Jewgeni Grischkowez DER PLANET. (Originaltitel: Planeta) Aus dem Russischen von Stefan Schmidtke
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- Hedwig Scholz
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1 Jewgeni Grischkowez DER PLANET (Originaltitel: Planeta) Aus dem Russischen von Stefan Schmidtke 1
2 henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 2003 Als unverkäufliches Manuskript vervielfältigt. Alle Rechte am Text, auch einzelner Abschnitte, vorbehalten, insbesondere die der Aufführung durch Berufs- und Laienbühnen, des öffentlichen Vortrags, der Buchpublikation und Übersetzung, der Übertragung, Verfilmung oder Aufzeichnung durch Rundfunk, Fernsehen oder andere audiovisuelle Medien. Das Vervielfältigen, Ausschreiben der Rollen sowie die Weitergabe der Bücher ist untersagt. Eine Verletzung dieser Verpflichtungen verstößt gegen das Urheberrecht und zieht zivil- und strafrechtliche Folgen nach sich. Die Werknutzungsrechte können vertraglich erworben werden von: henschel SCHAUSPIEL Marienburger Straße Berlin Wird das Stück nicht zur Aufführung oder Sendung angenommen, so ist dieses Ansichtsexemplar unverzüglich an den Verlag zurückzusenden. F1 2
3 Auf der Bühne ist ein Zimmer aufgebaut. Vor den Zuschauern schwebt ein Fenster. Es hängt vom Bühnenportal herab. Im Zimmer ist eine junge Frau. Auf der Vorbühne steht ein Mann. Er hält in beiden Händen Zweige, die er, als würden sie vom Wind bewegt, vor dem Fenster auf und ab wiegen läßt. Immer, wenn die Frau während der Vorstellung ans Fenster tritt, wird er mit den Zweigen wedeln. Der Mann (Wendet sich an die Zuschauer.) Einen Moment noch, gleich erzähle ich Ihnen alles, weil, irgendwie muß ich Ihnen die Situation ja erklären schon eigenartig, nicht wahr? Sie sehen ein Fenster, und dahinter ist ein Zimmer, in dem sich eine Frau aufhält Wenn die Frau an das Fenster tritt, dann kann sie all die Leute sehen, die ihr ins Fenster starren. Sie werden mir zustimmen, das würde Sie garantiert auch stören. Dagegen kann sie sich kaum wehren. Sie könnte vielleicht einfach weggehen oder das Licht ausschalten, die Gardinen zuziehen oder sich sogar eine neue Wohnung suchen So, deshalb stehe ich hier. Und immer, wenn sie ans Fenster herantritt, werde ich mit diesen Zweigen wedeln, auf und ab, als ob sie sich im Wind wiegen, oder ich werde irgend etwas anderes tun, damit sie genau das sieht, was man üblicherweise sieht, wenn man bei sich zu Hause aus dem Fenster schaut. Sie kann mich nicht sehen, und hören kann sie mich auch nicht. Ganz einfach deshalb, weil ich im Leben dieser Frau gar nicht vorkomme. Ja, und in meinem Leben wiederum gibt es die Frau nicht. Ich weiß ja nicht einmal, wo dieses Fenster überhaupt ist. Hier in dieser Stadt. In welcher Straße denn? In einer anderen Stadt? Die Frage bleibt: In welcher Straße? Kann sein, ich selbst habe dieses Fenster auch noch nie gesehen, nicht mal mit einem Blick gestreift. Aber solche Fenster gibt es überall! Du gehst eine Straße entlang, und rundherum sind viele Fenster. Sie leuchten warm, besonders im Winter. Gewöhnlich hebst du nicht einmal den Kopf, wenn du durch die Straßen gehst, sondern achtest auf deine Füße, damit du nicht in eine Pfütze trittst oder in einen Dreckhaufen, oder vielleicht in etwas noch viel Schlimmeres. Meist guckst du nur zu deinen Füßen runter, aber ringsherum sind überall Fenster. Fenster. Und wenn du in irgendeinen Hof reinschaust, hast du das Gefühl, daß da drinnen die Fenster kleiner sind, weil sie weiter weg sind. 3
