Klassikerseminar: Karl R. Popper Popper vs. Kuhn (Zusammenfassung zum )

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Transkript:

TU Dortmund, Wintersemester 2011/12 Institut für Philosophie und Politikwissenschaft C. Beisbart Klassikerseminar: Karl R. Popper Popper vs. Kuhn (Zusammenfassung zum 9.1.2012) 1 Einführung Neben Popper ist T. S. Kuhn einer der bekanntesten Wissenschaftsphilosophen des 20. Jahrhunderts. Heute wollen wir Poppers Wissenschaftsphilosophie mit der von Kuhn kontrastieren und eine Kontroverse zwischen Popper und Kuhn kennenlernen und diskutieren. 2 Die Wissenschaftsphilosophie von T. S. Kuhn Textgrundlage: Auszüge aus Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, vor allem Kapitel I (Kuhn 1976). 1. Ziel des Buches, oder Essays, wie Kuhn auch sagt, ist es, ein neues Bild von Wissenschaft zu entwerfen. Quelle dieses neuen Bildes soll vor allem die Wissenschaftsgeschichte und die Wissenschaftsgeschichtsschreibung sein (15, 18). 2. Kuhn zufolge sind seine Zeitgenossen in einem bestimmten Bild von Wissenschaft gefangen (15). Dieses Bild entstamme einzelwissenschaftlichen Lehrbüchern (etwa Chemie-Lehrbüchern). Dem Bild zufolge gehe Wissenschaft in den Lehrbüchern genannten Beobachtungen, Theorien und Methoden auf. Die zeitliche Entwicklung erscheine dann als eine Anhäufung von Wissen (kumulatives Modell, von lat. cumulus, Haufen). Wissenschaft könne man sich dann wie einen kontinuierlich anwachsenden Haufen vorstellen (16). 3. Kuhn zufolge ist es jedoch gefährlich anzunehmen, das Bild, das Lehrbücher von der wissenschaftlichen Entwicklung zeichnen, sei angemessen. Denn Lehrbücher haben ja nicht den Zweck, die Wissenschaftsgeschichte möglichst detailgetreu wiederzugeben, sondern sie sollen den Leser von bestimmten einzelwissenschaftlichen Ergebnissen überzeugen (15). 4. Wie Kuhn bemerkt, reicht es nicht, einfach Wissenschaftsgeschichte zu betreiben, um zu einem neuen Bild von Wissenschaft zu gelangen. Denn die Wissenschaftsgeschichte muss auch richtig betrieben werden. Auch mit dem alten Bild von Wissenschaft sei eine gewisse Form von Wissenschaftsgeschichtsschreibung assoziiert. Nach dem alten Bild von Wissenschaft hat die Wissenschaftsgeschichtsschreibung vor allem zwei Aufgaben: 1. Sie soll aufzeichnen, wer was wann entdeckte (und damit dem Haufen hinzufügte). 2. Sie soll wiedergeben, welche Widerstände (Irrtum, Aberglaube etc.) sich dem Wachsen des Haufens entgegenstellten, und so erklären, warum der Haufen nicht schneller wuchs (16). 5. Nach Kuhn scheiterte aber eine Wissenschaftsgeschichtsschreibung, die auf dem Haufenmodell basierte, bei ihren Aufgaben. Die erste Aufgabe ließ sich nicht 1

bewältigen, da sich die Vorstellung, bestimmte Entdeckungen seien zu einem bestimmten Zeitpunkt gemacht worden, bei näherem Hinsehen nicht halten ließ. Die zweite Aufgabe erwies sich nach Kuhn insofern als unrealistisch, als sie eine klare Trennung von Irrtum und Erkenntnis voraussetze, die aber in Praxis unhaltbar sei (16). Die Wissenschaftsgeschichtsschreiber würden entdecken, dass Theorien, die wir heute ablehnten, in ihrem Kontext nicht weniger wissenschaftlich erschienen als unsere heutigen Theorien. Es ergeben sich daher zwei Möglichkeiten, heute als veraltet angesehene Theorien etc. zu beschreiben: Entweder man beschreibt sie als Mythen. Dann müsse man aber zugeben, dass zwischen Mythen und unserer heutigen Wissenschaft kein wirklicher Unterschied bestehe. Oder aber man zähle diese Theorien auch zur Wissenschaft. Dann müsse man allerdings eingestehen, dass wissenschaftliches Forschen zu ganz unterschiedlichen Resultaten führen könne. Zwei Theorien könnten beide wissenschaftlich sein, obwohl sie einander widersprächen (16 17). Kuhn entscheidet sich letztlich für die zweite Beschreibungsweise. 