Zur Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts *)

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Transkript:

Zur Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts *) Zur Bedeutung solider öffentlicher Haushalte Solide öffentliche Haushalte tragen wesentlich zu einer mittel- und langfristig stabilen Wirtschaftsentwicklung bei. Sie erhöhen das Wachstumspotenzial, indem sie das Vertrauen stärken und es damit den Konsumenten und Investoren erleichtern, langfristige Entscheidungen zu treffen. Darüber hinaus führen niedrige Defizit- und Schuldenquoten tendenziell zu einem niedrigen Zinsniveau, so dass Investitionen zu günstigen Bedingungen finanziert werden können. Haushaltsungleichgewichte können dagegen auch schon dann die Wachstumsaussichten beeinträchtigen, wenn sie sich erst für die Zukunft abzeichnen. Befürchten die Marktteilnehmer auf lange Sicht Tragfähigkeitsprobleme, kann das dazu führen, dass sie ihr Verhalten schon heute ändern. Ungelöste fiskalische Probleme, die beispielsweise aus den zukünftigen Haushaltsbelastungen auf Grund der demographischen Entwicklung herrühren, können zur Folge haben, dass mit zukünftig steigenden Abgaben gerechnet wird und deshalb langfristige Investitionen nicht getätigt werden. Ausgeglichene Haushalte oder Überschüsse erlauben dagegen eine Rückführung der Schuldenquote und verringern damit die Zinsbelastung für die öffentlichen Haushalte. So erleichtern sie die Bewältigung der demographisch bedingten Belastungen. * Stellungnahme der Deutschen Bundesbank, vorgelegt für die Anhörung des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages am 19.. 43

Unsolide öffentliche Finanzen können auch zu Konflikten zwischen der Haushalts- und Geldpolitik führen, indem Druck auf die Zentralbank ausgeübt wird, über eine Lockerung der Geldpolitik den realen Wert der Staatsschulden zu reduzieren. Hohe Inflationsraten hatten in der Vergangenheit oft ihre Ursache in einer Entwicklung der Staatsschulden, die auf Dauer nicht tragfähig war. Tatsächliche oder erwartete Konflikte zwischen Geld- und Finanzpolitik können zu Vertrauensverlusten führen, die die wirtschaftliche Entwicklung beeinträchtigen. Solide öffentliche Haushalte sind daher eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Zentralbank dauerhaft Preisstabilität bei niedrigen Zinsen sicherstellen kann. Eine solide Haushaltslage erhöht auch den Beitrag der Finanzpolitik zur Konjunkturstabilisierung. Befinden sich die öffentlichen Finanzen nämlich zu Beginn eines Abschwungs bereits im Ungleichgewicht, besteht möglicherweise nicht mehr genügend Spielraum, um eine konjunkturbedingte weitere Ausweitung der Defizite hinzunehmen. Außerdem kann in einer solchen Situation die Wirksamkeit der Finanzpolitik nachlassen, wenn die Marktteilnehmer davon ausgehen, dass die zunehmenden Haushaltsungleichgewichte mittelfristig korrigiert werden müssen. Dadurch steigt die Unsicherheit über die Abgabenlast und die Transferleistungen. Es entfällt der Zinsaufschlag, den Gläubiger als Kompensation für das nationale Inflationsund Abwertungsrisiko verlangen. Auf den sich übermäßig verschuldenden Mitgliedstaat fallen im Wesentlichen nur die Effekte zurück, die sich aus seiner Finanzpolitik für das Währungsgebiet insgesamt ergeben und von denen daher auch die Staaten mit einer soliden Finanzpolitik betroffen sind. Bei einer einheitlichen Geldpolitik ist es also umso notwendiger, übermäßige Defizite durch ein striktes haushaltspolitisches Überwachungsverfahren zu vermeiden. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt von 1997, der die Vorschriften des Maastricht- Vertrages konkretisierte, sollte sicherstellen, dass die Haushaltsdisziplin von allen Teilnehmerländern auch nach ihrem Eintritt in die Währungsunion gewahrt wird. Mit der Vorschrift, mittelfristig für einen ausgeglichenen Haushalt oder Haushaltsüberschüsse zu sorgen, wurde zugleich auch ein Sicherheitsabstand zum 3 %-Referenzwert für die Defizitquote geschaffen, der im Konjunkturverlauf ein Wirkenlassen der automatischen Stabilisatoren gestattet. Der vertragliche Referenzwert stellt die Obergrenze für das staatliche Finanzierungsdefizit dar. Die Erfahrungen mit dem haushaltspolitischen Regelwerk In einer Währungsunion sind Regelwerke für solide öffentliche Finanzen besonders wichtig, weil die disziplinierende Wirkung der Finanzmärkte und damit der Anreiz zu einer soliden Finanzpolitik weniger ausgeprägt ist. Die Notwendigkeit, für eine Teilnahme an der Währungsunion die Konvergenzkriterien erfüllen zu müssen, trug zu den Konsolidierungsfortschritten bei den öffentlichen Finanzen in den EU-Mitgliedstaaten bis 1997 bei. 44

