreichenden Versorgung bzw. zur künftigen Sicherung der Daseinsvorsorge notwendigen Mittelzentren lässt sich von derzeit über 9 auf rd. 4 mehr als halbieren. Die Einhaltung der bisherigen bundesweit einheitlichen Erreichbarkeitsmindeststandards bleibt dabei flächendeckend für alle Verbandsgemeinden gewahrt (vgl. Karte 2). Zu berücksichtigen sind regionale Besonderheiten, etwa aufgrund von Insellagen : Wegen des maximal zulässigen Zeitaufwands muss in vielen Fällen jede einzelne Insel mit einem eigenen Zentrum versorgt werden. Diese verfügen über nur sehr begrenzte Versorgungsbereiche und entsprechend geringe Einwohnerpotenziale (dies betrifft insgesamt 12 Inselzentren von Baltrum mit 495 bis Föhr mit 8 649 Einwohnern.). Lässt man die Inseln bei der Verteilung der mittelzentralen Standorträume (und damit auch bei der nachfolgenden Bestimmung der oberzentralen Standorträume) unberücksichtigt, reduziert sich die Zahl der erforderlichen Zentren für die Erreichung des gesamten Versorgungspotenzials (Bevölkerung) innerhalb der 3 Minuten Pkw-Fahrzeit auf 373. Da die Erreichbarkeitsanalysen auf der Ebene der Verbandsgemeinden operieren, die zum Teil eine sehr große Flächenausdehnung haben und damit auch hohe innergemeindliche Erreichbarkeitsunterschiede aufweisen, erscheint eine Zahl von 4 erforderlichen Zentren in der mittelzentralen Versorgungsstufe angemessen. Die Tragfähigkeit der einzelnen mittelzentralen Standorträume wird durch die Standortoptimierung und die wesentlich geringere Zahl von Mittelzentren erheblich verbessert: In der heutigen Situation ist bei rund 12 Mittelzentren die Tragfähigkeit von rund 35 Einwohner im Verflechtungsbereich gefährdet oder stark gefährdet, legt man die erwartete Bevölkerungsentwicklung bis 25 zugrunde (vgl. Karte 1). Nach der Standortoptimierung ist bei lediglich 23 mittelzentralen Standorträumen eine Gefährdung der Tragfähigkeit aufgrund der demographischen Entwicklung zu erwarten (vgl. Karte 2). Diese Standorträume bedürfen einer besonderen Stützung, da ihr Wegfall die ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit den mittelzentralen Angeboten innerhalb eines zumutbaren Erreichbarkeitsmaßes gravierend beeinträchtigen würde. Besonders hinsichtlich der ausreichenden Versorgung mit mittelzentralen Einrichtungen im Gesundheits-, Bildungs-, Sozial- und Kulturbereich (z. B. Krankenhaus der Grundversorgung, weiterführende Schulen, Einrichtungen der Erwachsenenbildung/Bibliotheken) erscheint ein Unterschreiten der Erreichbarkeitsmindeststandards nicht ohne weiteres hinnehmbar.
342 Thomas Pütz, Martin Spangenberg: Zukünftige Sicherung der Daseinsvorsorge Karte 2 Basisnetz zentraler Standorträume Oberzentrale Standorträume Analog zu den mittelzentralen Standorträumen werden auch die am besten geeigneten Standorträume für oberzentrale Funktionen ermittelt. Kandidaten sind nun die im ersten Optimierungslauf bestimmten mittelzentralen Standorträume. Auch hier kann eine kleine Gruppe von Städten mit mindestens 5 Einwohnern gesetzt werden, da davon auszugehen ist, dass Großstädte allesamt mit oberzentralen Funktionen ausgestattet sind und damit das Grundgerüst für die Auswahl der oberzentralen Standorträume bilden. Die Einhaltung des Erreichbarkeitsmindeststandards (max. 6 Pkw-Minuten Fahrzeit) bestimmt die Zahl der notwendigen oberzentralen Standorträume und deren Verteilung im Raum. Die Zahl der zur ausreichenden Versorgung notwendigen Zentren ließe sich demnach erheblich von rd. 12 auf etwa 9 verringern (vgl. Karte 2). Es erscheint vertretbar, eine geringe Abweichung vom Erreichbarkeitsmindeststandard im Fall der oberzentralen Standorträume in sehr dünn besiedelten Räumen, die zudem keinen geeigneten Standort für oberzentrale Funktionen aufweisen, zu tolerieren. Trotz der Reduzierung der oberzentralen Standorträume um rund ein Viertel und der Aufweichung der bisher definierten Schwellenwerte für die Mindesterreichbarkeit kann durch die optimierte Verteilung der Standorträume der Anteil der Bevölkerung, der in Räumen lebt, die die Erreichbarkeitsstandards nicht erreichen (Pkw-Fahrzeit zum nächsten Oberzentrum über 6 Minuten) um ein Viertel von 2,75 % auf 2,1 % gesenkt werden.