6. Damit gelangt aber auch das Haufen-Modell an seine Grenzen. Denn wenn wir heute in der Wissenschaft von Theorien ausgehen, die Theorien widersprechen, die man früher für wahr hielt, dann kann man nicht sagen, Wissenschaft sei wie ein Haufen, zu dem andauernd neues Wissen hinzuaddiert wird. Vielmehr hat sich Wissenschaft auch insofern geändert, als früher Hypothesen für wahr gehalten wurden, die heute nicht mehr als wahr gelten. Im Bild des Haufens wurde also manchmal etwas vom Haufen abgetragen und ersetzt. Vielleicht wurde der Haufen sogar manchmal über den Haufen geworfen. 7. Kuhn zufolge kam es in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung zu einer Revolution. Es setzte sich eine neue Herangehensweise durch. Als Beispiel nennt Kuhn A. Koyré. Die neue Wissenschaftsgeschichtsschreibung versucht, die Wissenschaft vergangener Zeiten nicht im Vergleich zu unseren heutigen Theorien, sondern im historischen Kontext zu verstehen. Sie legt ein principle of charity zugrunde, demzufolge die Hervorbringungen bestimmter Wissenschaftler so zu interpretieren sind, dass sie möglichst kohärent erscheinen (17). 8. Zielsetzung von Kuhn ist es wie gesagt, die Konsequenzen einer erneuerten Wissenschaftsgeschichtsschreibung für unser Bild der Wissenschaft freizulegen (18). 9. Kuhn lenkt also den Blick auf die Geschichte der Wissenschaften ( historic turn ). Kurz gesagt behauptet Kuhn, dass wir Wissenschaft nur dann richtig verstehen, wenn wir sie uns konkret ansehen, wie sie sich in der Geschichte manifestiert. Die logischen Positivisten hatten Wissenschaft eher ahistorisch betrachtet und die Wissenschaftsgeschichte nicht im Detail studiert. 10. Wie verändert sich nun unser Bild von Wissenschaft, wenn wir uns Kuhn anschließen? Kuhn macht einige Vorausdeutungen auf sein Buch. 11. Als erstes erwähnt Kuhn die Einsicht, dass wissenschaftliche Methoden nicht die Ergebnisse eines Wissenschaftlers determinieren. Wenn man unterschiedliche Wissenschaftler die Aufgabe geben würde, in wissenschaftlicher Art einen bestimmten Gegenstand zu untersuchen, dann kämen die Wissenschaftler nicht mit denselben Ergebnissen zurück. Unterschiedliche Wissenschaftler hätten unterschiedliche Ausbildungen, Erfahrungen, Vorlieben etc. und würden sich auf andere Aspekte konzentrieren. Daraus folgt, dass wissenschaftliche Ergebnisse auch ein Produkt 2

menschlicher Subjektivität sind; es gibt ein Element von Willkür (19). Wissenschaft ist nicht einfach Erfahrung plus Logik, wie die Positivisten meinten; es kommt mindestens ein Moment menschlicher Subjektivität hinzu. 12. Das heißt aber nicht, dass jeder Wissenschaftler seine eigene Meinung hat. Kuhn geht vielmehr davon aus, dass Wissenschaft Gruppenbildung voraussetzt, und diese Gruppen, in denen Wissenschaftler arbeiten, teilen wichtige Überzeugungen. Welche das sind, wird auch durch Gruppenprozesse bestimmt. Die Überzeugungen der Gruppe leiten dann die weitere Forschung und werden oft verteidigt. Wissenschaftler versuchen, Phänomene eines bestimmten Bereiches in ein vorgefertigtes Schema zu pressen (19 20). 13. Allerdings kann es dazu kommen, dass sich die Überzeugungsbasis einer Gruppe als unfähig erweist, mit bestimmten Problemen zu konfrontieren. Dann kann es zu einer wissenschaftliche Revolution kommen. In einer wissenschaftlichen Revolution wird die Grundlage, auf der eine Gruppe von Forschern gearbeitet hat, revidiert und verändert (20). 14. Den Begriff der wissenschaftlichen Revolution übernimmt Kuhn. So sprach man schon vor Kuhn von der Kopernikanischen Revolution, in der das ptolemäische Weltbild durch das kopernikanische ersetzt wurde (20). Kuhn erweitert jedoch den Begriff der Revolution. Nach Kuhn gibt es auch viele kleine Revolutionen; als wissenschaftliche Revolution gilt nicht nur, was früher als solche bezeichnet wurde, sondern Kuhn spricht auch von Revolutionen, wenn eine wichtige Theorie durch eine neue, andere Theorie ersetzt wird (21). 