Die Schnittstelle Kinder- und Jugendpsychiatrie und Rechtssystem

Ähnliche Dokumente
Wer entscheidet? Medizinische Überlegungen zur Frage der Zwangsbehandlung

Verantwortungsgemeinschaft von Jugendamt und Familiengericht beim Kinderschutz Schärfung der Rollen, Abgrenzung und Zusammenarbeit

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS

Neues aus dem Recht. Zwangsbehandlung, Selbstbestimmung und Betreuung bei psychischer Erkrankung

EINFÜHRUNG IN DIE FORENSISCHE PSYCHOLOGIE

Aufgabenkreise, Geschäftsfähigkeit, Einwilligungsvorbehalt, Einwilligungsfähigkeit, Genehmigungspflichten

4 Besonderheiten bei Demenz

Ärztliche Stellungnahme zur Planung einer Eingliederungshilfe

Kinderschutz im Gesundheitswesen Fachveranstaltung Ärztekammer Schleswig-Holstein Bad Segeberg, 10. September 2014

Der 105 JGG: Entwicklungspsychologische Erkenntnisse und gutachterliche Praxis

Jugendstrafrecht - wann, warum, für wen?

Forensisch-psychiatrische Aspekte des

Psychosoziale Diagnostik in der Jugendhilfe

Sexuelle Misshandlung von Kindern und Jugendlichen aus rechtlicher Sicht

WORKSHOP. Berlin Sept.2015

Institut für Rechtsmedizin Universitätsklinikum Ulm. Forensische Psychiatrie und Rechtsfragen

Clearingstelle Jugendhilfe/Polizei. Infoblatt Nr. 9

GESETZESTEXT. BGBl. I 110/ Bundesgesetz, mit dem das Ärztegesetz 1998 geändert wird - 2. Ärztegesetz-Novelle

Geschlossene Unterbringung - Zwangsbehandlung

Zwischen Wächteramt und Hilfeleistungsauftrag sitzt das Jugendamt. Am Beispiel:

Verwahrlosung älterer Menschen

Vorsorgevollmacht. ohne Zwang und aus freiem Willen gemäß 1896 Abs. 2 BGB folgende. Vorsorgevollmacht:

Die Rechte psychisch kranker Menschen und ihre Durchsetzung Die Rechte psychisch kranker Menschen und ihre Durchsetzung

Vorlesung 8: Änderung und Beendigung der Sanktion

DEUTSCHER PRÄVENTIONSTAG

Richtlinie Nr des Generalstaatsanwalts vom 22. Dezember 2010 betreffend die polizeilichen Einvernahmen (Stand am )

Kindesmisshandlung, Vernachlässigung und sexueller Missbrauch

Teil 1: Zitat: Einführung und Grundlagen

A n k l a g e s c h r i f t

Rechtsfragen der DNA-Analyse zum Zwecke der DNA-Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren

unbegleitete minderjährige Ausländer

Sexueller Missbrauch in Institutionen. Zartbitter e.v. Definition und Fakten. Ursula Enders 2012 mit Illustrationen von Dorothee Wolters

Keine Angst vor Zwangsmaßnahmen

Information zur Anschlussrehabilitation (AR) für die Patientin/den Patienten

BT-Drucksache 18/7244. Stellungnahme der Bundespsychotherapeutenkammer vom 12. Februar 2016

Geschlossene Unterbringung bei Demenz - muss das sein?

Beratungsstelle im Packhaus als Kompetenzzentrum. Packhaus Kiel

Präsentation von Barbara Petri. Kreisjugendamt Cochem-Zell

Forum: Jugendwohlgefährdung oder Kindeswohlgefährdung bei Jugendlichen

Fallbearbeitung Klausur WiSe 2010/11 Fr. Busse

Fachtagung. Kindeswohl als Kooperationsgrundlage von Ausländerbehörden und Jugendämtern. Ausländerrecht und Jugendhilfe aktuelle Entwicklungen

Optimierung der Gefährlichkeitsprognose in der forensischen Psychiatrie durch einen transdisziplinären Ansatz

Mitwirkung des Jugendamtes/ASD in Verfahren vor dem Familiengericht (Schwerpunkt Trennung/Scheidung)

Vollzeitpflege. Voraussetzungen. Ziel ( 33, 44 SGB VIII)

Umgang mit häuslicher Gewalt aus Sicht des Jugendamtes der. Stadt Marl

Prof. Dr. Michael Jasch

Krankheit. 1 Begriffliche Klärungen und grundsätzliche Überlegungen

bürgerorientiert professionell rechtsstaatlich Häusliche Gewalt Informationen und Hilfsangebote für Betroffene

Az. 3 Ss 89/02. Leitsatz:

Die Würde des Menschen ist unantastbar

Diagnostik von Traumafolgestörungen bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen

Konzept Ärztliche Psychotherapie

Aktuell sind in den Anstalten Thorberg 165 Männer im Freiheitsentzug. Davon 41 mit einer stationären Massnahme, nach Art 59 und 63, d.h. ¼.

