Der Anwendungsbereich der Rom I - Verordnung - Vertragsbegriff und vorvertragliche Rechtsverhältnisse

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Transkript:

Der Anwendungsbereich der Rom I - Verordnung - Vertragsbegriff und vorvertragliche Rechtsverhältnisse MATTHIAS LEHMANN I. Einleitung... 17 II. Vertragliche Schuldverhältnisse im Allgemeinen... 19 1. Nationaler Begriff vertraglich... 20 2. Autonomer Begriff vertraglich... 22 a) Allgemeine Rechtsgrundsätze... 22 b) Gemein- oder naturrechtlicher Vertragsbegriff... 22 c) Ökonomischer Vertragsbegriff... 23 d) Projekte für ein europäisches Vertragsrecht... 24 e) Parallele zum Zuständigkeitsrecht... 24 f) Funktionaler Vertragsbegriff... 28 3. Einzelfragen... 30 4. Begriff des Schuldverhältnisses... 32 III. Vorvertragliche Rechtsverhältnisse im Besonderen... 34 1. Parallele zum Zuständigkeitsrecht... 34 2. Kollisionsrechtliche Qualifikation... 34 a) Anwendung des funktionalen Vertragsbegriffs... 34 b) Qualifikation als vorvertraglich... 36 IV. Schlussfolgerung... 39 I. Einleitung Der Anwendungsbereich ist eines der nebulösesten Kapitel der geplanten Rom I-Verordnung. 1 Das mag erstaunen, lehnt sich doch die insoweit einschlägige Bestimmung des Artikel 1 der Rom I-Verordnung eng an Artikel 1 des Europäischen Schuldvertragsübereinkommens (EVÜ) 2 an. Vergleicht man den von der Kommission vorgeschlagenen Text mit dem ihres Vorläufers, so fallen auf den ersten Blick nur wenige Abweichungen auf. In Artikel 1 Abs. 1 S. 1 ist zum einen eine ausdrückliche Beschränkung auf zivilund handelsrechtliche vertragliche Schuldverhältnisse eingefügt worden, die in Artikel 1 Abs. 1 EVÜ noch nicht vorhanden war. Die praktische Bedeutung dieser Einschränkung ist jedoch gering. Auch ohne sie wäre wohl 1 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), KOM (2005) 650 endg. 2 Europäisches Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht v. 19.6.1980, ABlEG L 266, S. 1; BGBl. 1986 II 810.

18 Matthias Lehmann niemand auf die Idee gekommen, öffentlichrechtliche Verträge der Rom I- Verordnung zu unterstellen. Die besondere Erwähnung der zivil- und handelsrechtlichen Natur dient allein dem Gleichklang mit der EuGVO 3 und der geplanten Rom II-Verordnung. 4 Dasselbe Bemühen nach Übereinstimmung mit EuGVO und Rom II erklärt auch Artikel 1 Abs. 1 S. 2 der Rom I- Verordnung, der Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten vom Anwendungsbereich der Rom I-Verordnung ausnimmt und damit dem Artikel 1 Abs. 1 S. 2 der EuGVO und der geplanten Rom II- Verordnung entspricht. Grundlegende Neuerungen sind daher in Artikel 1 Abs. 1 Rom I-Verordnung-E nicht enthalten. Nicht anders verhält es sich auf den ersten Blick bei Artikel 1 Abs. 2, der die vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgenommenen Gebiete einzeln aufführt. Die hier vorgenommenen Änderungen sind zunächst nur redaktioneller Natur. So werden aus den vom EVÜ in Artikel 1 Abs. 2 lit. b ausgeklammerten erb- und familienrechtlichen Schuldverhältnissen in der Rom I-Verordnung zwei getrennte Punkte. 5 Der Inhalt bleibt jedoch derselbe. Ähnlich verhält es sich mit dem in Absatz 2 lit. e EVÜ ausgeklammerten Gebiet des Gesellschaftsrechts. Die dort enthaltene lange und umständliche Klausel wird in Artikel 1 Abs. 2 lit. f der Verordnung wortwörtlich wiederholt und zusätzlich noch um den in der Artikel 1 Abs. 2 lit. f EVÜ enthaltene Frage der Vertretungsmacht angereichert, soweit sie das Gesellschaftsrecht betrifft. Alle anderen Fragen der Vertretung, die früher aus dem Anwendungsbereich ausgeklammert waren, sollen nunmehr in der Rom I- Verordung geregelt werden. 6 Dadurch ergibt sich eine Änderung des Anwendungsbereichs, die in einem gesonderten Referat behandelt wird. 7 Scheinbar ebenfalls erweitert wird der Anwendungsbereich um die Versicherungsverträge. Diese waren in Artikel 1 Abs. 3 EVÜ ausdrücklich ausgeschlossen. Eine entsprechende Klausel findet sich in Artikel 1 der Rom I- Verordnung zwar nicht. Dasselbe Ergebnis wird jedoch durch einen Verweis in Artikel 22 auf die im Anhang genannten beiden versicherungsrechtlichen 3 Art. 1 Abs. 1 S. 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates v. 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivilund Handelssachen, ABlEG L 12 vom 16.1.2001, S. 1. 4 Art. 1 Abs. 1 S. 1 des Rom II-Verordnung-Entwurfs, siehe Geänderter Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf ausservertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht ( Rom II ), KOM (2006) 83 endg. Soweit in diesem Referat auf die Rom II-Verordnung Bezug genommen wird, ist der geänderte Vorschlag gemeint. 5 Art. 1 Abs. 2 lit. a und b Rom I-Verordnung-Entwurf. 6 Art. 7 Rom I-Verordnung-Entwurf. 7 Siehe das Referat von Ulrich Spellenberg in diesem Band.

