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Transkript:

Landtag NRW Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales Platz des Landtags 1 40221 Düsseldorf - per E-Mail - Stellungnahme anlässlich der Öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit, Gesundheit, Soziales und Integration am 13. Juli 2011 zum Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Solidarische Gesundheitsversorgung erhalten Bürgerversicherung einführen Drucksache 15/854 zum Änderungsantrag der Fraktion die Linke zum Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Solidarische Gesundheitsversorgung erhalten Bürgerversicherung einführen Drucksache 15/854 Düsseldorf, 05.07.2011 Sozialverband VdK Nordrhein-Westfalen e.v. Fürstenwall 132 40217 Düsseldorf Telefon: 0211 38412 44 Telefax: 0211 38412 66 Kontakt: nordrhein-westfalen@vdk.de

Inhalt Seite I. Grundsätzliches 3 II. Solidarisches Gesundheitssystem 5 III. Zusatzbeiträge und Kopfpauschalen 7 IV. Kostenerstattung 9 V. Arzneimittelneuordnungsgesetz (AMNOG) 10 VI. Standpunkte des Sozialverbands VdK NRW 12 2

I. Grundsätzliches Das deutsche Gesundheitssystem unterliegt seit Jahrzehnten kontroversen Diskussionen und unterschiedlichsten Reformmaßnahmen. Unstrittig ist, dass das Gesundheitssystem vor dem Hintergrund des demografischen Wandels, der Ausweitung des Niedriglohnsektors sowie des technisch-medizinischen Fortschritts weiterentwickelt und die Finanzierung gesichert werden muss. Jedoch dürfen Reformen nicht einseitig ökonomischen Zwängen und partikularen Interessen unterliegen. Seit den 80er Jahren zeichnet sich ein Paradigmenwechsel in der Gesundheitspolitik ab: der Trend geht weg vom Patienten hin zur Kommerzialisierung von Gesundheitsleistungen. In den letzten Jahren war das Gesundheitssystem durch Kürzung des Pflichtleistungskataloges der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und höhere Belastungen der Versicherten geprägt und diente in erster Linie der Stabilisierung der Beitragssätze. Das trifft auf Bezieher niedriger Einkommen und Rentner in besonderem Maße zu. Die Gesundheitsreformen haben die Gesundheitschancen insbesondere für benachteiligte Bevölkerungsgruppen eher verschlechtert. In Deutschland herrscht in der gesundheitlichen Versorgung eine deutliche Kluft zwischen Arm und Reich. Menschen mit niedrigem sozialem Status sind beruflich und privat höheren gesundheitlichen Risiken ausgesetzt. Sie erkranken häufig früher und schwerer und haben oft eine niedrige Lebenserwartung. Die Lebenserwartung von Männern der höchsten Einkommensgruppe ist z. B. 10,8 Jahre höher als die von Männern der niedrigsten Einkommensgruppe, bei Frauen 8,4 Jahre höher. 31 Prozent der Männer und 16 Prozent der Frauen, die armutsgefährdet sind, erreichen gar nicht erst das 65. Lebensjahr. Ihre finanziellen Möglichkeiten, sich für den Erhalt oder die Wiederherstellung ihrer Gesundheit und die ihrer Familien zu engagieren, sind eingeschränkt. Die derzeitige Gesundheitsversorgung von zahlreichen Bevölkerungsgruppen ist absolut unzureichend. Zahnersatz, Zusatzmaterial für Hörgeräte oder Brillenerwerb usw. sind für von Armut betroffene Menschen oft nicht finanzierbar, aber auch dem Durchschnittsverdiener fällt es zunehmend schwerer. 3