In der Stabilitätserklärung vom 1. Mai 1998 verpflichteten sich die Regierungen zu einem weiteren Defizitabbau bei günstiger Wirtschaftsentwicklung sowie einem beschleunigten Schuldenstandsabbau. Schließlich einigten sie sich im Oktober 1998 darauf, das mittelfristige Haushaltsziel bis 2002 zu erreichen. Bald nach Beginn der Währungsunion ließen die Konsolidierungsanstrengungen jedoch nach. Einige EU-Länder haben die wirtschaftlich zunächst guten Jahre nicht zu einer grundlegenden Konsolidierung der öffentlichen Finanzen genutzt. Auch in Deutschland wurde der geforderte strukturelle Haushaltsausgleich nicht erreicht. So stiegen die Haushaltsdefizite in der folgenden wirtschaftlichen Schwächephase schnell über die 3 %-Grenze. Das lag nicht allein an konjunkturellen Effekten. Vielmehr verschlechterte sich auch die um konjunkturelle Einflüsse bereinigte Haushaltsposition erheblich. Hauptursache hierfür war der deutliche Rückgang der staatlichen Einnahmenquote, der zum Teil auf grundsätzlich wünschenswerten, aber unzureichend gegenfinanzierten Steuersenkungen beruhte. schließlich ein übermäßiges Defizit für Portugal fest. Zuvor waren die Defizitzahlen für die Vorjahre dort drastisch nach oben korrigiert worden, so dass sich schon für das Jahr 2001 eine Referenzwertüberschreitung ergab. Im Januar und im Juni 2003 wurden auch für Deutschland und Frankreich übermäßige Defizite für das Jahr 2002 konstatiert. Beide Länder wurden aufgefordert, die Defizitsituation bis Ende 2004 zu bereinigen. Als Ende 2003 deutlich wurde, dass weder Deutschland noch Frankreich die Korrekturfrist einhalten würden, empfahl die Kommission dem Rat, im Einklang mit den Bestimmungen des Vertrages sowie des Stabilitäts- und Wachstumspakts, ein Inverzugsetzen beider Länder. Dabei sollte die Korrekturfrist bis Ende des Jahres 2005 verlängert werden. Diese Empfehlungen einer Verfahrensverschärfung fanden am 25. November 2003 nicht die erforderliche Mehrheit im Rat. Der Rat nahm vielmehr Schlussfolgerungen an, in denen er die Verfahren aussetzte. Deutschland und Frankreich verpflichteten sich darin zur Defizitkorrektur spätestens im Jahr 2005. Im Januar 2002 empfahl die EU-Kommission dem Rat, gegenüber Deutschland und Portugal Frühwarnungen auszusprechen, da die Haushaltsentwicklung in beiden Ländern deutlich schlechter verlief als geplant. Ihre Defizite gerieten in gefährliche Nähe zum 3 %-Referenzwert. Der Rat folgte diesen Empfehlungen allerdings nicht, weil Deutschland und Portugal in einer Selbstverpflichtung alle notwendigen Maßnahmen zusagten, um ein Überschreiten der 3 %-Grenze zu vermeiden. Im November 2002 stellte der Rat Die Klage der Kommission gegen diese Ratsbeschlüsse vor dem Europäischen Gerichtshof war insofern erfolgreich, als der Gerichtshof am 13. Juli 2004 die Schlussfolgerungen für nichtig erklärte, da sie außerhalb des vorgeschriebenen Verfahrens stünden. Erst ein halbes Jahr später legte die Kommission dem Rat eine Mitteilung zu den Defizitverfahren gegen Deutschland und Frankreich vor, in der sie erklärte, keine weiteren Maßnahmen gegen beide Länder zu empfehlen, da eine 45