Informationen zur Raumentwicklung Heft 6/7.26 343 Ausgleichsräume In den Räumen, für die eine Nichteinhaltung der Erreichbarkeitsmindeststandards hingenommen wird (Ausgleichsräume), sind Maßnahmen anzustreben, die diese Benachteiligungen abmildern. Dies können einerseits erreichbarkeitsverbessernde Verkehrsprojekte sein, wie z. B. die A 39 Hamburg Braunschweig, die A 14 Magdeburg Schwerin, die A 38 Göttingen Halle, die A 6 Nürnberg Tschechien, die A 94 München Passau oder die B 87 Leipzig Torgau Lübben. Alternativ kann durch eine entsprechende Ausstattung der mittelzentralen Standorte in diesen Ausgleichsräumen eine Anpassung an diese besonderen Erfordernisse erfolgen. Das Kriterium der Tragfähigkeit von rund 3 Einwohnern im Verflechtungsbereich kann durch die optimierte Standortwahl für nahezu alle oberzentralen Standorträume erfüllt werden, legt man die Bevölkerungsentwicklung bis 25 zugrunde. Bei den beiden verbleibenden Unterschreitungen dieses Schwellenwerts handelt es sich um Grenzlagen (Frankfurt/O. und Emden). Hier könnten möglicherweise grenzüberschreitende Verflechtungsbereiche und/oder Kooperationen die Tragfähigkeit der oberzentralen Standorträume verbessern. Zukünftig könnten auch den Oberzentren vergleichbare Städte im benachbarten Ausland in zunehmendem Maße Versorgungsfunktionen für unterversorgte Räume in Deutschland übernehmen. Dies ist eine Option für die oberzentrale Ebene der Versorgung mit Leistungen des spezialisierten, höheren Bedarfs vor allem im Bereich Handel, Wirtschaft und öffentliche und private Dienstleistungen. Unter Berücksichtigung der erreichbaren ausländischen Zentren sinkt der Anteil der Bevölkerung in Räumen mit Erreichbarkeitsdefiziten, also Pkw-Fahrzeit zum nächsten Oberzentrum über 6 Minuten, von 2,1 % auf 1,8 %. Für die mittelzentrale Ebene mit ihren Schwerpunktfunktionen im Gesundheits-, Kultur-, Sozial- und Bildungsbereich ist die Leistungserbringung über Staatsgrenzen hinweg von geringerer Bedeutung. 4 Fazit Vor dem Hintergrund des demographischen Wandels und knapper öffentlicher Kassen müssen neue Strategien für eine dezentrale Konzentration entwickelt werden. Dies schließt eine Überprüfung des in den Wachstumsphasen geschaffenen zentralörtlichen Systems hinsichtlich der Mindeststandards der Erreichbarkeit, differenzierter Ausstattungskataloge und seiner Tragfähigkeit ein. Anpassungserfordernisse zeichnen sich heute bereits insbesondere in dünn besiedelten Räumen und/oder Räumen mit Entleerungstendenzen ab. Insbesondere wenn mit der Anpassung des Zentrale-Orte-Systems eine Reduzierung der Anzahl der Zentralen Orte verbunden ist, können Erreichbarkeitsanalysen und Standortoptimierungsverfahren dazu beitragen, geeignete Standorträume zur Bündelung von Infrastruktur auszuwählen, um die Bereitstellung von kultureller, sozialer und technischer Infrastruktur in Umfang und Qualität ausreichend zu sichern. GIS-basierte Standortoptimierungsverfahren sind in der Transportlogistik oder bei der Planung einzelner öffentlicher Infrastruktureinrichtungen gebräuchlich. Bei der Anwendung für das komplexe Standortkonzept der Zentralen Orte ist zu berücksichtigen, dass es sich dabei um ein System mit starren, historisch gewachsenen Strukturen handelt, basierend auf den sehr unterschiedlichen Ausweisungspraxen der Länder. Die kartographisch präsentierte Vorstellung einer zentralörtlichen Mindestversorgung, die auf nachvollziehbaren, bundesweit vergleichbaren Modellierungen beruht, bietet Anhaltspunkte für die räumliche Dimension der Bewältigung von Anpassungserfordernissen hinsichtlich der Erreichbarkeit und Tragfähigkeit von Zentren. Darüber hinaus gilt es, das Zentrale-Orte- Konzept grundsätzlich durch eine flexiblere Handhabung und auf Basis neuer Angebotsund Kooperationsformen weiterzuentwickeln. Alternative und neue organisatorische Formen der Leistungserbringung der öffentlichen Daseinsvorsorge (z. B. mobile Dienste, Online-Dienste) können helfen, insbesondere in dünn besiedelten Regionen mit starkem Bevölkerungsrückgang eine bedarfsgerechte Versorgung zu sichern.