15. Die großen wissenschaftliche Revolutionen (Kuhn nennt als Beispiele die Kopernikanische Revolution, die Revolution, die Newton mit seiner Mechanik erzeugte, die Neugestaltung der Chemie durch Lavoisier und die Ersetzung der Newtonschen Mechanik durch die Relativitätstheorien durch Einstein) beschreibt Kuhn mit dramatischen Worten: Er behauptet, dass sich auch die Maßstäbe fachwissenschaftlicher Forschung änderten und dass es zu einer Umwandlung der Welt kam (21). 16. Auch im Rahmen einer kleinen Revolution ändert sich nicht nur eine Theorie. Kuhn geht vielmehr davon aus, dass andere wissenschaftliche Ergebnisse theorieabhängig sind und sich ebenfalls mit einer Theorie ändern (22). 17. Nach Kuhn folgt die Wissenschaft in ihrer Entwicklung einer bestimmten Dialektik: Es gibt traditionsgebundene und traditionszerstörende Tätigkeiten (20). Näherhin unterscheidet Kuhn zwei wichtige Typen von Phasen einzelwissenschaftlicher Forschung: Normalwissenschaft (traditionsgebunden) und Revolution (traditionszerstörend). 18. Nach einem kurzen Vorausblick auf die Kapitel des Buches widmet sich Kuhn einem Einwand (23 f.). Dem Einwand zufolge ist fraglich, wie wissenschaftsgeschichtliche Forschung wissenschaftsphilosophische Konsequenzen haben soll (denn um solche geht es Kuhn letztlich). Denn Wissenschaftsgeschichte sei deskriptiv, Philosophie aber normativ; in der Wissenschaftsgeschichte gehe es um den context of discovery, in der Wissenschaftsphilosophie um den context of justification. Kuhn setzt dem entgegen, dass sich die Unterscheidung der beiden Perspektiven bei näherer Betrachtung nicht aufrechterhälten lässt. Er behauptet außerdem, dass 3

die Unterscheidung zwischen context of discovery und context of justification keine neutrale methodologische Regel ist, sondern bestimmte Antworten auf Fragen, die sich im Zusammenhang der Wissenschaftsphilosphie stellen, vorgibt. 19. Die traditionsgebundene Wissenschaft heißt nach Kuhn Normalwissenschaft. Def. Normalwissenschaft: Normalwissenschaft ist eine Art von Forschung, die fest auf einer oder mehreren wissenschaftlichen Leistungen der Vergangenheit beruht, Leistungen, die von einer wissenschaftlichen Gemeinschaft eine Zeitlang als Grundlagen für ihre weitere Arbeiten anerkannt werden. (25). Diese Leistungen werden oft in Lehrbüchern tradiert. 20. Def. Paradigma bei Kuhn (Pural: Paradigmata, Paradigmen): Eine wissenschaftliche Leistung, die zwei Eigenschaften aufweist: a. Die Leistung ist neuartig, so dass sich ihr eine Gruppe von Wissenschaftlern zuwendet. b. Die Leistung lässt Raum für weitere Forschungen (25). 21. Warnung 1: Der Kuhnsche Begriff des Paradigmas ist nicht mit dem alltagssprachlichen Begriff des Paradigmas identisch: Im Alltag ist ein Paradigma ein musterhaftes Beispiel; Kuhn sagt, dieses Beispiel lasse sich schematisch auf neue Fälle übertragen. Im Kuhnschen Sinne von Paradigma gilt das jedoch nicht (37). 22. Warnung 2: Kuhn erweitert den Paradigmenbegriff später implizit. Zum Beispiel enthalte ein Paradigma Annahmen darüber, woraus die Welt wirklich besteht, und methodologische Zielsetzungen und Leitlinien. Der Paradigmenbegriff bei Kuhn schillert daher. Das ist ein oft genannter Kritikpunkt an Kuhn. 23. Die Begriffe des Paradigma und der Normalwissenschaft sind offenbar miteinander verwandt (26): Die Grundlage, auf der normalwissenschaftliche Forschung beruht, wird durch ein Paradigma geliefert. Umgekehrt füllt die Normalwissenschaft den Raum, den ein Paradigma eröffnet. 24. Beispiele für Paradigmata: Die Leidener Flasche, Newtons Leistung in der Optik (Korpuskularoptik); Maxwells theoretische Beschreibung elektromagnetischer Phänomene durch seine Feldgleichungen. 25. Beispiele für normalwissenschaftliche Traditionen: Ptolemäische Astronomie, Kopernikanische Astronomie, Korpuskularoptik (25). 