Defizitkorrektur im Jahr 2005 erwartet werden könne. Die Reformvorschläge Sechs Jahre nach Beginn der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion ist die Lage der öffentlichen Finanzen einiger EU- Mitgliedstaaten sehr problematisch. Auch das haushaltspolitische Regelwerk hat an Glaubwürdigkeit verloren. Es ist gefährdet. Gegen sechs der neuen EU-Mitgliedsländer wurde im Jahr 2004 ein Defizitverfahren eingeleitet. Drei der alten EU-Länder weisen in der Herbstprognose der Europäischen Kommission für 2004 Defizite von mehr als 3 % des Bruttoinlandsprodukts auf. Besonders problematisch aber ist, dass die Kommission auf die Probleme bei der Umsetzung des Paktes im September 2004 mit ¾nderungsvorschlägen reagierte, die den Forderungen der Defizitländer nach einer Lockerung der Vorschriften weitgehend entgegenkommen. rung struktureller Reformen sowie der Bedarf an zusätzlichen öffentlichen Investitionen dienen. Im Wesentlichen schlug die Kommission folgende ¾nderungen vor: 1) 1. Möglichkeit für die Kommission, bei unangemessenen Haushaltsentwicklungen direkt, das heißt ohne Zustimmung des Rates, Frühwarnungen an den betreffenden Mitgliedstaat auszusprechen. Hiermit und mit entsprechenden Empfehlungen im Rahmen der Grundzüge der Wirtschaftspolitik soll auch im Aufschwung eine angemessene Ausrichtung der Finanzpolitik erreicht werden. 2. Stärkere Beachtung von Schuldenstand und Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte. Dazu könnte unter anderem die im EG-Vertrag enthaltene Forderung, dass Schuldenquoten oberhalb des Referenzwertes von 60 % hinreichend rückläufig sind und sich rasch genug dem Referenzwert nähern, konkretisiert werden. Insbesondere tritt die Kommission für eine stärkere Berücksichtigung länderspezifischer Gegebenheiten ein. Sie begründet dies mit dem höheren Grad an Heterogenität zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union nach der jüngsten Erweiterungsrunde. Eine verbesserte ökonomische Ratio durch eine stärkere Berücksichtigung länderspezifischer Gegebenheiten werde die Bereitschaft der Mitgliedstaaten erhöhen, sich veränderten Regeln unterzuordnen. Als Kriterien für die Differenzierung sollen vor allem die Höhe und Entwicklung der Schuldenquote eines Landes, die Wirtschaftslage, die Durchfüh- 3. Stärkere Berücksichtigung länderspezifischer Gegebenheiten (insbesondere der Höhe und Entwicklung der Schuldenquote) bei der Definition des mittelfristigen Ziels eines nahezu ausgeglichenen Haushalts oder eines Haushaltsüberschusses. Das mittelfristige Ziel soll unter Verzicht auf die bisherige Definition länderspezifisch konkretisiert werden. 1 Vgl.: Europäische Kommission, Stärkung der Economic Governance und Klärung der Umsetzung des Stabilitätsund Wachstumspakts, Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament vom 3. September 2004. 46