Laut einer Studie der Universität Siegen 1 halten bereits heute die Praxisgebühr und weitere Zuzahlungen in Deutschland fast jeden Achten trotz Beschwerden vom Arztbesuch ab. Das betrifft in besonderem Maße Menschen mit niedrigen Einkommen. Die daraus resultierenden Folgen für die Menschen selbst und das Gesundheitssystem sind noch nicht absehbar, werden sich aber in die Zukunft potenzieren. Der Sozialverband VdK Nordrhein-Westfalen e. V. (VdK NRW) hat bereits in seinen Forderungen zur Landtagswahl 2010 darauf hingewiesen, dass Gesundheit nicht vom Geldbeutel, dem Bildungsstand oder dem Wohnort abhängen darf. Vor dem Hintergrund des steigenden Lohnniedrigsektors, aber auch veränderten brüchigen Erwerbsbiografien sowie Menschen, die ergänzend zu ihrem Lohn staatliche Transferleistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) beziehen und einer steigenden Zahl von altersarmen Menschen wird sich diese Problematik noch verschärfen. Aktuellen Berichten zufolge 2 ist z. B. die Kaufkraft der Rentnerinnen und Rentner in den letzten 10 Jahren wesentlich zurückgegangen. Die Zahl der Empfänger von Grundsicherung im Alter steigt stetig. Daher gehen die Neuerungen im Gesundheitssystem mit ungedeckelten Zusatzbeiträgen, steigenden Zuzahlungen und Kostenerstattung bzw. Vorkasse im Gesundheitswesen an der Lebensrealität einer großen Anzahl von Menschen vorbei. Sie belasten nicht nur die Nettoeinkommen und führen so zu Kaufkraftverlust, sie vergrößern auch die Schere zwischen Arm und Reich und sind in vielen Fällen schlicht nicht leistbar und gesundheitspolitisch kontraproduktiv. 1 Zu diesem Ergebnis kommt der Soziologe Prof. Dr. Claus Wendt von der Universität Siegen in einem Forschungsprojekt an der Harvard University auf der Grundlage einer neu ausgewerteten Befragung aus dem Jahr 2008 mit 1000 Teilnehmern. 2 Laut einer Anfrage der Fraktion die Linke im Bundestag an das Bundesarbeitsministerium sind in den Jahren zwischen 2001 und 2010 die Inflation und die Sozialkosten schneller gestiegen als die Renten. 4

Weiterhin steht das Gesundheitssystem wegen der demografischen Entwicklung vor großen Herausforderungen. Da die Zahl der Menschen über 65 Jahre bis zum Jahr 2050 kontinuierlich zunehmen wird, werden typische Alterserkrankungen immer häufiger auftreten. Zudem leiden älter werdende Menschen vermehrt an mehreren, häufig chronisch fortschreitenden Erkrankungen. Dies stellt besondere Anforderungen an die Koordination der Versorgung. Hausärztliche, ambulante und stationäre fachärztliche sowie pflegerische Behandlungsleistungen müssen im Rahmen einer interdisziplinären Kooperation mit Angeboten zur Prävention, zur Rehabilitation, zur Arzneimittelversorgung sowie mit Leistungen von sozialen Einrichtungen, der Selbsthilfe und des Ehrenamts sinnvoll verzahnt werden. Von einer altersgerechten Gesundheitsversorgung ist das deutsche Gesundheitssystem jedoch noch weit entfernt. II. Solidarisches Gesundheitssystem Das auf dem Umlageverfahren beruhende deutsche Gesundheitssystem hat sich über Jahrzehnte auch in Zeiten von Wirtschafts- und Finanzkrise bewährt. Die paritätische Finanzierung ist dabei ein wichtiger Bestandteil des Gesundheitssystems, von der man sich Stück für Stück verabschiedet. Bereits seit Mitte 2005 wird von den Mitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) der zusätzliche Beitragssatz von 0,9 Prozent der beitragspflichtigen Bruttoeinnahmen gezahlt. Schon damals wurde die paritätische Finanzierung in der GKV ausgehöhlt, indem die Arbeitgeber diesen zusätzlichen Beitragssatz nicht tragen mussten. Doch dieser Systemwechsel weg von der paritätischen Finanzierung setzt sich weiter fort. Die Solidarität und Parität in der gesetzlichen Krankenversicherung wird durch ungedeckelte Zusatzbeiträge und einen eingefrorenen Arbeitgeberbeitrag weiter unterwandert. Künftige Kostensteigerung müssen allein von den Versicherten getragen werden. Parallel wird der Arbeitgeberanteil bei 7,3 Prozent eingefroren. Damit verlagert man das Kosten- und Konjunkturrisiko einseitig auf die Versichertengemeinschaft auf Arbeitnehmer/innen und Rentner/innen. Dabei haben Rentner und Rentnerinnen den Nachteil, dass sie die Krankversicherungsbeiträge nicht von der Steuer absetzen können, da die meisten keine Steuern zahlen. 5

