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Transkript:

TRIBÜNE-Gespräch mit Angela Merkel, Vorsitzende der CDU und der CDU/CSU-Bundestagsfraktion TRIBÜNE: Die DDR hat gegenüber Israel noch bis kurz vor der Wende und der deutschen Wiedervereinigung eine eindeutig feindselige Haltung eingenommen, es gab keinerlei Beziehungen. Wie haben Sie die Politik Ihrer damaligen Regierung wahrgenommen? MERKEL: Gerade als Wissenschaftlerin habe ich dieses Verhältnis als vollkommen unnormal empfunden. So unterhielt die DDR zum Beispiel keinen Postverkehr mit Israel. Wenn wir Reprints von Artikeln israelischer Wissenschaftler benötigten, dann mussten wir immer an Bekannte in Amerika schreiben, damit sie uns die Unterlagen besorgten und schickten. Wir hatten ja nicht einmal Kopiermöglichkeiten in der DDR das kann man sich heute alles gar nicht mehr vorstellen. Es gab mit Israel keinerlei Kontakt. Natürlich habe ich diese Haltung abgelehnt. Ich habe es sehr begrüßt, als die erste frei gewählte Volkskammer der DDR dann zu Beginn ihrer Tätigkeit im Jahre 1990 die Beziehungen zu Israel aufgenommen und diesem Aberwitz ein Ende gesetzt hat. TRIBÜNE: Zur PLO und Yassir Arafat existierten enge Kontakte sie wurden offiziell auch als»brüderlich«gepriesen. Man unterstützte die Palästinenser in ihrem Kampf gegen den»imperialistischen Judenstaat«. MERKEL: Auch diese einseitige Unterstützung der PLO habe ich niemals geteilt. Wir haben zu Hause mit meinen Eltern über die Aktivitäten der Palästinenser kritisch gesprochen. Es war ja bekannt, dass sie zum Beispiel westeuropäische Terroristen ausgebildet hatten. Deshalb habe ich mir über die PLO keine Illusionen gemacht. Natürlich ist uns auch aufgefallen, dass die arabischen Staaten nicht genügend getan haben, um den palästinensischen Flüchtlingen zu besseren Lebensbedingungen zu verhelfen. TRIBÜNE: Man kann also feststellen, dass eine Integration wie zum Beispiel die der Vertriebenen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg in den arabischen Staaten für die Palästinenser nicht stattgefunden hat. MERKEL: Eine wirkliche Integration hat eben auch in den arabischen Ländern nicht stattgefunden, sondern man hat die Palästinenser bewusst weiterhin in Flüchtlingslagern leben lassen.

198 TRIBÜNE-Gespräch mit Angela Merkel TRIBÜNE: Können Sie erklären, warum in der EU und auch in den Medien die PLO viel mehr Sympathie und Verständnis findet als die Israelis und ihre Verteidigungsmaßnahmen? MERKEL: Genauso wie ein sicheres Israel notwendig ist, muss ein lebensfähiger palästinensischer Staat geschaffen werden da sind sich inzwischen wohl alle einig. Dies ist das Kernziel für die Fortsetzung des Friedensprozesses auf der Grundlage der»road Map«. Was allerdings nicht in Ordnung war, war die Bereitstellung von Geldmitteln für die Palästinenser seitens der Europäischen Union zu einem Zeitpunkt, als Israel gerade durch das Einbehalten von Steuermitteln Druck ausüben wollte. Die EU hat nicht einmal Vorgaben gemacht, wofür man die Gelder ausgeben soll. Auch was die Kritik am Bau des Sicherheitszaunes betrifft, hätte ich mir persönlich eine abgewogenere Haltung gewünscht. Insofern plädiere ich sehr dafür, dass Deutschland seiner besonderen Verantwortung gegenüber Israel in seiner Politik immer gerecht wird. Der Bundesaußenminister hat dies aber auch schon in vielen Fällen unter Beweis gestellt hat. TRIBÜNE: Es stellt sich doch die Frage, ob wir nach über sechzig Jahren Frieden hier zu Lande überhaupt das Recht haben, über Notwehrmaßnahmen in Israel zu urteilen. MERKEL: Sicherlich ist es nicht einfach, von Deutschland aus die Lage in Israel richtig einzuschätzen. Wenn man sich dort aufhält, erlebt man eine Situation, die nicht nur politisch, sondern auch mit Blick auf die gesamten Lebensumstände sehr schwierig ist. Das Entscheidende ist dabei: Wie können wir die Lage in einer Region zutreffend beurteilen, in der Israel die einzige Demokratie nach westlichem Vorbild ist? Ich bin davon überzeugt, dass man auch in Israel weiß, wie wichtig die Fortsetzung des Nahost-Friedensprozesses ist. In der Geschichte dieses