Wenn etwas (beinahe) passiert ist: Das Arzthaftungsrecht in der Krise? A S S. P R O F. D R. M A G D A L E N A F L A T S C H E R T H Ö N I U M I T D E P A R T M E N T F Ü R P U B L I C H E A L T H U N D H T A H A L L I N T I R O L 2 0. J U N I 2 0 1 3, I F I M P
Motivation 2 Haftung aus dem Behandlungsverhältnis hat Konjunktur: steigende Zahl der gegen Ärzte und Krankenhausträger erhobenen Schadensersatzansprüche (Katzenmeier 2011)
Motivation 3 Arzthaftungsrecht steht vor Herausforderungen, u.a.: Verrechtlichungstendenz (Klagswille, Defensivmedizin ) Ökonomisierung der medizinischen Versorgung Informationsgesellschaft Veränderung des Arzt-Patientenverhältnisses (Rollenbilder) Second Victim Problematik Offene Kommunikation von Fehlern (Patient & Organisation)
Systemischer Blickwinkel 4 Verantwortlichkeit, Haftung für unerwünschtes Ereignis Unerwünschtes Ereignis Patientensicherheit Kompensation des verletzten Patienten The Canadian Medical Protective Association, 2005
Unerwünschtes Ereignis 5 ist ein unbeabsichtigter und/oder unerwarteter Zwischenfall, der zur Schädigung eines oder mehrerer Patienten in der Gesundheitsversorgung hätte führen können oder geführt hat Patientensicherheitszwischenfall, medizinischer/klinischer Fehler, Beinahe-Schaden, Behandlungsfehler (Europarat, Ministerkomitee Empfehlung (2006) 7) Herausforderungen: Wie gehen MA einer KA mit unerwünschten Ereignissen um? CIRS (glaubwürdiges Konzept ) Second victim Problematik (Waterman et al. 2007)
Patientensicherheit 6. das Erfassen, Erkennen, Verhüten und Vermeiden von unerwünschten Ereignissen. Herausforderungen: offener und transparenter Umgang mit Fehlern (Lauterberg et al. 2012) (offene) Kommunikation eines Behandlungsfehlers (Irren ist menschlich, Plattform Patientensicherheit, ÖÄK; Reden ist gold. Aktionsbündnis Patientensicherheit)
Verantwortung & Haftung 7 Behandelnder trägt Verantwortung für sein Handeln: Voraussetzung für selbstregulierenden Berufsstand (Berufs- und Disziplinarrecht), sowie das öffentliche Vertrauen in die Qualität der Versorgung Verantwortung als Grundlage für Haftung: Sorgfaltsmaßstab, Verschuldensfrage (Standard der Heilkunde, Dokumentationspflicht), gerichtliches bzw. außergerichtliches Verfahren
Verantwortung & Haftung 8 Sorgfaltsmaßstab im Arzthaftungsrecht Sorgfaltsniveau kann sich auf zwei Weisen in der Haftung widerspiegeln: Sorgfaltsniveau wird zur Konkretisierung des Verschuldens herangezogen: verschuldensabhängige Haftung Verschulden wird angenommen Sorgfaltsniveau primär nicht ausschlaggebend, da der Schadensverursacher dazu verpflichtet ist, das Opfer unter allen Umständen zu entschädigen: verschuldensunabhängige Haftung
Kompensation 9 Kompensation der verletzten Person im Sinne des erlittenen Schadens aus der Verletzung des Behandlungsverhältnisses: angemessene und gerechte Kompensation basierend auf dem Schadensausmaß und Schadensumfeld Berücksichtigung materieller und immaterieller Schäden (z.b. Schmerzen, psychisches Leid ) Vertikale und horizontale Gerechtigkeit
Haftung und Kompensation 10 Herausforderungen: Was ist ein Behandlungsfehler? Wie soll der Patient informiert werden? Über was soll er informiert werden? Beinahe Fehler? Wie gehen MA mit einem Fehler um? Fehler nach dem Fehler? Minimiert der offene Umgang mit Fehlern letztlich das Risiko juristischer Konsequenzen? Muss eine Entschuldigung zwangsläufig zu einer zivilrechtlichen (oder strafrechtlichen) Konsequenz führen? Kann sich der Mitarbeiter Hilfe oder Rat beispielsweise beim lokalen Ethikkomitee holen?