Für das Gesundheitssystem wäre eine Umwälzung der GKV nachteilig. Das bestehende System muss unter Beibehaltung bewährter Grundprinzipien weiterentwickelt werden. Die Solidarprinzipien (Gesund für Krank; Jung für Alt beziehungsweise Alt für Jung; Einkommensstärkere für Einkommensschwächere) müssen weiterhin Leitgedanke für alle Veränderungen sein. Diese Veränderungen müssen systemintern vollzogen werden. Die Arbeitgeber müssen wieder paritätisch an der Finanzierung beteiligt werden. Dass bedeutet auch, dass der Zusatzbeitrag von 0,9 Prozent paritätisch getragen wird. Vor dem Hintergrund eines für die Zukunft prognostizierten Fachkräftemangels dürfen die Arbeitgeber nicht aus der paritätischen Finanzierung entlassen werden. Gesundheitliche Schäden werden häufig durch Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten hervorgerufen. Außerdem sind viele Krankheiten nachweislich verursacht durch erhebliche Belastungen am Arbeitsplatz, vor allem durch Stress und steigende Arbeitsverdichtung. Deshalb dürfen die Arbeitgeber bei der Finanzierung der steigenden Gesundheitskosten auch in Zukunft nicht außen vor bleiben. Im Gegenteil - sie müssen stärker in die soziale Verantwortung genommen werden, gerade bei international hervorragender Wettbewerbsfähigkeit und schnell steigender Auslastung und Gewinne. Weiterhin wird durch das Einfrieren des Arbeitgeberbeitrags der Handlungsdruck deutlich abnehmen, Strukturreformen auf der Ausgabenseite vorzunehmen. Im Gesundheitssystem werden seitens der Bundesregierung bestehende Gerechtigkeits- und Strukturdefizite nicht beseitigt, sondern zementiert. Strukturelle Maßnahmen zur Verbesserung von Effizienz und Qualität unterbleiben. Die Einbeziehung weiterer Einkünfte in die GKV ist nicht geplant und beitragspflichtige Einkommen tragen weiterhin die gesamte Finanzierungslast. 6

Die GKV orientiert sich nicht an der gesamten monetären Leistungsfähigkeit, sondern nur am beitragspflichtigen Einkommen. Deshalb fordert der VdK NRW für ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem, die Bemessungsgrundlage um weitere Einkünfte zu erweitern, damit sich auch Menschen mit höheren Einkommen solidarisch an der GKV beteiligen. Weitere Anhaltspunkte für den stetigen Rückzug aus der solidarischen Gesundheitsversorgung ist die Tatsache, dass junge, gesunde und besser verdienende Menschen sich weiterhin der GKV durch einen freiwilligen Wechsel in die private Krankenversicherung (PKV) entziehen können. Durch die Verkürzung der 3-Jahres-Frist zum Wechsel in die PKV wird die Entsolidarisierung in der GKV weiter forciert und dem System bis zu 500 Millionen Euro an Beitragseinnahmen entzogen. III. Zusatzbeiträge und Kopfpauschalen Die Beitragssatzerhöhung erfolgt letztmalig paritätisch. Der Arbeitgeberbeitrag wird eingefroren. Parallel gehen zukünftige Kostensteigerungen alleine zu Lasten der Versicherten über Zusatzbeiträge, die als Pauschalbeiträge zu erbringen sind. Dieses Vorgehen ebnet den Weg in neue Finanzierungsformen im System der GKV. Es bedeutet die Einführung von einkommensunabhängigen Kopfpauschalen und somit ein weiterer Schritt weg vom Umlageverfahren - hin zur Kapitaldeckung. Der Weg in den Systemwechsel wird fortgesetzt. Wie vom VdK befürchtet, wird aus der kleinen schrittweise eine große Pauschale. 2009 wurden die Zusatzbeiträge mit einer Belastungsgrenze von 1 Prozent eingeführt. Zum 1.1.2011 ist die Belastungsschwelle bereits auf 2 Prozent erhöht worden. Für einen Rentner mit 1000 Euro bedeutet dies eine Verdopplung der Belastung auf bis zu 240 Euro im Jahr. In den nächsten Jahren werden die Gesundheitskosten weiter steigen und damit die Pauschalprämien. 7