Vertragsbegriff und vorvertragliche Rechtsverhältnisse 19 Richtlinien erzielt. 8 Zu diesem Thema ist ebenfalls auf ein gesondertes Referat zu verweisen. 9 Die wichtigste Änderung findet sich in Artikel 1 Abs. 2 lit. i des Entwurfs, wonach Verpflichtungen aus einem vorvertraglichen Rechtsverhältnis aus dem Anwendungsbereich der Rom I-Verordnung ausgeschlossen sein sollen. Diese Änderung nun bietet einen lohnenden Gegenstand für kritische Anmerkungen. Das gilt insbesondere aus Sicht des deutschen Rechts, spielt hier doch das das Institut der culpa in contrahendo eine besondere Rolle. Sie wird im nationalen Recht dogmatisch als vertraglicher Natur angesehen, und daher überrascht sicherlich den deutschen Rechtsanwender, dass sie nicht unter die Verordnung über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht fallen soll. Um die Gründe dafür zu verstehen, ist es notwendig, zunächst auf den Begriff des vertraglichen Schuldverhältnisses im europäischen Kollisionsrecht allgemein einzugehen. Erst wenn klar wird, warum die Verordnung auf vertragliche Schuldverhältnisse beschränkt ist, lassen sich Erkenntnisse darüber erhoffen, ob vorvertragliche Rechtsverhältnisse dem Regime der Rom I-Verordnung unterfallen sollten oder nicht. Daher folgen zunächst Ausführungen zum Begriff des vertraglichen Schuldverhältnisses im Allgemeinen (I), bevor auf den Ausschluss der vorvertraglichen Rechtsverhältnisse im Besonderen eingegangen wird (II). II. Vertragliche Schuldverhältnisse im Allgemeinen Wie auch das Römische Schuldrechtsübereinkommen betrifft die Rom I- Verordnung vertragliche Schuldverhältnisse. Der Ausdruck vertraglich ist zugleich entscheidend für die Abgrenzung zur Rom II-Verordnung, die auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwenden ist. Der Vertragsbegriff ist also der maßgebliche Dreh- und Angelpunkt für den Anwendungsbereich der beiden wichtigsten Teile des entstehenden neuen europäischen Kollisionsrechts. In gewisser Weise ist er zugleich die Achillesferse der von der Kommission beabsichtigten Vereinfachung: Denn gerät der Vertragsbegriff zu kompliziert, dann geht die Effizienz, die man durch ein europaweites Kollisionsrecht erreichen will, zum Teil wieder verloren. Daher ist besonders wichtig, dass man über eine besonders eindeutige Definition des Vertrags verfügt. Die Krux liegt nun darin, dass es sich die Vertragsstaaten des EVÜ denkbar einfach gemacht haben. Sie haben den in Artikel 1 Abs. 1 verwendeten Begriff des vertraglichen Schuldverhältnisses nirgends definiert. Stattdessen haben sie in Artikel 1 II aufgeführt, was ihrer Auffassung nach nicht unter die Konvention fallen soll. Die Kommission hat 8 Vgl. Leible, EuZ 2006, 78 (79). 9 Siehe das Referat von Ansgar Staudinger in diesem Band.