344 Thomas Pütz, Martin Spangenberg: Zukünftige Sicherung der Daseinsvorsorge Anmerkungen (1) Sicherung und Weiterentwicklung der öffentlichen Daseinsvorsorge vor dem Hintergrund des demographischen Wandels. Beschluss der 32. Ministerkonferenz für Raumordnung am 28. April 25 in Berlin (www.bmvbw.de/anlage/ original_931797/beschluss-zur-sicherung-und- Weiterentwicklung-deroeffentlichen-Daseinsvorsorge-28.4.25.pdf) (2) Leitbilder und Handlungsstrategien für die Raumentwicklung in Deutschland Diskussionspapier (1.9.25) (www.bbr.bund.de/ raumordnung/ raumentwicklung/download/diskussionspapier_25-9-1.pdf) (3) Das BBR betreibt ein Erreichbarkeitsmodell für Analysen vielseitiger raumordnerischer Fragestellungen. Es dient der Berechnung von kleinräumig regionalisierten Erreichbarkeitsindikatoren, für Versorgungsgradanalysen oder Regionsabgrenzungen, die auf der Ermittlung von Fahrzeiten/Reisezeiten von und zu raumbedeutsamen Einrichtungen oder Orten beruhen. Das Modell basiert auf einem feinmaschigen, digitalen Straßennetzmodell für Deutschland und Europa (inklusive Fährverbindungen). Die damit verknüpften Teilnetzmodelle des Schienenund Luftverkehrs decken zusätzlich wichtige Bereiche des Öffentlichen Verkehrs ab. Über ein Routensuchverfahren lassen sich zwischen beliebigen Bezugspunkten im Raum Reisezeitmatrizen berechnen. Dabei werden die zeitlich schwankenden Verkehrsströme vernachlässigt, die genauere Verkehrsmodelle durch die Verkehrsumlegung abbilden. Die modellierten Reisezeiten stellen also lediglich den frei fahrenden motorisierten Individualverkehr bzw. im Öffentlichen Verkehr den fahroder flugplangemäßen Verkehr dar. Über die Zuordnung von Geschwindigkeitsprofilen zu den Elementen des Straßennetzes, von schnellen Bundesautobahnen bis langsamen Stadtstraßen, werden allerdings siedlungsstrukturelle Unterschiede der durchschnittlichen Netzbelastungen berücksichtigt. (4) Die flächendeckende kleinräumige Bevölkerungsprognose für Deutschland ist das zentrale Teilmodell im System der Raumordnungsprognose des BBR. Ausgehend von gesetzten Annahmen, die die Bevölkerungsbewegungen der Geburten und der Sterbefälle, der Zuzüge und der Fortzüge bestimmen, wird die Bevölkerung in den Kreisen der Bundesrepublik Deutschland für einen Prognosehorizont von zumeist zwanzig Jahren fortgeschrieben. In zusätzlichen Modellrechnungen werden einige ausgewählte demographische Eckwerte bis maximal in das Jahr 25 geschätzt. (5) Mit Verbandsgemeinden wird die Ebene der Gemeinden und Gemeindeverbände bezeichnet (z. B. Ämter in Schleswig-Holstein, Samtgemeinden in Niedersachsen, Verbandsgemeinden in Rheinland-Pfalz, Verwaltungsgemeinschaften in Baden-Württemberg). (6) Zu Clustern zentralörtlicher Funktionen siehe: Blotevogel, H. H. (Hrsg.): Fortentwicklung des Zentrale-Orte- Konzepts. Hannover 22. = ARL-Forsch.- und Sitzungsberichte, Bd. 217 (7) Ein Mittelzentrum dient der Versorgung mit Gütern und Diensten des gehobenen Bedarfs, ein Oberzentrum der Deckung des spezialisierten, höheren Bedarfs an Gütern und Dienstleistungen über den eigenen Ort hinaus