Pierre de Marivaux DER STREIT (Originaltitel: La dispute) Komödie Aus dem ranzösischen von Lothar Ehrlich 1
henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 1998 Als unverkäufliches Manuskript vervielfältigt. Alle Rechte am Text, auch einzelner Abschnitte, vorbehalten, insbesondere die der Aufführung durch Berufs- und Laienbühnen, des öffentlichen Vortrags, der Buchpublikation und Übersetzung, der Übertragung, Verfilmung oder Aufzeichnung durch Rundfunk, Fernsehen oder andere audiovisuelle Medien. Das Vervielfältigen, Ausschreiben der Rollen sowie die Weitergabe der Bücher ist untersagt. Eine Verletzung dieser Verpflichtungen verstößt gegen das Urheberrecht und zieht zivil- und strafrechtliche Folgen nach sich. Die Werknutzungsrechte können vertraglich erworben werden von: henschel SCHAUSPIEL Marienburger Straße 28 10405 Berlin Wird das Stück nicht zur Aufführung oder Sendung angenommen, so ist dieses Ansichtsexemplar unverzüglich an den Verlag zurückzusenden. F2 2
PERSONEN Der Mesrou Adine Mesrin Meslis Dina Gefolge des en Das Stück spielt auf dem Lande. 3
1. Szene Der,,, Mesrou. Wohin gehen wir, Seigneur? Das hier ist der wildeste und einsamste Ort der Welt, und nichts deutet auf das Fest hin, das Sie mir versprochen haben. (Lachend.) Alles ist dafür bereit. Daraus werde ich nicht klug; was ist das für ein Haus, in das Sie mich eintreten lassen dieses sonderbare Gebäude? Was bedeutet die gewaltige Höhe der verschiedenen Mauern, die es umgeben? Wo führen Sie mich hin? Zu einem sehr merkwürdigen Schauspiel. Sie wissen, welche Frage wir gestern abend erörtert haben. Sie behaupteten gegen meinen ganzen Hof, nicht Ihr Geschlecht habe zuerst das Beispiel der Unbeständigkeit und der Untreue in der Liebe gegeben, sondern unseres. Ja, Seigneur, und das behaupte ich noch immer. Mit der Unbeständigkeit und der Untreue konnte nur jemand beginnen, der dreist genug ist, über nichts zu erröten. Wie sollten die Frauen, denen Schamhaftigkeit und Schüchternheit natürlich sind, seitdem es die Welt und ihre Verderbtheit gibt wie sollten gerade sie als erste Lastern des Herzens verfallen sein, die soviel Unverfrorenheit erfordern, soviel Leichtfertigkeit des Gefühls, soviel Schamlosigkeit wie die, von denen wir sprechen? Das ist ganz undenkbar. Keine Frage,, ich finde das auch nicht wahrscheinlicher als Sie; mit mir müssen Sie darüber nicht rechten; ich bin Ihrer Meinung gegen alle Welt, das wissen Sie. Ja, aber aus purer Galanterie, das habe ich wohl bemerkt. Ob aus Galanterie, weiß ich nicht. Es ist wahr, ich liebe Sie, und mein unendliches Verlangen, Ihnen zu gefallen, kann mir sehr wohl einreden, daß Sie recht haben; aber eins steht fest, das redet es mir auf so schlaue Weise ein, daß ich es nicht merke. Ich gebe nichts auf das Herz der Männer, und ich liefere es Ihnen aus; ich glaube, es unter- 5
liegt ungleich mehr der Unbeständigkeit und der Untreue als das der Frauen; ich nehme mir nur meins davon aus, und auch meinem erwiese ich die Ehre nicht, wenn ich eine andere liebte als Sie. Diese Rede schmeckt sehr nach Ironie. Dann werde ich dafür nur zu bald bestraft werden; denn ich werde Ihnen gleich die Beweise an die Hand geben, um mich zu widerlegen, wenn ich anders denke als Sie. Was wollen Sie damit sagen? Nun, wir werden die Natur selbst befragen; nur sie kann die Streitfrage unwiderleglich entscheiden, und sicherlich wird sie zu Ihren Gunsten sprechen. Drücken Sie sich deutlicher aus, ich verstehe Sie nicht. Um genau zu wissen, ob die erste Unbeständigkeit oder die erste Untreue von einem Manne herrührt, wie Sie behaupten, und ich auch, hätte man die Entstehung der Welt und der Gesellschaft miterleben müssen. Zweifellos, aber wir waren nicht dabei. Wir werden dabei sein; ja, die Männer und Frauen jener Zeit, die Welt und ihre ersten Leidenschaften werden vor unseren Augen so wiedererstehen, wie sie waren, oder zumindest so, wie sie gewesen sein müssen; vielleicht werden es nicht die gleichen Abenteuer sein, aber die gleichen Charaktere; Sie werden den gleichen Zustand des Herzens sehen, Seelen, die so unschuldig sind wie die ersten, wenn das möglich ist. (Zu und Mesrou.) und Sie, Mesrou, gehen Sie, und wenn es für uns Zeit ist, uns zurückzuziehen, dann geben Sie das verabredete Zeichen. (Zum Gefolge.) Und Sie verlassen uns. 6
