Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung im Erwachsenenalter Klinik

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Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung im Erwachsenenalter Klinik Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), die durch Aufmerksamkeitsstörungen, Impulsivität, einem dem Alter nicht entsprechenden Maß motorischer Unruhe/Hyperaktivität und häufig auch Symptomen der affektiven Dysregulation im Sinn von Stimmungseinbrüchen, Anspannung und Wutausbrüchen gekennzeichnet ist, wurde lange Zeit als eine Störung des Kindes- und Jugendalters angesehen und gilt mit einer Prävalenz von 5 8 % in dieser Altersgruppe als eine der häufigsten kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen. Die erste wissenschaftliche Störungsbeschreibung erfolgte bereits 1902 durch George Still, der in der Fachzeitschrift Lancet eine Kohorte von trotz ausreichender elterlicher Fürsorge leicht erregbaren, schwer zu steuernden und motorisch unruhigen Jungen beschrieb, und aus der Kombination von intakten Umweltbedingungen und deviantem Verhalten folgerte, dass die beschriebene Verhaltensauffälligkeit biologische, auf minimalen Veränderungen von Gehirnstrukturen und -funktionen beruhende Ursachen haben müsse und nicht das Resultat mangelnder Beaufsichtigung und pädagogischer Lenkung sein könne (Still, 1902). Aufgrund dieser Bewertung, die von den damaligen medizinischen Fachkreisen übernommen wurde, rückte die dargestellte Verhaltensstörung 3

Einführung aus dem Bereich der Charakterschwäche in den Bereich der Medizin und wurde ab diesem Zeitpunkt als biologisch bedingte psychiatrische Erkrankung des Kindesalters verstanden. Die Bewertung der ADHS als kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankung wurde zunächst in den USA und später auch in Europa aufgrund mehrerer, voneinander unabhängiger Langzeituntersuchungen revidiert, die nachwiesen, dass sich bei bis zu 60 % der ursprünglich erkrankten Kinder die Symptomatik bis ins Erwachsenenalter fortsetzt (Weiss, Hechtman et al., 1985; Manuzza, Klein et al., 1993; Rasmussen & Gillberg, 2000), sodass ADHS inzwischen als lebenslange chronische Erkrankung verstanden wird. Anhand in den USA sowie weltweit (WHO: USA, Europa, Libanon, Mexiko, Kolumbien) in der Allgemeinbevölkerung durchgeführten Untersuchungen beträgt die Prävalenz der ADHS des Erwachsenenalters unter Zugrundelegung von DSM-IV-Kriterien 4.4 % bzw. 3.4 % (Kessler et al., 2006; Fayyad et al., 2007). Weiterhin ist sehr gut belegt, dass ADHS mit erheblichen psychosozialen Funktionsstörungen einhergehen kann. Diese äußern sich in altersabhängigen Beeinträchtigungen verschiedener Alltagsfunktionsbereiche, insbesondere aber in einer beeinträchtigten Leistungsfähigkeit, die sich in schulischem Versagen, Ausbildungsabbrüchen, Kündigungen und Arbeitslosigkeit zeigt sowie in einer Beeinträchtigung sozialer Beziehungen mit intrafamiliären Konflikten und spannungsreichen Eltern- Kind-Beziehungen, Konflikten mit Gleichaltrigen, einer erhöhten Rate von Teenagerschwangerschaften, Partnerschaftskonflikten, einer erhöhten Scheidungsrate und Ein-Eltern-Familien. Diagnostische Kriterien der ADHS: ICD-10 und DSM-IV-TR Entsprechend DSM-IV-TR (American Psychiatric Association, 2000) und ICD-10 (World Health Organization, 1991) erfolgt die Diagnose der ADHS anhand der drei Kernsymptombereiche Aufmerksamkeitsstörung, Impulsivität und motorischer Hyperaktivität, wobei entsprechend einer Symptomliste (s. Tab. 1) zur Diagnosestellung entweder jeweils 6 von 9 Symptomen aus den Bereichen Unaufmerksamkeit oder Hyperaktivität/Impulsivität oder jeweils 6 von 9 Symptomen aus beiden Bereichen vorhanden sein müssen. Weiterhin wird gefordert, dass einige der Symptome bis zum 7. Lebensjahr aufgetreten sein müssen, dass aufgrund der Symptomatik Beeinträchtigungen in mindestens zwei Lebensbereichen bestehen und die Symptome nicht besser durch eine 4

Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung im Erwachsenenalter andere psychische Störung oder eine medizinische Erkrankung erklärt werden können. Tab. 1 Diagnosekriterien der ADHS nach DSM-IV-TR Unaufmerksamkeit Beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler. Hat oft Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder beim Spielen aufrechtzuerhalten. Scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere sie/ihn ansprechen. Hält häufig Anweisungen anderer nicht durch und kann Arbeiten am Arbeitsplatz nicht zu Ende bringen. Hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben zu organisieren. Hat eine Abneigung gegen Aufgaben, die länger dauernde geistige Anstrengung erfordern. Verliert häufig Gegenstände, der sie/er für Aktivitäten benötigt. Lässt sich öfter durch äußere Reize ablenken. Ist bei Alltagsaktivitäten häufig vergesslich. Hyperaktivität Zappelt häufig mit Händen oder Füßen und rutscht auf dem Stuhl herum. Steht in der Klasse oder in anderen Situationen, in denen sitzen bleiben erwartet wird, häufig auf. Läuft häufig herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen oder Erwachsenen kann dies auf ein subjektives Unruhegefühl beschränkt bleiben). Hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich mit Freizeitaktivitäten ruhig zu beschäftigen. Ist häufig auf Achse oder handelt oftmals, als wäre sie/er getrieben. Redet häufig übermäßig viel. Impulsivität Platzt häufig mit den Antworten heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist. Kann nur schwer warten, bis sie/er an der Reihe ist. Unterbricht und stört andere häufig (platzt z. B. in Gespräche oder Spiele anderer hinein). Einige Symptome treten bereits vor dem 7. Lebensjahr auf. Beeinträchtigungen durch diese Symptome zeigen sich in zwei oder mehr Bereichen, z. B. in der Schule, am Arbeitsplatz, zu Hause. Es müssen deutliche Hinweise auf klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen der sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsfähigkeit vorhanden sein. Die Symptome können nicht durch eine andere psychische Störung besser erklärt werden, z. B. affektive Störungen, Angststörungen, dissoziative Störungen oder Persönlichkeitsstörungen. 5

Einführung Diagnostische Kriterien: Wender-Utah-Kriterien Obwohl Symptome einer affektiven Dysregulation im Sinn von Wutausbrüchen, Affektlabilität, Irritabilität, Dysphorie und Stimmungsschwankungen nicht in den diagnostischen Kriterien der ADHS entsprechend DSM-IV-TR und ICD-10 enthalten sind, liegen anhand verschiedener Untersuchungen Hinweise darauf vor, dass ADHS häufig auch mit emotionaler Symptomatik einhergeht (Reimherr, Marchant et al., 2005). Die in Tabelle 2 aufgeführten Wender-Utah-Kriterien der ADHS des Erwachsenenalters umfassen neben den in DSM-IV-TR und ICD-10 enthaltenen Symptomclustern auch Symptombereiche der affektiven Dysregulation (Wender, Reimherr et al., 1985; Wender, Wolf et al., 2001). Tab. 2 Wender-Utah-Kriterien der ADHS im Erwachsenen Aufmerksamkeitsstörung Motorische Hyperaktivität Affektlabilität Desorganisiertes Verhalten Mangelnde Affektkontrolle Impulsivität Emotionale Überreagibilität Unvermögen, Gesprächen aufmerksam zu folgen Erhöhte Ablenkbarkeit Schwierigkeit, sich auf schriftliche Texte oder Arbeitsaufgaben zu konzentrieren Vergesslichkeit Innere Unruhe Unfähigkeit, sich zu entspannen Unfähigkeit, sitzende Tätigkeiten durchzuführen Dysphorische Stimmungslage bei Inaktivität Wechsel zwischen neutraler, niedergeschlagener und gehobener Stimmung Dauer von einigen Stunden bis maximal einigen Tagen Unzureichende Planung und Organisation von Aktivitäten Aufgaben werden nicht zu Ende gebracht Andauernde Reizbarkeit, auch aus geringem Anlass Verminderte Frustrationstoleranz und kurze Wutausbrüche Unterbrechen anderer im Gespräch Ungeduld Impulsiv ablaufende Einkäufe Unvermögen, Handlungen im Verlauf zu verzögern Unfähigkeit, adäquat mit alltäglichen Stressoren umzugehen Erniedrigte Stresstoleranz bei Alltagsanforderungen 6

Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung im Erwachsenenalter Ursachen Ergebnisse aus Familien-, Adoptions- und Zwillingsuntersuchungen belegen, dass ADHS familiär gehäuft auftritt und genetischen Faktoren eine wesentliche Rolle in der Ätiologie der Erkrankung zukommt. Familienstudien konnten nachweisen, dass das Erkrankungsrisiko von erstgradigen Verwandten von ADHS-Patienten 2 6-mal höher ist als das Erkrankungsrisiko von erstgradigen Verwandten von Gesunden. (Faraone, Perlis et al., 2005). In allen bisher durchgeführten Zwillingsuntersuchungen findet sich bei eineiigen (monozygoten) Zwillingen eine Erkrankung an ADHS bei beiden Geschwistern in 60 90 % (Faraone, Perlis et al., 2005). Populationsgenetische Untersuchungen sprechen dafür, dass die ADHS komplex vererbt, d. h. durch mehrere Gene mit geringem additiven Effekt in Wechselwirkung mit Umwelteinflüssen, z. B. psychosozialen Faktoren, verursacht wird. Hierbei steht die detaillierte Aufklärung von beteiligten Gen-Umweltinteraktionen allerdings noch in ihren Anfängen. Aktuelle neuroanatomische Modellvorstellungen gehen davon aus, dass verschiedene Gehirnregionen in miteinander verbundenen Netzwerken eine spezifische Rolle bei Aufmerksamkeitsprozessen und exekutiven Funktionen spielen und dass bei der ADHS Funktionsstörungen in allen dabei beteiligten Gehirnstrukturen auftreten können. Ergebnisse aus Studien, die mit strukturell und funktionell bildgebenden Verfahren durchgeführt wurden, weisen darauf hin, dass hierbei insbesondere Störungen von Regelkreisen zwischen frontalen Gehirnregionen und den Basalganglien beteiligt sind. Daneben finden sich zunehmend Hinweise auf Störungen von Regelkreisen zwischen Frontal- und Kleinhirn. Neuere neuropsychologische Forschungsansätze gehen von der Annahme heterogener neuropsychologischer Defizite bzw. von verschiedenen ADHS-Subtypen aus, denen unterschiedliche Störungsmuster der Informationsverarbeitung zugrunde liegen. Es ist aber bei weitem nicht geklärt, inwieweit bestimmte ADHS-Subtypen bestimmten isolierten Defiziten der Informationsverarbeitung zugeordnet werden können oder ob es Subtypen der ADHS gibt, bei denen kombinierte Informationsverarbeitungsdefizite vorliegen bzw. ob es Subtypen gibt, die mittels der verfügbaren Modellvorstellungen nicht erfasst werden. Entsprechend des Modells von Russell Barkley (Barkley, 1997) besteht das zugrunde liegende Kerndefizit der ADHS in einer Störung der Reaktionsinhibition, die zu einer Störung exekutiver Funktionen führt. 7

Einführung Das kognitiv-energetische Modell von Sergeant (Sergeant, 2000; Sergeant, 2005) unterscheidet fortlaufende Prozesse der Informationsverarbeitung und Reiz- und Reaktionsauswahl von energetischen Prozessen, welche die Informationsverarbeitung beeinflussen, und postuliert, dass die Effizienz der Informationsverarbeitung durch das Zusammenspiel von Aufmerksamkeitsprozessen, energetischen Mechanismen wie Arousal, Aktivierung und Anstrengung und exekutiven Funktionen bestimmt wird. Das kognitiv-energetische Modell geht hierbei davon aus, dass das der ADHS zugrunde liegende Defizit in einer energetischen Dysfunktion und unzureichenden Regulierung von Aktivierung, Anstrengung und Arousal liegt, die zu Defiziten in exekutiven Funktionen und Aufmerksamkeitsprozessen führen. Die von Sonuga-Barke (2005) postulierte Delay-Aversions-Theorie der ADHS geht in ihrer zentralen Hypothese davon aus, dass es neben Patienten mit ADHS, die eine Beeinträchtigung von inhibitorisch vermittelten exekutiven Funktionen aufweisen, auch eine Subgruppe von ADHS-Patienten gibt, die sich von gesunden Personen hinsichtlich ihrer Fähigkeit zum Aufschub positiver Verstärkung unterscheiden, woraus eine Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Selbstorganisation, Suche nach Stimulation ( Sensation Seeking ), impulshaftes Verhalten und Unaufmerksamkeit insbesondere in Situationen mit geringer kurzfristiger Verstärkerintensität resultieren. Therapie Die deutschen Leitlinien zur Diagnostik und Therapie der ADHS des Erwachsenenalters empfehlen ein multimodales Behandlungskonzept unter Verwendung von medikamentösen und psychotherapeutischen Strategien und Berücksichtigung psychiatrischer Komorbidität. (Ebert, Krause et al., 2003). Eine Behandlungseinleitung soll erfolgen, wenn in einem Lebensbereich ausgeprägte oder in mehreren Lebensbereichen leichte krankheitswertige Störungen bestehen, die eindeutig auf eine ADHS zurückgeführt werden können. Bislang sind allerdings noch keine vergleichenden Interventionsstudien verfügbar, die eine evidenzbasierte Basis für differentielle Therapieindikationen bei der ADHS des Erwachsenenalters bieten. 8

Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung im Erwachsenenalter Medikamentöse Therapie Die medikamentöse Therapie, die durch eine Reduktion von Impulsivität und Hyperaktivität sowie durch eine Verbesserung der Aufmerksamkeit die Kernsymptomatik der ADHS erfasst, gilt als ein wesentliches Element der Behandlung. Entsprechend den Empfehlungen der deutschen Leitlinien ist Methylphenidat (MPH) das Medikament der ersten Wahl bei der medikamentösen Behandlung der ADHS des Erwachsenenalters. Wirksamkeitsnachweise für MPH bei der Behandlung von Erwachsenen mit ADHS liegen anhand mehrerer doppelblinder placebokontrollierter Studien sowie anhand einer Metaanalyse vor, die Responderraten bis 75 % bzw. eine Effektstärke von 0.9 erbrachten (Faraone et al., 2004; Biederman et al., 2006; Biederman et al., 2007; Rösler, 2007). Ein anhand von mehreren placebokontrollierten Studien empirisch gut abgesicherter Wirksamkeitsnachweis für die Behandlung von Erwachsenen mit ADHS liegt auch für den hochselektiven Noradrenalin- Wiederaufnahmehemmer Atomoxetin vor (Adler et al., 2003; Michelson et al, 2003; Reimherr et al., 2005). Obwohl Psychopharmaka die Kernsymptome der ADHS verbessern, gelingt es nicht immer, medikamentöse Effekte in verbesserte Alltagsfunktionen umzusetzen und häufig fehlen den Klienten mit ADHS konkrete Strategien zur Bewältigung der mit ADHS verbundenen funktionellen Beeinträchtigungen. So erfordern psychosoziale Beeinträchtigungen wie Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche Probleme oder Schwierigkeiten in persönlichen Beziehungen und assoziierte Beeinträchtigungen wie Desorganisation im Alltag, Vermeidungsverhalten oder Selbstwertstörungen aktive Lösungsstrategien, über die Klienten mit ADHS oft nicht verfügen, die aber mittels verhaltens- und kognitiv orientierter Psychotherapie vermittelt und erlernt werden können. Ein durchgreifender Behandlungserfolg wird daher häufig erst durch die Kombina tion von Psychopharmakotherapie und störungsspezifischer Psychotherapie erzielt. 9

Die Entwicklung einer kognitiven Verhaltenstherapie zur Behandlung der ADHS Hintergründe und Entwicklung dieses Behandlungsprogramms Das vorliegende Behandlungskonzept wurde im Rahmen des kognitiven Verhaltenstherapieprogramms an der Psychiatrischen Klinik der Harvard Medical School im Massachusetts General Hospital entwickelt und dort erstmals getestet. Die Konzeption des Programms wurde von den Psychiatern des Massachusetts General Hospitals, Dr. Joseph Biederman, Dr. Timothy Wilens und Dr. Thomas Spencer, die viele erwachsene Patienten mit ADHS medikamentös behandelten, angeregt und inhaltlich unterstützt. Dies war durch die klinische Erfahrung begründet, dass trotz guter Wirkung der medikamentösen Behandlung auf die Kernsymptomatik der ADHS häufig weiterhin Beeinträchtigungen der Alltagsfunktionen bestanden oder noch Restsymptomatik vorlag, die nicht durch die medikamentöse Therapie erfasst wurde. Weitere Impulse für das Programm kamen aus dem von Stephen McDermott entwickelten psychotherapeutischen Behandlungsansatz für Erwachsene mit ADHS, der die Elemente Psychoedukation, kognitive Umstrukturierung und Etablierung von Routinen benutzte (McDermott, 2000). Anhand von Patienteninterviews, in denen erfragt wurde, in welchen Lebensbereichen Schwierigkeiten bestanden bzw. Veränderungen erwünscht und notwendig seien, wurden Problembereiche identifiziert, die 11