4. Berücksichtigung länderspezifischer Gegebenheiten und Entwicklungen bei der Anwendung des Verfahrens bei übermäßigem Defizit. Dabei ist sowohl an eine Ausweitung der Ausnahmen gedacht, bei denen die 3 %-Grenze überschritten werden darf, als auch an längere Fristen für die Korrektur übermäßiger Defizite. Der ECOFIN-Rat hat bei seinem Treffen am 11. September 2004 die Vorschläge der Kommission als gute Diskussionsgrundlage angesehen. Inzwischen sind weitere Vorschläge in die Debatte über die Reform des fiskalischen Regelwerks der EU eingebracht worden. Insbesondere wurde vorgeschlagen, bestimmte Ausgabenkategorien nicht auf die 3 %- Grenze anzurechnen oder bei der Interpretation des Defizits zu berücksichtigen. Dabei wurden zum einen staatliche Ausgaben genannt, die tendenziell das Wachstumspotenzial in dem jeweiligen Mitgliedstaat anheben könnten (z. B. Ausgaben für Investitionen, Bildung sowie Forschung und Entwicklung), zum anderen aber auch Militärausgaben und die Netto-Zahlungen an die Europäische Union. Besonders problematisch sind die Vorstellungen zur ¾nderung des mittelfristigen Haushaltsziels. Dann würde von der bisherigen Interpretation abgewichen, nach der die Defizitquote in konjunkturbereinigter Betrachtung höchstens einen halben Prozentpunkt betragen soll. Dies führt zu einer zunehmenden Komplexität und Intransparenz der Regeln. Ihre Durchsetzbarkeit würde sich verringern. Wenn die Anforderung für einige Länder gelockert wird, erhöht sich zudem die Gefahr, dass im Abschwung die 3 %-Grenze für die Defizitquote überschritten wird. Darüber hinaus ist auch eine Aufweichung des Referenzwertes für die Defizitquote durch ausgeweitete Ausnahmeklauseln oder längere Korrekturfristen abzulehnen. Solche ¾nderungen würden die Disziplinierung über Sanktionen schwächen und zu größeren diskretionären Entscheidungsspielräumen führen. Die Regelbindung würde faktisch aufgegeben. Damit besteht die Gefahr, dass Defizite von mehr als 3 % des Bruttoinlandsprodukts in einigen Ländern zukünftig eher die Regel als die Ausnahme bilden könnten. Die damit einhergehende Schuldenakkumulation stünde nicht nur im Widerspruch zu den grundlegenden Zielen des fiskalischen Regelwerks, sondern würde auch die Bewältigung der zu erwartenden Belastungen durch die demographische Entwicklung erschweren. Ebenfalls abzulehnen ist es, bestimmte Ausgabenkategorien nicht auf den Referenzwert anzurechnen oder bei der Interpretation des Defizits zu berücksichtigen. Dies würde bedeuten, dass die 3 %-Grenze praktisch aufgegeben würde. Daraus könnten Tragfähigkeitsprobleme resultieren, die die Rahmenbedingungen für nachhaltiges Wachstum und eine stabilitätsorientierte Geldpolitik verschlechtern. Neben diesen fundamentalen Einwänden gegen das Herausrechnen bestimmter Ausgabenkategorien ist insbesondere auf die kaum zu lösenden statistischen Schwierigkeiten hinzuweisen, die eine solche Reform mit sich brächte. 47