4 Was gibt es zu sehen, wenn du in ein Fenster guckst? Wenn man in ein erleuchtetes Fenster mit aufgezogenen Gardinen schaut, sieht man meist einen Lampenschirm oder einen Kronleuchter oder eine Lampe. Irgendwelche Tapeten, Flecken an der Wand von Bildern oder Spiegeln, ein Stück Gardine. Kann sein, daß die Frau, die dort wohnt, lange gesucht hat, um genau diese Gardinen zu finden. Sie ist in die Stadt gefahren. Dann hat sie endlich die passenden gefunden, günstig. Und danach hat sie lange gebraucht, um ihren Mann zu überreden, daß er mitkommt und sein Okay gibt. Er hatte aber immer keine Zeit. Und dann endlich hat es geklappt. Sie fahren also los. Dann kommen sie in dieses Geschäft rein, dort gibt es Hunderte von Stoffen, alle in verschiedenen Farben. Und grelles Licht und viele, viele Frauen auf der Suche nach irgend etwas, was sie scheinbar unbedingt brauchen. Er ist gleich sauer, hat schlechte Laune und ist genervt. Aber sie zeigt ihm zwei von den Stoffen und fragt: Was denkst du, welcher ist besser, der hier oder der, mir scheint. Und er sagt ihr: Hör mal, mach das lieber selber, ich geh inzwischen eine rauchen! Und am Schluß entscheidet sie selbst. Und später, wenn sie sich zu Hause ausgeweint hat, denkt sie nach, wie sie die Gardinen am besten hindrapiert oder vielleicht noch eine Samtborte annäht. Und ich gehe durch die Straßen und schaue nicht mal zu den Fenstern hoch. Keine Gardine zu sehen, nicht mal die Ränder. Aber da, hinter dem Fenster ist eine Frau. Hat das eine Bedeutung eine Frau im Fenster? Eigentlich keine. Eine Frau, die man in der U-Bahn sieht, das ist schon viel mehr Sagen wir mal, du stehst in der U-Bahn. Wie immer wartest du auf den Zug, und neben dir steht eine Frau. Sie ist etwa in deinem Alter. Oder du bist schon im Zug, und eine Frau steigt in den Wagen und setzt sich irgendwohin. Da an die Seite Oder du bist selbst eingestiegen, und sie sitzt schon drin, fährt irgendwohin oder kommt von irgendwoher. Und du hast heimlich zu ihr rübergeschaut, oder es kann auch sein, du hast für eine Sekunde ihren Blick gestreift und gleich den Kopf wieder weggedreht. Du hast nicht in ihre Richtung geschaut, um sie dir dann vielleicht ohne Kleid vorzustellen. Nein. Du hast einfach 4
5 hingeguckt und fertig, aus. Als sie aber eine Station vor dir ausgestiegen ist oder du bist vor ihr ausgestiegen, dann hast du versucht, ihren Nacken hinter der Scheibe des fahrenden Zuges noch einmal zu erhaschen und hast ihn nicht erwischt. Tja. Es war also nichts. Fast nichts. Aber, es gab eine Chance. Die Möglichkeit, ein anderes Leben zu entdecken. Das heißt, es hätte die Möglichkeit gegeben, dein Leben mit dem Leben dieser Frau zu verbinden. Aber dieser Möglichkeit bist du nicht weiter nachgegangen. Sie hat auch keinen Versuch unternommen, ihr beide nicht. Hier also ist es: eine Frau im Fenster. Spät am Abend erlöschen die Lichter in den Fenstern, alle, nach und nach. Erst waren sie hell, und es brannte Licht und dann dunkel. Freilich, zur selben Zeit fangen die Sterne an zu leuchten. (Drückt auf einen Knopf, Sterne erleuchten.) Und je mehr Sterne aufgehen, desto weniger Fenster leuchten. Und es entstehen immer größere Löcher im Lichtermeer der Fenster. Schwarze Löcher. Das Lichtermeer wird durchlässig wie Spitze. Eine melancholische Stimmung macht sich breit. Dann bricht die Nacht herein. (Die Frau zieht die Gardinen zu, schaltet das Licht aus und verläßt das Zimmer.) Wie ist das zu verstehen, was ich da gesagt habe, daß es mich angeblich im Leben dieser Frau gar nicht gibt? Wie ist das überhaupt zu verstehen, mich gibt es nicht? Völlig unbegreiflich, daß ich nicht bin? Aber wie soll ich das verstehen? Soweit ich mich zurückerinnern kann bin ich immer da gewesen, mich gab es immer! Ehrlich gesagt, es gibt ein paar Abschnitte im Leben, an die kann ich mich nicht erinnern. Das kommt vor, nach einer Sauferei zum Beispiel. Aber später kommen Freunde zu Besuch und helfen, den Ablauf des Abends wieder zu vervollständigen. Und die Rekonstruktion der Ereignisse ist meist lustiger und interessanter als es die Party selbst war. Aber darum geht es jetzt nicht. Das Gefühl kenne ich gut. Ich meine dieses Gefühl von ich bin. Aber was bedeutet dagegen denn: Mich gibt es nicht? Okay. Es gibt auch das Gefühl: Besser, wenn ich nicht da wäre. 5