2. Szene, der. Sie machen mich neugierig, ich gestehe es. Die Sache ist die: Es ist achtzehn oder neunzehn Jahre her, da brach am Hofe meines Vaters der gleiche Streit aus wie heute; er wurde sehr hitzig geführt und dauerte sehr lange. Mein Vater, von Natur aus philosophisch veranlagt und übrigens nicht Ihrer Meinung, beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen, und zwar durch einen Versuch, der keine Fragen offen ließ. Sechs neugeborene Kinder, drei von Ihrem Geschlecht und drei von unserm, wurden in den Wald gebracht, wo er eigens für sie dieses Haus hatte bauen lassen. Hier wurde jedes von ihnen für sich allein untergebracht und lebt auch jetzt noch in einem Revier, das es nie verlassen hat, so daß sie sich nie gesehen haben. Sie kennen bisher nur Mesrou und seine Schwester, die sie großgezogen und immer für sie gesorgt haben; die zwei wurden wegen ihrer Hautfarbe ausgesucht, damit ihre Zöglinge erstaunt sind, wenn sie andere Menschen zu sehen bekommen. Wir geben ihnen also jetzt zum erstenmal die Freiheit, ihre Umgrenzung zu verlassen und sich kennenzulernen; man hat ihnen die Sprache beigebracht, die wir sprechen; wir können beobachten, wie sie miteinander umgehen, so als erlebten wir die frühesten Tage der Menschheit; die ersten Liebesbeziehungen werden von neuem beginnen; wir werden sehen, was sich dabei zuträgt. (Trompetensignal.) Aber ziehen wir uns schnell zurück, ich höre das verabredete Signal; gleich werden unsere jungen Leute erscheinen; hier ist eine Galerie, die um das ganze Gebäude herumführt; von da aus können wir sie sehen und hören, gleich von welcher Seite sie kommen. Gehen wir. 7
3. Szene,. Kommen Sie,, folgen Sie mir; hier ist unbekanntes Land, das Sie noch nicht gesehen haben; Sie können es unbesorgt betreten. Was sehe ich? Wieviele neue Welten! Es ist immer dieselbe, aber Sie kennen ihre ganze Größe noch nicht. Was für Länder! Was für Wohnungen! Ich komme mir winzig klein vor in so einem großen Raum; das macht mir Vergnügen und Angst. (Sie erblickt einen Bach und bleibt stehen.) Was sehe ich da für Wasser? Es schlängelt sich auf der Erde hin. Ich habe so etwas nie gesehen in der Welt, aus der ich komme. Sie haben recht; man nennt das einen Bach. (Hineinblickend.) Oh,, kommen Sie her, sehen Sie; in dem Bach da wohnt etwas, das sieht aus wie eine Person, und sie scheint über mich genauso erstaunt zu sein wie ich über Sie. (Lacht.) Aber nein, das sind Sie selbst, was Sie da sehen; das ist bei allen Bächen so. Was? Das bin ich, das ist mein Gesicht? Sicher. Aber wissen Sie auch, daß das sehr schön ist? Daß das ein bezauberndes Ding ist? Wie schade, daß ich es nicht eher gekannt habe! Es ist wahr, Sie sind schön. Wieso schön? Bewundernswert! Diese Entdeckung entzückt mich. (Sie betrachtet sich erneut.) Der Bach gibt meine ganze Erscheinung wider, und alles gefällt mir. Es muß Ihnen viel Vergnügen gemacht haben, mich anzusehen, Mesrou und Ihnen. Ich könnte mich mein Leben lang anschauen. Wie ich mich jetzt lieben werde! 8
Gehen Sie nach Herzenslust spazieren; ich lasse Sie allein und gehe in Ihre Wohnung zurück, ich habe dort noch etwas zu tun. Gehen Sie, gehen Sie; ich werde mich nicht langweilen mit dem Bach. 4. Szene,. ist einen Augenblick allein, erscheint. (Fährt fort und betrachtet ihr Gesicht.) Ich kann mich nicht sattsehen an mir. (Und dann, als sie bemerkt, erschrocken.) Was ist das, eine Person wie ich? Kommen Sie nicht näher. ( breitet bewundernd die Arme aus und lächelt.) Die Person lacht; man könnte denken, sie bewundert mich. ( tut einen Schritt auf sie zu.) Bleiben Sie stehen! Ihre Blicke sind aber sehr sanft Können Sie sprechen? Das Vergnügen, Sie zu sehen, hat mir zuerst die Sprache verschlagen. Die Person versteht mich, antwortet mir, und so freundlich! Sie entzücken mich. Umso besser. Sie bezaubern mich. Sie gefallen mir auch. Warum verbieten Sie mir dann weiterzugehen? Ich verbiete es Ihnen nicht mehr gern. Ich komme also näher. 9