Prozesses hat es ja auch schon erhebliche Fortschritte gegeben, zum Beispiel was das israelisch-ägyptische Verhältnis betrifft. Jeder von uns wünscht sich doch in Zukunft eine bessere Situation im Nahen Osten. Wir wollen, dass die Israelis in Frieden und Sicherheit leben können. Dennoch sollten wir auch immer wieder versuchen, uns in ihre Lebenslage hineinzuversetzen. TRIBÜNE: Es gab in beiden deutschen Staaten lange und qualvolle Diskussionen darüber, wie die NS-Vergangenheit betrachtet werden sollte. Die Bundesrepublik hatte sich 1953 endlich dazu durchgerungen, die Verantwortung für die Verbrechen der Nationalsozialisten in Deutschland gegenüber den europäischen Juden zu übernehmen und Entschädigungszahlungen nicht nur an die Überlebenden der Shoah in der Diaspora, sondern auch an den jüdischen Staat zu leisten. Hingegen verweigerte sich die DDR, die doch den Antifaschismus zum Glaubenssatz erhoben hatte, solchen Überlegungen. MERKEL: Das Verhältnis der DDR zu Israel entsprang ja dem Selbstverständnis, dass die DDR mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun hätte. Sie war ein kommunistischer Staat, die Kommunisten waren der offiziellen Parteilinie gemäß auf der richtigen Seite gewesen, und insofern hat man sich für die Schreckensgeschehen des Krieges überhaupt nicht verantwortlich gefühlt, sondern die Bundesrepublik Deutschland dafür verantwortlich gemacht. Aus diesem Selbstverständnis heraus kam dann in unverfrorener Weise auch noch die Idee, man brauche Israel nicht anzuerkennen. Die DDR-Führung hat es sich mit der geschichtlichen Aufarbeitung sehr einfach gemacht: Sie fühlten sich einfach auf der richtigen Seite. Man kümmerte sich nur um die Kommunisten, die gelitten haben. Der Gedanke an die Ausrottung des jüdischen Volkes, die Singularität des Holocaust, wurde übergangen. Wenn wir als Kinder durch die KZ-Gedenkstätten geführt wurden, und das geschah sehr häufig, dann wurde dort nur über die ermordeten Kommunisten gesprochen. TRIBÜNE: Juden kamen überhaupt nicht vor?

199 MERKEL: Selten. Vereinzelt. Juden spielten dabei eine völlig untergeordnete Rolle. Vielleicht noch jüdische Kommunisten. Wenn man das heute bedenkt: Es war ganz unvorstellbar und vollkommen grotesk. TRIBÜNE: Jüdische Kommunisten als einzige anerkannte NS-Opfer unter den Juden. MERKEL: Ja, im Wesentlichen war es so. Die Juden, die polnischen Zwangsarbeiter, die Sozialdemokraten wurden am Rande erwähnt, aber im wesentlichen waren die Opfer der Nazis in der DDR vor allem Kommunisten. TRIBÜNE: So hat man sich die Opferrolle zu Eigen gemacht MERKEL: und damit war man entlastet. Man erklärte, dass die DDR der Teil Deutschlands war, der die richtige Lehre aus dem Nationalsozialismus gezogen hätte und in dessen Lebensbereich es ausschließlich Menschen gäbe, die mit dem Nationalsozialismus nur als Opfer zu tun hatten. Diese Sichtweise konnte ich niemals teilen. TRIBÜNE: Die Menschen in Israel spüren deutlicher und schmerzhafter als in fast allen anderen Staaten die Auswirkungen des fundamentalistischen Terrors. Anstatt sich das bewusst zu machen und ihre Abwehrmaßnahmen, wie z. B. die Errichtung eines Schutzzauns oder präventive Schläge gegen Terroristen zu akzeptieren, verurteilen die meisten westlichen Politiker diese aufs Schärfste. Die Opfer des Terrors werden zu Angeklagten. MERKEL: Wir müssen bei unserer Beurteilung immer bedenken, dass der Staat Israel nach wie vor zum Teil von Menschen und Ländern umgeben ist, die ihm sein Existenzrecht absprechen. Aus dieser Tatsache heraus entsteht natürlich ein beständiger und berechtigter Kampf ums Überleben. Und daraus ergibt sich wiederum eine ganze Reihe von Folgerungen für die Selbstverteidigung. Sie haben völlig Recht, Opfer dürfen niemals zu Angeklagten werden. Dennoch muss es möglich sein, in einem freundschaftlich-kritischen Dialog auch Fragen an Israel zu stellen. Ich denke, es gibt einen Unterscheid zwischen Verurteilung und Fragen stellen. Wenn wir fragen, ob der aktuelle Weg Israels der einzig Mögliche ist, dient das dem Dialog. Diesen Dialog muss es geben, nur so können wir das Verhalten Israels