Dies bedeutet zugleich, dass die Kosten für den Sozialausgleich, den wir für eine Mogelpackung halten, steigen. Es ist bereits jetzt absehbar, dass dann eine weitere Anhebung der Belastungsschwelle auf drei Prozent und mehr erfolgen wird. Der Zusatzbeitrag verschärft eine erhebliche Kumulation der Belastungen wie Zuzahlungen, Praxisgebühr, Leistungsausgrenzungen, Sonderbeitrag, aber auch Belastungen in der Pflege- und Rentenversicherung. Durch die pauschalen Zusatzbeiträge werden untere und mittlere Einkommen überproportional belastet. Höhere Einkommen werden dagegen entlastet. Laut dem Bundesversicherungsamt bedeutet dies bei einem Zusatzbeitrag von 16 Euro, dass Einkommen bis 800 Euro einen Gesamtbeitrag von 10,2 Prozent schultern müssen, während Versicherte an der Beitragsbemessungsgrenze (derzeit 3.750 Euro) lediglich 8,6 Prozent aufwenden müssen. Ein GKV-Versicherter mit 6.500 Euro Einkommen weist dagegen nur einen Gesamtbeitrag von 5,0 Prozent auf. Das ist sozial unausgewogen. Zwar wird durch die Einführung ungedeckelter Zusatzbeiträge der Wettbewerb zwischen den Krankenkassen stark angeregt - für chronisch kranke, behinderte und ältere Versicherte bedeutet dies jedoch in vielen Fällen, dass ihre Versorgung tendenziell schlechter wird. Die Mitgliederentwicklung bei den Krankenkassen, die Anfang des Jahres Zusatzbeiträge erhoben haben, macht deutlich, dass der Zusatzbeitrag als Preissignal stärker wirkt und die Bereitschaft die Krankenkasse zu wechseln hoch ist. Aus der Beratung in den VdK-Geschäftsstellen erfahren wir, dass der Wettbewerb zwischen den Krankenkassen unter dem Regime der Zusatzbeiträge ein reiner, verschärfter Preiswettbewerb ist. Daraus resultieren eine zunehmend zu beobachtende restriktive Leistungsgewährung und ein Kurzzeitdenken bei den Krankenkassen. Da die Zusatzbeiträge nicht in den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich fließen, wird sich diese Tendenz massiv verstärken. 8

Es bleibt festzuhalten, dass pauschale Zusatzbeiträge Bezieher mittlerer und niedriger Einkommen, chronisch Kranke sowie Rentner besonders hart treffen. Damit werden diejenigen, die durch das Sparpaket, sinkende Löhne und Rentennullrunden Einbußen hinnehmen müssen, überproportional belastet. IV. Kostenerstattung Die Pläne zur Ausweitung der Kostenerstattung im Gesundheitswesen gehen an der Lebensrealität der Menschen vorbei und ebenen den Weg in eine Drei-Klassen- Medizin. Wie eingangs erwähnt, ist ein großer Teil der Menschen in unserem Land finanziell nicht in der Lage für eine Gesundheitsleistung in Vorkasse zu gehen. Daher gehen solche Ideen an der Lebenswirklichkeit vieler Menschen vorbei. Das ist ein Sozialdarwinismus erster Güte in dem sich nur noch die Starken, sprich Besserverdiener, gute Gesundheit leisten können. Weiterhin ist Vorkasse beim Arzt kein zweckdienliches Mittel, um Kosten im Gesundheitswesen transparent zu machen, sondern bedeutet nur eine zusätzliche finanzielle Belastung der Menschen. Wenn der Verbraucher sich für die Kostenerstattung entscheidet, rechnet der Arzt jede einzelne erbrachte Leistung nach der privatärztlichen Gebührenordnung (GOÄ) mit 2,3-fachem Satz ab. Das bedeutet, der Arzt bekommt mehr als das Doppelte der bisherigen Einnahmen. Die Kasse darf dem Patienten bei Anwendung der Kostenerstattung aber nur den gesetzlich festgelegten Betrag erstatten. So entstehen hohe Differenzbeträge von mehr als 50 Prozent, auf denen der Patient letztlich sitzen bleibt. Im Vergleich zur GKV laufen den Privaten Krankenkassen die Kosten auf dramatische Weise davon, sie müssen ihren Versicherten von Jahr zu Jahr immer höhere Prämien in Rechnung stellen. Ein Grund: Ärzte behandeln Privatpatienten nicht nur unter gesundheitlichen, sondern auch unter Ertragsgesichtspunkten, zulasten der Versicherten. Diese Entwicklung droht mit der Kostenerstattung auch den gesetzlich Versicherten. Welche gravierenden finanziellen Folgen auf die Versicherten zukommen würden, zeigt ein Beispiel: 9