26. Für Kuhn sind Paradigmen und nicht Theorien Kristallisationspunkte normalwissenschaftlicher Forschung (26). 27. In Kapitel 3 beschreibt Kuhn, wie normalwissenschaftliche Forschung im Detail aussieht. Grundgedanke: Die normale Wissenschaft besteht in der Verwirklichung jener Verheißung [auf Erfolg], einer Verwirklichung, die durch Erweiterung der Kenntnis der vom Paradigma als besonders aufschlussreich dargestellten Fakten, durch Verbesserung des Zusammenspiels dieser Fakten mit den Voraussetzungen des Paradigmas sowie durch weitere Artikulierung des Paradigmas herbeigeführt wird. (38). Kuhn nennt normale Wissenschaft Aufräumarbeit (38) und schreibt: Bei näherer Untersuchung, sei sie historisch oder im modernen Labor, erscheint dieses Unternehmen [normalwissenschaftliches Aufräumen] als Versuch, die Natur in die vorgeformte und relativ starre Schublade, welche das Paradigma darstellt, hineinzuzwängen. In keiner Weise ist es das Ziel der normalen Wissenschaft, neue Phänomene zu finden [...] (38). 4

28. Vergleich: Normale Wissenschaft wie Rätsellösen ( puzzle solving ; dabei ist etwa an Kreuzworträtsel zu denken, 50). Hinsichten des Vergleichs: a. Wer ein Rätsel zu lösen versucht, der nimmt an, dass es eine Lösung gibt, nicht aber notwendig, dass das Rätsel wichtig ist (51). Wer ein Rätsel nicht lösen kann, sucht den Fehler zuerst bei sich; analog gibt der Normalwissenschaftler sein Paradigma nicht auf, sondern sucht zunächst bei sich nach Fehlern. b. Das Rätsel ist durch Regeln definiert (im Falle der normalen Wissenschaft ergeben sie sich aus dem Paradigma). 29. Nachteil: Normale Wissenschaft ist zwar durch das Paradigma beschränkt, dadurch ist aber eine Konzentration möglich, die zu Erfolgen (Kuhn nennt Tiefe und Genauigkeit) führt, die es ohne normale Wissenschaft nicht geben würde (38). 30. Zum Typ des Normalwissenschaftlers: Er ist nicht offen für Neues, sondern eher darauf aus, ein angestammtes Paradigma zu stärken. 31. Wenn es viele Probleme gibt, ein Pardigma anzuwenden, kommt es jedoch zur Krise und dann evtl. zu einer wissenschaftlichen Revolution. Wissenschaftliche Revolution bei Kuhn ist ein Paradigmenwechsel. Dieser vollzieht sich nicht rein rational oder durch Argumente, vielmehr reden die Vertreter unterschiedlicher Paradigmen notwendig aneinander vorbei. Grund: Das Paradigma ist sehr grundlegend, legt erst die Ziele einer einzelwissenschaftlichen Disziplin und die Maßstäbe, an die sich Wissenschaftler richten müssen, fest. Um zwei Paradigmen vergleichen zu könnne, müsste man außerparadigmatische Maßstäbe haben, aber die gibt es nach Kuhn zu wenig. 3 Ein kurzer Vergleich zwischen Popper und Kuhn 1. Es gibt eine fundamentale Gemeinsamkeit zwischen den Wissenschaftsphilosophien von Kuhn und Popper: Beide lehnen der Sache nach ein kumulatives Modell der Wissenschaftsgeschichte ab. Idee: In der Wissenschaft erweisen sich immer wieder mal Theorien als obsolet, es kommt zu neuen Theorien. Popper: Gang der Wissenschaft grob: Erfindung von Theorie, Falsifikation, neue Theorie. Kuhn: Wissenschaftliche Revolutionen führen zu Paradigmawechsel. 2. Bei Popper gibt es jedoch kein Analogon zu Kuhns Normalwissenschaft (s.u.). 3. Popper betont die Objektivität der Wissenschaft; Kuhn macht dagegen geltend, dass Paradigmenwechsel nicht immer rein rational ablaufen. Allerdings betont auch Popper letztlich die wichtige Rolle des bloß faktischen Konsenses. 4. Popper unterscheidet methodologisch den context of justification und den context of discovery und beschränkt sich auf ersteren. Kuhn behauptet, dass sich die beiden Kontexte/Perspektiven nicht trennen lassen. 4 Kuhns Kritik an Popper Kuhn (der jünger als Popper ist) hat im Schilpp-Band über Popper seine und Poppers Wissenschaftsphilosophie verglichen und Popper kritisiert (Kuhn 1974). Popper hat darauf geantwortet (Popper 1974). Dazu Referat. Hier nur ein paar Stichpunkte. 5