auch verstehen. TRIBÜNE: Viele deutsche und europäische Politiker, auch aus der Union, haben das»eigenmächtige«vorgehen Israels gerügt und eine Nahost-Friedenslösung unter Beteiligung der Europäischen Union und nach den Vorgaben der UNO verlangt. Wie ist Ihre Position? MERKEL: Einseitige Kritik an Israel teile ich nicht. Die Fortsetzung des Nahost-Friedensprozesses auf der Grundlage der»road Map«hatten wir alle mit einer großen Hoffnung verknüpft. Glücklicherweise haben wir ja in den letzten Jahrzehnten erleben dürfen, wie sich das Verhältnis zwischen Israel und Ägypten sehr stark verbessert hat. Jetzt hoffen wir natürlich auf die Möglichkeit eines solchen Prozesses auch mit anderen Ländern. Ich finde es sehr mutig, dass der israelische Premierminister den Abzug aus Gaza als eine eigenständige Leistung Israels einbringt. Mich hat seine Rede sehr beeindruckt, in der er beschrieb, wie er selbst früher Siedler zum Niederlassen im Gaza-Streifen ermutigt hat und dass er trotzdem aus der heutigen Situation heraus gänzlich andere Schlussfolgerungen zieht. Man kann nur hoffen, dass diese mutigen Schritte Erfolg haben, und auch diejenigen Staaten und Menschen sie anerkennen, die Israel nicht in Freundschaft verbunden sind. Der israelische Abzug sollte eine neue Dynamik im Friedensprozess entfachen. Für meine Partei kann ich sagen: Wir wollen Fortschritte entsprechend der»road Map«. TRIBÜNE: Da Sie sich auf die Road Map beziehen: Wie sollen die Verhandlungen vor sich gehen? Immer wieder wurde jeder bekannt gewordene Gesprächstermin mit der palästinensischen Administration sofort mit einem fürchterlichen Terroranschlag torpediert, was letztlich das Zustandekommen der Gespräche verhindert hat.

200 TRIBÜNE-Gespräch mit Angela Merkel MERKEL: Das ist ja das Bedauerliche. Terror und Bomben können nicht die Begleiterscheinung eines Friedensprozesses sein. TRIBÜNE: Es könnte schon lange einen Palästinenserstaat geben, wenn nicht Camp David gescheitert wäre. Damals hätten die Palästinenser 98 Prozent der besetzten Gebiete zurückbekommen können. MERKEL: Es war ein guter Pfad, der dort eröffnet wurde. Und es war damals ein schwerer Fehler, dass die palästinensische Seite diese weit reichenden Angebote abgelehnt hat. TRIBÜNE: Unter den 25 Mitgliedsstaaten der EU sympathisieren die Meisten eher mit den Palästinensern. In der Vergangenheit hat sich die Bundesrepublik oft bemüht, auch dort für die Anliegen Israels um Verständnis zu werben. Das hat jedoch stark nachgelassen, weil die Priorität der Bundesrepublik heute bei einem Konsens innerhalb der EU liegt. MERKEL: Deutschland muss beides leisten: Natürlich brauchen wir auch in der Nahost- Politik gemeinsame europäische Positionen. Aber gerade Deutschland muss sich aufgrund seiner sehr spezifischen Beziehung zum Staat Israel für die Belange Israels in der Europäischen Union deutlich einsetzen. TRIBÜNE: Welchen Ort in Israel möchten Sie gerne einmal besuchen und mit wem würden Sie dort sprechen wollen? MERKEL: Ich würde gerne wieder einmal an den See Genezareth fahren. Ich war einmal vor vielen Jahren in Tiberias. Wie man dort den Übergang nach Syrien sieht, die Golanhöhen, das hat mich sehr beeindruckt. Das ist ein gutes Beispiel für die Situation vor Ort, die wir uns in Deutschland gar nicht richtig vorstellen können. Wenn man sich das anschaut, bekommt man das Gefühl für die wirklichen Gegebenheiten zu spüren. Darüber hinaus war ich in Haifa in einer Schule, in der speziell russische Kinder integriert wurden und Hebräisch gelernt haben. Doch ich war noch nie in einem Kibbuzim, das würde mich sehr interessieren. Und ich würde gerne an das Tote Meer fahren. Es gibt also noch viele Reiseziele in Israel, die ich noch gar nicht gesehen habe. TRIBÜNE: Shimon Stein, der Botschafter Israels in Berlin, beklagte in einem Gespräch mit TRIBÜNE, dass die oft beteuerten»besonderen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel«nicht mehr so wie früher existierten. Er befürchtete, dass mit dem Generationenwechsel in Deutschland der Versuch einhergehen könnte, einen»schlussstrich«unter die jüngere Geschichte zu