20 Matthias Lehmann diese Vorgehensweise in ihrem Vorschlag zur Rom I-Verordnung beibehalten. Daher bleibt der Vertragsbegriff auch unter Rom I offen. 1. Nationaler Begriff vertraglich Auf den ersten Blick könnte man den Eindruck haben, diese Lücke sei recht einfach zu schließen. Denn der Begriff des vertraglichen Schuldverhältnisses scheint denkbar einfach. Jeder Jurist und sogar Nichtjurist meint zu wissen, was ein Vertrag ist. Doch ist es durchaus unklar, was mit dem Begriff vertragliches Schuldverhältnis gemeint ist. Wie so oft sind es die einfachen und grundlegenden Begriffe, die besonders schwierig zu fassen sind. Die Vertragsstaaten des Römischen Übereinkommens haben, wie gesagt, den Begriff des vertraglichen Schuldverhältnisses nicht definiert. Sie haben ihn einfach in verschiedenen Sprachen angegeben. Nun bedeutet der Ausdruck vertragliche Schuldverhältnisse nicht genau dasselbe wie contractual obligations oder obligations contractuelles oder obligaciones contractuales. Schon bei der Übersetzung ist hier nicht ganz genau gearbeitet worden: Unter dem deutschen Ausdruck Schuldverhältnis wird klassischerweise ein sinnhaftes Gefüge verschiedener Rechte und Pflichten verstanden. 10 Dem entspricht im Französischen eher der Begriff relations contractuelles, im Englischen contractual relations, im Spanischen relaciones contractuales. Der Ausdruck obligation oder obligación ist dagegen viel enger und wird meist auf einzelne Pflichten bezogen. 11 Statt des Terminus vertragliches Schuldverhältnis wäre daher eine deutsche Übersetzung mit vertraglichen Verpflichtungen oder einfach mit Obligationen zutreffender gewesen. Der Unterschied mag gering erscheinen, doch ist er symptomatisch dafür, dass in Deutschland der vertragliche Bereich weiter als in anderen Ländern gezogen wird. Wichtiger als solche terminologischen Fragen ist, dass es in den Mitgliedstaaten kein einheitliches Konzept des vertraglichen Schuldverhältnisses gibt. Zwar existieren gewisse allgemeingültige Vorstellungen darüber, was ein Vertrag ist. Doch sieht man in Detailfragen des Vertragsrechts, so zeigen sich schnell Unterschiede. Die nationalen Zivilrechte enthalten ganz verschiedene Regeln darüber, wie ein Vertrag zustande kommt. So verlangt das englische Recht bekanntlich neben der Willensübereinstimmung eine consideration, 12 das französische Recht ein objet certain und eine cause licite. 13 10 Siehe z.b. Larenz, Schuldrecht I, 14. Aufl. 1987, S. 26 f. 11 Vgl. etwa zum französischen Recht Malaurie/Aynès, Les obligations I, 11. Aufl. 2001, S. 15. 12 Siehe Chitty on Contracts, 28. Aufl. 1999, Rn. 3-001 - 3-169; Collins, The Law of Contract, 2003, S. 59-67; Furmston (Hrsg.), The Law of Contracts, 1999, S. 47-105. 13 Art. 1108 Code civil.

Vertragsbegriff und vorvertragliche Rechtsverhältnisse 21 Diese Voraussetzungen mögen zwar funktionsgleich mit verschiedenen Instituten in anderen mitgliedstaatlichen Rechten sein, doch verbleiben nationale Eigenheiten. Diese haben Rückwirkungen auf den Vertragsbegriff. Denn durch die unterschiedlichen Regeln über das Zustandekommen wird natürlich auch mitbestimmt, was eigentlich ein Vertrag ist. Bisher ist es im Zivilrecht - anders als im Völkerrecht 14 - nicht gelungen, diese verschiedenen nationalen Voraussetzungen des Vertrags zu überwinden. Nur einige wenige Bestimmungen über den Vertragsschluss finden sich in Konventionen zu speziellen Rechtsgebieten, zum Beispiel dem Kaufrecht. 15 Eine völker- oder europarechtlich verbindliche Definition des Vertrags im zivilrechtlichen Sinne gibt es dagegen nicht. Nun könnte man der Ansicht sein, bei den genannten Besonderheiten der nationalen Rechte handele es sich nur um unterschiedliche Voraussetzungen eines gültigen Vertragsschlusses. Was ein Vertrag ist, sei dagegen durchaus Konsens zwischen den Mitgliedstaaten. Überall wird nämlich der Vertrag gleichbedeutend mit einer Willensübereinstimmung der Parteien gebraucht. Die weiteren Voraussetzungen, wie die consideration oder die cause, seien dagegen nur Bedingungen für die Wirksamkeit des Vertrags, gehörten aber nicht zu seinem Begriff. Ein solcher Vorrang der Willensübereinstimmung, wie ihn auch die Principles of European Contract Law (PECL) vorsehen, 16 ist aber im Grunde schon sehr von den deutschen Rechtsvorstellungen beeinflusst, denn in anderen Rechtsordnungen werden die übrigen Voraussetzungen eben als gleichwertig und nicht als weniger wichtig als die Willensübereinstimmung angesehen. Selbst wenn aber über den Begriff des Vertrags Einigkeit erzielt werden könnte, so bleibt zumindest der Umfang des vertraglichen Schuldverhältnisses in den nationalen Rechten verschieden. Denn welche Arten von Schuldverhältnisse vertraglicher und welche außervertraglicher Natur sind, wird durchaus unterschiedlich gesehen. 17 Daher existiert in der Union kein Konsens, was als vertraglich anzusehen ist und was nicht. Mit anderen Worten: Es gibt im Zivilrecht so viele Deutungen des Begriffs des vertraglichen Schuldverhältnisses, wie es nationale Rechtsordnungen gibt. 14 Vgl. Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge v. 23.5.1069, BGBl. 1985 II 926. 15 Siehe Art. 14-24 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über Verträge über den internationalen Warenkauf v. 11.4.1980, BGBl. 1989 II 588. 16 Art. 2:101 PECL. 17 S. z.b. zur Einordnung einseitiger Leistungsversprechen Mankowski, IPRax 2003, 127 (130).