1. Ziel von Kuhn: Vergleich mit Popper. Kuhn hebt anfangs einige Gemeinsamkeiten mit Popper hervor, denkt aber, dass ein sog. Gestalt switch zwischen Popper und Kuhn liegt; beide sehen die Dinge grundlegend anders, obwohl sie im Detail übereinstimmen. Daher Methode: Herausgreifen von einigen Formulierungen, z.b. metaphorischer Art bei Popper und Diskussion. 2. Kuhn kritisiert Poppers Ansicht, dass Wissenschaft darin besteht, dass Wissenschaftler Sätze aufstellen, die dann falsifiziert werden. Kuhn: Überprüfung ist wesentlich, aber nicht eine der fundamentalen Hypothesen, sondern eher von besonderen, ergänzenden Hypothesen. Ein Paradigma, eine Theorie wird in der Regel vorausgesetzt. Das ist das Wesen der Normalwissenschaft. Popper setze letztlich Wissenschaft mit rev. Wissenschaft gleich und vernachlässige die Normalwissenschaft, die den größten Teil der wissenschaftlichen Arbeit ausmache. Damit werde auch Poppers Abgrenzungskriterium schief: Nicht der Falsifikationsversuch sei entscheidend, sondern das Rätsellösen. Beispiel Astrologie: Popper und Kuhn sind sich einig, dass es sich um eine Pseudowissenschaft handelt. Aber Poppers Ausgrenzung funktioniert nach Kuhn nicht, da es Versuche gegeben habe, Vorhersagen zu machen. Das Problem ist nach Kuhn vielmehr, dass fehlgeschlagene Versuche nicht konstruktiv genutzt werden konnten (im Sinne des Puzzel-Lösens, I). 3. Kuhn greift Poppers Aussage auf, wir lernten aus Fehlern. Damit ist bei Popper gemeint, dass falsche Theorien falsifiziert werden. Nach Kuhn handelt es sich dabei nicht um Fehlerelimination. Denn Fehler gebe es nur, wo es klar definierte Regel gebe, also unter dem Dach eines Paradigmas, d.h. in der Normalwissenschaft. Diese Kritik führt Kuhn zu dem fundamentaleren Kritikpunkt, dass Popper die wissenschaftliche Revolution und die Falsifikation als Fehlerelimination und damit letztlich als Regelanwendung interpretiert (II). 4. Kuhn kritisiert, dass Popper das Verwerfen von Theorien als Widerlegung darstellt, die logisch untersucht wird. Nach Kuhn gibt es keine strikte Widerlegung in der emp. Wissenschaft, u.a. wegen Hilfshypothesen. Popper sehe das Problem zwar, löse es aber nicht und bleibe naiver Falsifikationist. Nach Kuhn ist es weder gängig noch nützlich, eine Theorie, gegen die Evidenz spricht, aufzugeben. Grund: Eine Theorie lässt sich in der Regel gar nicht so darstellen, wie Popper das fordert. Beispiel: Weiße Schwäne und ein schwarzer Schwan. Nach Kuhn ist der Begriff des Schwanes gar nicht so genau spezifiziert, dass man sagen könnte, man habe einen schwarzen Schwan gefunden (III). 5. Frage: Wie kann man wissenschaftlichen Fortschritt erklären? Popper: Logik, objektiv; Kuhn: durch Psychologie; subjektive Faktoren. Kuhn findet bei Popper Elemente, die er moralisch nennt; er findet sie subjektiv. Zur Antwort Poppers: Popper räumt ein, die Normalwissenschaft übersehen zu haben, hält diese zwar für ein Faktum, aber ein gefährliches; Normalwissenschaftler seien bemitleidenswert, Opfer einer dogmatischen Erziehung. Popper wirft Kuhn einen Relativismus vor, nämlich die Auffassung, dass sich unterschiedliche Theorien nur vor dem Hintergrund eines gemeinsamen Rahmens vergleichen ließen ( myth of the framework ). Popper lehnt den Relativismus ab. 6

Literatur Kuhn, T. S., Logik der Forschung oder Psychologie der wissenschaftlichen Arbeit?, in: Kritik und Erkenntnisfortschritt (Lakatos, I. & Musgrave, A., eds.), Vieweg, Braunschweig, 1974, pp. 1 23. Kuhn, T. S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1976, zweite Auflage. Popper, K. R., Die Gefahren der Normalwissenschaft, in: Kritik und Erkenntnisfortschritt (Lakatos, I. & Musgrave, A., eds.), Vieweg, Braunschweig, 1974, pp. 51 59. 7