Ein 69-jähriger Mann geht mit Sehstörungen zum Augenarzt. Dort wird ein Glaukom (Grüner Star) diagnostiziert. Da er sich für Kostenerstattung entschieden hat, erhält er eine Honorarrechnung. Diese beträgt 409 Euro, denn der Arzt hat nach GOÄ (2,3- fachem Satz) abgerechnet. Ihre Krankenkasse übernimmt davon 72 Euro, so dass er für den Differenzbetrag von 337 Euro selbst aufkommen muss. Außerdem haben Ärzte ein ökonomisches Interesse, dass sich Patienten für die Vorkasse entscheiden. Es droht ein massives Drängen der Patienten in die Kostenerstattung für zunächst ein Quartal, um bei der Terminvergabe in der Arztpraxis bevorzugt zu werden. Wer sich gegen dieses Abrechnungsverfahren entscheidet, hat dann das Nachsehen und muss sich bei manchen Ärzten auf längere Wartezeiten einstellen. Befragungen haben gezeigt, dass Privatversicherte im Gegensatz zu gesetzlich Krankenversicherten deutlich häufiger den Eindruck haben, dass bei ihnen nicht notwendige Untersuchungen und Behandlungen durchgeführt werden. Dieses Risiko wird für Verbraucher, die für die Vergütung der ärztlichen Leistung Kostenerstattung wählen, stark ansteigen. V. Arzneimittelneuordnungsgesetz (AMNOG) Das AMNOG ist aus Sicht des VdK NRW ein Schritt in die richtige Richtung, es ist jedoch fragwürdig, ob das Gesetz tatsächlich zu einer Verbesserung der Arzneimittelversorgung und zu mehr Transparenz für die Betroffenen führt. Demzufolge spricht sich der VdK NRW aus Sicht der Betroffenen explizit für eine Überarbeitung des Gesetzes aus. Die Verlagerung der Zuständigkeit auf die Zivilgerichte und das Bundeskartellamt muss verhindert werden, da die gesetzlichen Krankenkassen nicht unternehmerisch handeln, sondern die Gesundheit und Versorgung der Versicherten im Fokus stehen sollten. Den Sozialgerichten darf nicht die Zuständigkeit entzogen werden, weil diese eher restriktiv urteilen. 10

Die Verlagerung der Zuständigkeiten könnte in vielen Fällen günstigere Rechtsdurchsetzung zu Gunsten der Anbieter bedeuten, was erneut negative Folgen für die GKV hätte. Das ebnet den Weg in eine Privatisierung der GKV. Beratung und Transparenz sind für mündige Patientinnen und Patienten von entscheidender Bedeutung, demgemäß plädieren wir dafür, die Unabhängige Patientenberatung flächendeckend auszubauen und schließen uns dem Vorschlag der SPD-Fraktion Nordrhein-Westfalen an, pro 2,5 Millionen Einwohner je eine Beratungsstelle einzurichten. Hersteller von Arzneimitteln und Medizinprodukten als Vertragspartner von Verträgen der integrierten Versorgung zuzulassen, und zwar nicht nur bei der Arzneimittelversorgung sondern bei der gesamten Behandlung, birgt die Gefahr den Menschen als reinen Kostenfaktor zu sehen und die Behandlung nach rein ökonomischen Kriterien durchzuführen. Die qualitativ beste und effizienteste Behandlung sollte jedoch im Vordergrund stehen. Die Einführung einer Mehrkostenregelung eröffnet die Möglichkeit, Rabattverträge zu unterwandern und die Preise zu manipulieren. Das würde die GKV weiter schwächen und die Hersteller von Arzneimitteln und Medizinprodukten stärken. Mehrkostenregelungen widersprechen dem Gedanken des Solidar- und Sachleistungsprinzip und sind abzulehnen. Flankierend sprechen wir uns des Weiteren für die Einführung einer Positivliste, ein transparentes Studienregister sowie die Absenkung der Mehrwertsteuer auf Arzneimittel aus. 11

VI. Standpunkte des Sozialverbandes VdK NRW Die Leitlinie des VdK NRW lautet, Zukunft sozial gestalten. Für ein sozialgerechtes Gesundheitssystem, das nicht einseitig die Einkommensschwachen, die chronisch Kranken und die Renterinnen und Rentner belastet und die Arbeitgeber, Ärzte, Apotheken und Pharmahersteller zu schonen scheint, sehen wir folgenden Reformbedarf: Rückkehr zur paritätischen Finanzierung Gesundheit darf nicht vom Geldbeutel abhängen Kostenerstattung im Gesundheitswesen stoppen einseitige Belastung von Versicherten und Renterinnen und Rentnern durch Zusatzbeiträge abwenden Verbleib beim umlagefinanzierten Gesundheitssystem Solidarische und paritätische Finanzierung beibehalten Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze auf Höhe der Rentenversicherung Erweiterung der Bemessungsgrundlage um weitere Einkünfte Absenkung der Mehrwertsteuer auf Arzneimittel Unabhängige Patientenberatung flächendeckend ausbauen Überarbeitung des AMNOG Steigerung von Maßnahmen der Gesundheitsförderung, Prävention und Rehabilitation Schaffung einer alters-, behinderten- und geschlechtergerechten Gesundheitsversorgung Düsseldorf, 05.07.2011 Sozialverband VdK NRW e.v. Stellvertretender Landesvorsitzender: Horst Vöge, Abteilung Sozialpolitik: Manuela Anacker 12