ziehen. MERKEL: Der Bundeskanzler spricht oft davon, dass das Ende der Nachkriegszeit gekommen sei. Ich finde, man muss mit einer solchen Formulierung sehr vorsichtig sein. Auf der einen Seite ist es richtig, Deutschland ist wiedervereinigt, das war ein großer Vertrauensbeweis der internationalen Gemeinschaft gegenüber unserem Land. Es hat damit gleiche Rechte und gleiche Pflichten wie andere Länder. Trotzdem kann man sich gerade wegen dieser guten Entwicklung niemals aus seiner Geschichte davonstehlen. Die Gründung des Staates Israel war eben mit der schrecklichen Verfolgung und Ausrottung durch den Nationalsozialismus verbunden, sie gab den entscheidenden Impuls. So wie wir die guten Teile der deutschen Geschichte im Bewusstsein haben, dürfen wir auch diese negativen Teile nicht vergessen. Darum wird die Beziehung zwischen Israel und Deutschland immer von besonderem Charakter bleiben. Zwar gehöre ich auch der Generation an, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren ist, aber ich werde das niemals vergessen. TRIBÜNE: Die Formulierung über das Ende der Nachkriegszeit bezieht der Bundeskanzler aber auf den Erfolg bei der Entschädigung der Zwangsarbeiter. Mit dem Eingestehen dieser Schuld und dem Versuch finanzieller Hilfe für die noch lebenden Sklavenarbei-

201 ter ist eine Epoche in der Schwebe abgeschlossen, die sich den Folgen des Krieges nicht stellen wollte. MERKEL: Ja, die Entschädigung der Zwangsarbeiter war ein wichtiger Punkt, die Geschichte ist damit aber nicht abgeschlossen. Es wurde eine offene Frage bewältigt, aber damit hat sich ja die Vergangenheit nicht geändert. Man kann sich doch aus der Geschichte nicht herauszahlen. TRIBÜNE: Obwohl es in der CDU/CSU stets einzelne Abgeordnete gab, die geradezu leidenschaftlich für eine Aufhebung der Verjährungsfristen für NS-Verbrechen plädiert haben, hat Ihre Fraktion in den diesbezüglichen Debatten des Bundestages stets mehrheitlich ein Ende der Verfolgung gefordert. Die Öffentlichkeit muss doch den Eindruck gewinnen, dass Ihre Partei einen endgültigen»schlussstrich«unter die Nazi-Zeit zu ziehen versucht. MERKEL: Es stimmt ausdrücklich nicht, dass die CDU ein Ende der Verfolgung von NS-Verbrechen fordert. Gerade deshalb ist die Verjährung von Mord und Völkermord im Gegensatz zu allen anderen Straftaten bei uns ausgeschlossen. Und wir wollen auch keinen»schlussstrich«unter die NS-Zeit ziehen. TRIBÜNE: Wenn man wie Sie ein wichtiges politisches Amt hat und weitere anstrebt, hat man mit Gewissheit Vorbilder. Wer sind Ihre größten Vorbilder unter den israelischen und deutschen Politikern aus Vergangenheit und Gegenwart? MERKEL: In der deutschen Politik war sicherlich Konrad Adenauer eine sehr beeindruckende Persönlichkeit, auch in Bezug auf die Geschichte meiner Partei. Unter den israelischen Politikern hat mich persönlich Menachem Begin sehr beeindruckt. Er war ja selber noch am Sechs-Tage-Krieg mit Ägypten beteiligt. Er galt als»hardliner«und hat sich dann trotzdem dem Friedensprozess geöffnet, ihn vorangetrieben. Das finde ich beeindruckend. Und nachdem ich selbst mehrfach die Gelegenheit hatte, Shimon Perez zu treffen, gehört auch er zu den israelischen Politikern, die ich persönlich bewundere. Er hat so viel getan, um das Verständnis für Israel zu wecken. Und obwohl man ihn nicht als einen»hardliner«bezeichnen würde, hat er immer konsequent die Interessen seines Landes vertreten. Es wäre ein eklatanter Fehler zu glauben, man hätte mit ihm einen biegsamen Linken, der alles mitmachen würde. Er hat immer ganz klar gesagt:»so weit und keinen Schritt weiter«. Das gilt auch und gerade für das Verhältnis zu den Palästinensern. Ich konnte mich mit ihm mehrmals über Arafat unterhalten. Auch ihm gegenüber hat Perez immer eine sehr harte Haltung gehabt, obwohl er alles versucht hat, um einen Frieden zu erreichen. TRIBÜNE: Wenn Sie Bundeskanzlerin werden sollten, welchem Land würden Sie Ihren ersten Staatsbesuch abstatten? MERKEL: Für einen deutschen Bundeskanzler ist generell Israel ein Land, dass er als eines der Ersten besuchen sollte. Das Gespräch führte Otto R. Romberg.