6 Dieses Gefühl stellt sich zum Beispiel am Morgen nach einer Sauferei ein, und zwar ganz massiv. Das meine ich aber auch nicht. Nein! Ich kenne die Freude an dem Gefühl, daß es mich gibt. Zum Beispiel, wenn du am Lagerfeuer sitzt. Also, wenn du am Lagerfeuer sitzt, bedeutet das, daß du nicht in der Stadt bist. Wer würde einem erwachsenen Menschen erlauben, in der Stadt ein Lagerfeuer anzuzünden und sich dann auch noch da hinzuhocken? Also du sitzt am Lagerfeuer, rundherum ist es dunkel, vor dir liegt ein Fluß, das Wasser glitzert, und am anderen Ufer blinkt irgendwas, und im Rücken hast du Wald Und weil das Feuer heruntergebrannt ist, sind die Dunkelheit und der Wald ganz nah an dich herangerückt. Dort in der Dunkelheit, sagt dir dein Gefühl, hält sich ein Wolf versteckt. Und deshalb, weil der Fluß glitzert und die Dunkelheit dich umschließt, und weil der Wolf ganz in der Nähe ist rückst du ganz nah an das Feuer heran. Und über dir, da sind der Himmel und die Sterne, und die Funken vom Lagerfeuer schwirren in bizarren Flugbahnen zu den Sternen hinauf, und es scheint dir, daß sie dort oben irgendwo ankommen. Und aus der Dunkelheit, von den Sternen herunter, so scheint dir, kommen Motten angeflogen. Und von alldem ergreift dich ein Gruseln, mit einem Schauer, so einem wohligen. Plötzlich stellst du fest, daß du auf einem Planeten sitzt. Hier unter dir ist ein Planet! So sitzt du da, und hier unter deiner Hand, die da liegt, ist Gras gewachsen, aus dem Planeten herausgesprossen, und etwa hier, so auf dieser Höhe, da ist ein Grashalm zu Ende, und dann kommt nichts mehr, nur noch ein bißchen Atmosphäre und danach das Weltall. Du sitzt. Neben dir das Gras. Genauer, du sitzt und hast ein wenig vom Gras dieses Planeten platt gesessen. Über dir ist nichts mehr. Hier dein Kopf, die Haare. Ein paar Haare stehen ab, wenn du überhaupt noch Haare haben solltest, und darüber ist der Kosmos. Fertig aus. Davon wird das Leben interessanter, und es wird spannender, man bekommt ein ganz besonderes Gefühl dafür. Man möchte noch mehr davon spüren, so wie man am liebsten noch einen 6
7 Scheit ins Feuer werfen will. Und es ist aufregend zu fühlen, wie der Wolf ganz in der Nähe herumstreicht. Ein Schreck fährt dir in die Glieder, weil du ganz genau fühlst, daß du bist, und daß du klein bist. Du bist sehr klein, aber es gibt dich! Dein Lagerfeuer ist vom anderen Ufer aus zu sehen, und es brennt hell. Dein Körper hat seine ganz eigene Temperatur. Die ist höher als die Temperatur um dich herum und viel höher als die Temperatur draußen im Weltall. Und überhaupt, daß es mich gibt, wenn auch nur klein, ist kosmisch, gigantisch. Viel mehr, als wenn es mich überhaupt nicht gäbe. Ich gar nichts wäre. Es gibt aber auch ganz andere Gefühle. Dieses Gefühl, wenn sich dein Verhältnis zu dir selbst vollkommen verändert, verschwindet. Das ist ein Gefühl, dafür gibt es auch ein Wort. In seiner Muttersprache kann man dieses Wort kaum aussprechen. In jeder Fremdsprache, sagen wir mal im Englischen oder Französischen, egal in welcher kann man das ganz einfach sagen. Das ist das Wort Liebe. Wenn man verliebt ist, kann man einfach abheben und verschwinden. Dann kann es sein, daß man nicht mehr da ist. Es ist einfach so: Du bist durch die Stadt gegangen und zack bist du verschwunden. Um später wieder, zack, aufzutauchen. Und die ganze Welt ist dann wie neu. Du ertappst dich selbst dabei, wie du auf einer Bank sitzt, auf die du dich, ohne verliebt zu sein, nie im Leben gesetzt hättest. Und an dir laufen Leute vorbei. Wohin sind die unterwegs? Du stehst auf und läufst ihnen hinterher. Du gehst und bist betrübt, bedauerst dich selbst, und plötzlich siehst du ein Gesicht in der Masse so ein Gesicht, daß es dir peinlich wird wegen deiner eigenen Gefühlsduselei. Du entdeckst zum Beispiel das Gesicht einer Frau, die an der U-Bahn Zeitungen verkauft und denkst: Was ist mit diesem Menschen passiert, daß sein Gesicht so geworden ist? Dann stehst du da, schaust in dieses Gesicht und denkst, was ist das für ein Leben, das so einen Ausdruck in den Menschengesichtern hinterläßt Im gleichen Moment fährt ein riesiger Bus mit Touristen vorbei. Und du begreifst in diesem Moment, daß du für die Touristen einfach nur zum Stadtbild gehörst, viel unwichtiger 7
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