Germanistik Marcus Engert Figurencharakterisierung und figurenbezogene Informationsvermittlung in Kleists 'Die Verlobung in St. Domingo' Studienarbeit
Universität Leipzig Institut für Germanistik Erzähltextanalysen: Heinrich von Kleists Erzählungen WS 2005/2006 Figurencharakterisierung und figurenbezogene Informationsvermittlung in Kleists Die Verlobung in St. Domingo eingereicht am: 05.01.2006 HF Germanistik NF Journalistik NF Mittlere und Neuere Geschichte
Inhaltsverzeichnis 0. Einleitung S. 1 I Die Figuren als Charaktere 1. Schwarz und Weiß - der Raum der Erzählung S. 1 2. mit unterdrückter Empfindlichkeit die täuschende Babekan S. 2 3. mit einem gebrochenen Laut des Schmerzes - die Mestize Toni S. 4 4. es wäre wohl nicht möglich! der ambivalente Congo Hoango S. 5 5. Ihr seht den elendesten Menschen Gustav von der Ried S. 6 II Die Figuren und ihr Handeln im Zusammenhang der Erzählung 6. Handlungsvoraussetzungen, Handlungsoptionen und Wissensunterschiede S. 8 7. Misstrauen und Missverstehen S. 10 8. Täuschung des Lesers S. 12 9. Authentische Äußerungen S. 14 10. Sprache ohne Halt die misslungene Kommunikation S. 15 Literaturverzeichnis S. 17
0. Einleitung In der vorliegenden Arbeit soll untersucht werden, wie die figurenbezogene Informationsvermittlung im Text gestaltet ist, insbesondere welche Techniken der Figurencharakterisierung in der Verlobung in St. Domingo zum Tragen kommen. Ausgehend von den so gezeichneten Charakteren soll außerdem die Frage diskutiert werden, wie zuverlässig die Figuren in ihrem Handeln sind und wie stark ihr Handeln durch den Text motiviert wird. Dabei soll auch versucht werden, Ungereimtheiten, Brüche und Widersprüche der Erzählung in ein Begründungsmuster zu integrieren oder ihre Funktion für das Textganze wie auch für die Figurengestaltung zu ergründen. Dass es bei Kleist keine Seltenheit ist, dass die Erzählinstanz und die durch sie vermittelten Informationen unzuverlässig, manchmal gar falsch sind, ist keine neue Erkenntnis. Es stellt sich daher die Frage, ob denn die gezeichneten Charaktere in ihrer Anlage verlässlich sind. Oder anders gefragt: ist es gerechtfertigt, dem Erzähler zu vertrauen, und ist dieses Vertrauen auch gegenüber den Figuren begründet? Ob dies in der Verlobung in St. Domingo der Fall ist, sollte sich nach der Analyse beantworten lassen. 1. Schwarz und Weiß - Der Raum der Erzählung Die Erzählung beginnt direkt mit einer Beschreibung des Raumes, in der ohne jede Umschweife klar zwei Parteien voneinander abgegrenzt werden: Zu Port au Prince, auf dem französischen Anteil der Insel St. Domingo, lebte zu Anfange dieses Jahrhunderts, als die Schwarzen die Weißen ermordeten, auf der Pflanzung des Herrn Guillaume von Villeneuve, ein fürchterlicher alter Neger, namens Congo Hoango. (S.160) 1 Es bleibt bei diesem einen, die Situation und den Schauplatz explizit beschreibenden, ersten Satz. 2 Wir befinden uns also auf dem französischen Teil 1 Hier und im Folgenden beziehen sich Textauszüge aus der Verlobung in St. Domingo auf folgende Ausgabe: Sembdner, Helmut (Hg.): Heinrich von Kleist. Sämtliche Erzählungen und Anekdoten. 16. Auflage. München 2003 (SE) 2 Die ersten Sätze Kleistscher Erzählungen sind stets von einer enormen Bedeutung und erfreuen sich einer entsprechend hohen und deutungsfrohen Aufmerksamkeit durch die Forschung. Exemplarisch sei hier Roland Reuß zitiert, der im ersten Satz dargestellt sieht, dass menschliches Leben von Kleist gleich anfangs als isoliert eingeführt wird. Insbesondere ist hierbei die abstrakte Für-sich-Setzung des Kolons lebte von Interesse. Daß dieses Verbum invertiert zwischen zwei weiteren Umstandsbestimmungen (des Raums und der Zeit) andererseits steht, deutet bereits darauf hin, dass es in der Erzählung darum gehen wird, wie über die Entgegensetzung Zweier hinaus ein Drittes zu finden ist, das beide vermittelt; ein Problem, das sich auf mannigfache Weise in der Erzählung reflektiert, etwa schon in dem Umstand, dass sämtliche 1