Arzthaftungsrecht in der Krise 11 Alternative Haftungs- und Kompensationssysteme: Eine europäische Perspektive
Alternative Haftungsansätze aus Europa 12 Österreich: Patientenentschädigungsfonds Schweden: Heilbehandlungsrisikoversicherung Frankreich: Proportionalhaftung & ONIAM
13 Österreich
Österreich 14 Aktuelle Kompensationslage für iatrogen geschädigte Schadenersatz g.verf. 1 Patienten in Österreich: Verschuldensabhängige Haftung Haftpflichtversicherung ag.verf. 2 Behandlungs- verhältnis Schaden Unerwünschtes Ereignis Verschuldensunabhängige Haftung Schiedsstelle Ärztekammer Patientenentschädigungsfonds ag.verf. 2 Verschuldensunabhängige Kompensation ag.verf 2 1) Gerichtliches Verfahren 2) Außergerichtliches Verfahren
Patientenentschädigungsfonds 15 Patientenentschädigungsfonds verschuldensunabhängige Kompensation seit 2001 Entschädigung von Patienten nach Schäden, die durch die Behandlung in Fonds-KA entstanden sind und bei denen eine Haftung des Trägers der KA nicht eindeutig gegeben ist Verschulden ist nicht nachweisbar
Patientenentschädigungsfonds 16 9 unterschiedliche Ausgestaltungen, Grundlage KaKuG, sowie Landesgesetzgebung Finanzierung: Fonds finanziert durch 0,73 pro Pflegetag/ Patient der Fondskrankenanstalten Entschädigungskommission entscheidet, ohne Möglichkeit eines Rechtsmittels für Patienten: max 35.000 ( 70.000) entsprechend der Spruchpraxis der Ö Zivilgerichte Zivilgerichtliches Verfahren (Schadenersatz) ist parallel möglich, bei positiver Beurteilung: Rückzahlung der PEF Kompensation
Patientenentschädigungsfonds 17 Verfahrensrechtliche Entwicklung des PEF in Tirol (2002 2010) 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 Anzahl der Sitzungen 5 10 10 10 10 11 16 12 12 Anzahl der Anträge (gesamt) - inkl. Doppelz. 49 73 117 79 81 99 181 122 119 Anzahl der behandelten/entschiedenen Anträge 29 71 105 92 84 104 182 117 99 Anzahl der entschädigten Anträge 19 33 67 56 69 75 146 67 69 Anzahl der abgewiesenen Anträge 10 38 38 36 15 29 36 40 30 Entschädigungsquote in % 66 46 64 61 82 72 80 57 70 Flatscher-Thöni 2012
Patientenentschädigungsfonds 18 Kompensationsverlauf PEF in Tirol (2001 2010 in ) Flatscher-Thöni 2012
19 Schweden
Heilbehandlungsrisikoversicherung (Patientenversicherung) 20 Patientenversicherung für Medizinschäden (Patientförsakring) Versicherungsmodell wurde 1975 eingeführt beruht auf einer Abrede zwischen Provinzen und Konsortium von (vier) Versicherungsgesellschaften, existiert parallel zum Rechtssystem Ansatz in weiterer Folge auch in Finnland, Dänemark und Norwegen eingerichtet
Heilbehandlungsrisikoversicherung (Patientenversicherung) 21 Versicherungsgegenstand: Behandlungsschaden von gewisser Erheblichkeit potenziell vermeidbarer Schaden Versicherungsnehmer (Risikogemeinschaft) staatliche bzw. kommunale medizinische Versorgung private medizinische Versorgung Versicherungsprämie: Prämien werden von der öffentlichen Hand/ Betreiber von Gesundheitseinrichtungen bezahlt first party Versicherung Organisation: übergeordnete Verwaltungsorganisation einheitliche Beurteilung und effektive/ schnelle Schadensregulierung (dsch. Verfahrensdauer 6 Monate)