Ökonomisch nicht nachvollziehbar ist schließlich auch die Forderung nach einer Nichtanrechnung von Netto-Zahlungen an die EU. Statt die Finanzierungslasten durch Kreditaufnahme auf künftige Generationen zu überwälzen, sollten Zahlungen an die EU aus laufenden Einnahmen bestritten werden. Vorschläge für eine Aufweichung der 3 %- Grenze suggerieren, dass es ein Vorteil für einen Mitgliedstaat wäre, wenn möglichst umfangreiche staatliche Verschuldungsmöglichkeiten bestehen. Fazit Der Stabilitäts- und Wachstumspakt manifestiert das Versprechen der europäischen Regierungen, mit dauerhaft soliden öffentlichen Finanzen zur Stabilität der gemeinsamen Währung beizutragen. Dieses Versprechen richtete sich insbesondere auch an die deutsche Bevölkerung, die mit der D-Mark ein Symbol des wirtschaftlichen Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg und der Solidität aufgeben sollte. Der Pakt war eine wichtige Voraussetzung für die positive Stellungnahme der Deutschen Bundesbank zur Einführung der gemeinsamen Währung. Er gehört damit zur Geschäftsgrundlage der Währungsunion. Es ist bedauerlich, dass nach Einführung des Euro der Wille zur Regelwahrung in der Finanzpolitik nachgelassen hat. Der Pakt stellt keine ökonomische Zwangsjacke dar, deren Vorschriften nur um den Preis wirtschaftlicher Stagnation und wirtschaftspolitischer Handlungsunfähigkeit zu erfüllen sind. In der Praxis belegen dies die Beispiele anderer EU-Volkswirtschaften, bei denen Wirtschaftswachstum und solide öffentliche Finanzen Hand in Hand gehen. Der Pakt ist hinreichend flexibel, und er ist vor allem ein Instrument der Prävention. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt hat ein Umsetzungsproblem, das von den Reformüberlegungen allerdings nicht berührt wird. Es ist darin begründet, dass in den Verhandlungen zum Pakt die deutschen Forderungen nach einem Entscheidungsautomatismus nicht durchsetzbar waren, sondern dem Rat auf den verschiedenen Stufen des Verfahrens Ermessenspielräume belassen wurden. Zudem sind tatsächliche und potenzielle Defizitländer nicht von allen Verfahrensentscheidungen ausgeschlossen. Nach Auffassung der Bundesbank würde der Stabilitäts- und Wachstumspakt durch die vorgeschlagenen Veränderungen nicht gestärkt, sondern entscheidend geschwächt. Die Lockerung der Haushaltsregeln könnte in den Mitgliedstaaten der EU einen Paradigmenwechsel in der Haushaltspolitik einleiten und zu Entwicklungen in der Wirtschaftsund Währungsunion führen, die Konflikte zwischen Finanz- und Geldpolitik wahrscheinlicher werden lassen. Der Anreiz zu soliden Haushaltspolitiken in den Teilnehmerländern der Währungsunion würde vermindert. Zudem würden falsche Signale an jene Länder gesendet, in denen die Gemeinschaftswährung bislang noch nicht eingeführt wurde. Vertrag und Pakt bilden bislang ein Regelwerk, dessen transparente Vorschriften in 48

sich konsistente Ziele verfolgen. Die Reformvorschläge stellen dagegen ein Ausnahmeregelwerk dar, dessen Teile nicht zusammenpassen. Die Prinzipien Einfachheit, Transparenz, Gleichbehandlung, Konsistenz und Operationalität Kennzeichen der Qualität und Durchsetzbarkeit eines Regelwerks werden dabei zu Gunsten größerer Flexibilität geopfert. Wird durch wachsende Ermessensspielräume und eine Verkomplizierung der Vorschriften die Ausnahme zur Regel erhoben, geht die Glaubwürdigkeit der Stabilitätsorientierung der Gemeinschaft verloren. Dies schadet längerfristig allen Mitgliedstaaten. Sollten bei der Durchsetzung der Reform die Haushaltsvorschriften geöffnet und neu formuliert werden, besteht die Gefahr, dass weitere Reformforderungen präsentiert werden, die über das Bisherige noch hinausgehen. Die negativen Erfahrungen mit finanzpolitischen Fehlentwicklungen in vergangenen Jahrzehnten sollten auch im Hinblick auf die veränderte demographische Situation der Gemeinschaft genau beachtet werden. Eine Reform oder Neuinterpretation des wohlbegründeten Stabilitäts- und Wachstumspakts, die mit einer Lockerung der Verpflichtung zu finanzpolitischer Solidität einhergeht, ist abzulehnen. Kurzfristige haushaltspolitische Erleichterungen dürfen nicht auf Kosten künftiger Generationen erkauft werden. 49

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