Heilbehandlungsrisikoversicherung (Patientenversicherung) Rechtliche Verantwortung für den Behandlungsschaden ist getrennt von der Kompensation organisiert (Arzt stellt anonym Information für Versicherung zur Verfügung) Beantragung unter Mithilfe von Ärzten, sowie anderer Gesundheitsberufe (rund 65% aller Anträge) 22 Versicherungsdeckung ausschließlich berechtigt: Geschädigte mit mind. 10 Tagen Krankenhausaufenthalt bzw. mind. 30 Tagen Krankenstand 45% der Verfahren erhalten Kompensation (10% berufen) Kompensationen erhalten materielle und immateriell Schäden (durchschnittlich 2000) Unzufriedene Patienten haben die Möglichkeit zu berufen
23 Frankreich
Frankreich 24 Arzthaftung basiert auf verschuldensab-, wie auch verschuldensunabhängigen Komponenten: Verschuldensabhängige Haftung: Verwirklichung der Haftung aus dem BV nach Wahrscheinlichkeiten: Proportionalhaftung Abkehr vom deterministischen hin zu einem probabilistischen Kausalitätsverständnis: überwindet Alles-oder-Nichts Prinzip zugunsten einer Anteilshaftung wahrscheinlicher Verursachungsanteil als Haftungsbegründung: Haftungsquote bestimmt sich nach dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhanges zwischen Behandlungsfehler und Gesundheitsschaden
ONIAM Office National d'indemnisation des Accidents Médicaux 25 Seit 2002, verschuldensunabhängige Haftung, basierend auf einer mind. 25% Invalidität, deren Verschulden entweder nicht nachweisbar ist oder auf einer nosokomialen Infektion beruht Regionale Kommissionen entscheiden über Kompensationseignung: ONIAM übernimmt verschuldensunabhängige Kompensation stellt regionale Kommission Verschulden fest, kann sich der geschädigte Patient an Versicherung des Arztes wenden
Conclusio 26 Arzthaftungsrecht in der Krise Alternative Haftungsregime als Lösung?
Conclusio 27 Verantwortlichkeit, Haftung für unerwünschtes Ereignis Unerwünschtes Ereignis Patientensicherheit Kompensation des verletzten Patienten The Canadian Medical Protective Association, 2005
Conclusio 28 Verhaltensmuster der involvierten Personen sollten zentraler Ansatzpunkt für einen alternativen rechtlichen Umgang mit unerwünschten Ereignissen sein Wie soll das Verhalten durch Haftungsregime gesteuert werden? Verhaltensanreize der involvierte Personengruppen hängen von Ausgestaltung ab Beeinflussen die relationale Ebene Wichtig: Berücksichtigung von systemischen und prozessual bedingten Fehlern, nur so kann Fehlerrate verringert bzw. eine langfristige und nachhaltige Qualitätsverbesserung erreicht werden.
Conclusio 29 Systemreform oder Systemwechsel? Liegt die optimale Lösung aus gesamtgesellschaftlicher Sicht in einer Mischung aus verschuldensabhängiger und verschuldensunabhängiger Haftung? Rechtlicher Umgang mit unerwünschten Ereignissen kann nicht nur das Behandlungsverhältnis beeinflussen, sondern auch zu einem veränderten Rollenverständnis, einer veränderten Risikokultur (Patientensicherheit Qualitätsmanagement) führen und systemisch wirken
30 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Eine Tat zieht ihre Konsequenzen, im Menschen und außer dem Menschen, gleichgültig, ob sie als bestraft, gesühnt, vergeben oder ausgelöscht gilt Friedrich Nietzsche