Datenschutz in der Jugendhilfe

Übersicht: Zeugnisverweigerungsrechte, 52 ff. StPO / Verwertungsverbote nach 252 StPO. I. Zeugnisverweigerungsrechte, 52 ff. StPO

Arbeitsgemeinschaft der Betreuungsvereine

Besonderheiten der Beweiserhebung im EPG-Verfahren

ARBEITSBLATT 2.1. Skala zur Zufriedenheit mit der Beziehung

Systematik des SGB VIII

Sozialmedizinische Nachsorge

AMT FÜR SOZIALE DIENSTE

L Beweisrecht. (Art StPO)

Grau ist alle Praxis offene und geschlossene Hilfekonzepte jenseits der Extreme

Behandlung suchtkranker Straftäter: Entwöhnungsbehandlung oder Maßregelvollzug nach 64 StGB?

Forensische Harry Dettenborn ^,, Hans-H. Fröhlich rsycnologie J

Coaching als Brücke. Wie Umgehen mit Grenzthemen im Coaching? Dipl.-Psych. / Senior Coach DBVC. Die Coachs mit dem Trüffelschwein-Prinzip

1 Beobachtungen Begründeter Verdacht. Information der Leitung/des Dienstvorgesetzten. Siehe I. und II. der Dokumentationsvorlage

Handeln bei Anzeichen für eine mögliche Kindeswohlgefährdung (Umsetzung des 8a SGB VIII) Verfahrensablauf für Jugendeinrichtungen 1

Referentenentwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten (Patientenrechtegesetz) München, 29.3.

Die Mehrzahl der Sexualstraftäter ist nicht psychisch krank

Frau Prof. Renate Schepker Frau Dr. Christa Schaff.

Kinder- und jugendpsychiatrische Aspekte aggressiven Verhaltens

Zahlen, Daten, Fakten zu Jugendgewalt

Verwaltungsvorschrift zur Erstellung externer Sachverständigengutachten nach 5 Abs. 4 und 4a MVollzG (VwVEG)

Betreuung, Vorsorgevollmacht, Betreuungsverfügung, Patientenverfügung: Wofür brauche ich was?

Themenübersicht. Definition Gesetzliche Grundlagen Grundgesetz Strafgesetzbuch Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) PsychKG und VwVG der Länder

Inhaltsverzeichnis. Allgemeine Einführung in die Ursachen psychischer Erkrankungen sowie deren Bedeutung

Was tun in Schule, Kita, Heim, wenn von Körperstrafen der Eltern erfahren wird? Wann ist ein behördliches Verfahren angebracht?

Grundbedingungen nach Jaspers (1965)

Aufsichtspersonen sollten Bescheid wissen über evtl. Allergien oder Krankheiten (Medikamente).

Macht Eingliederungshilfe süchtig?

Kinderschutz macht Schule. Kindeswohlgefährdung im Kontext rechtlicher Rahmenbedingungen

Kooperation von Schule und Jugendamt

IG Metall Informationstagung Bereich Industrie am 4. Mai Beschwerderecht und die Behandlung von Beschwerden durch den Betriebsrat

3. Fachtag Arbeitskreis Jugendhilfe CJD e. V. Region West Wissen wir was wirkt wirkt was wir wissen?

Sicherheitsdepartement. Kantonspolizei. Rechtliches. Straftatbestände Vorgehen Anzeigeerstattung

Handlungsleitfaden zur Sicherstellung des Schutzauftrages bei Kindeswohlgefährdung

Psychiatrisch- Versicherungsmedizinisches für die Hausarztpraxis

Aufklärung/ informed consent. Rechtsdienst Dr.iur. Jürg Müller-Stähelin

Inhaltsverzeichnis. Vorwort... V Abkürzungsverzeichnis... XIII

Syndromspezifische Hilfe oder Empfundene Gängelung?

Forensische Kinder- und Jugendpsychiatrie Strafrecht

Stationäre Psychotherapie Wann ist sie sinnvoll?

Transkript:

Die Schnittstelle Kinder- und Jugendpsychiatrie und Rechtssystem in der Begutachtung delinquenter Jugendlicher Paul L. Plener Aachen 16.06.2012

Überblick Einleitung: Delinquenz im Jugendalter Forensik Ambulanz KJPP Ulm Unterbringung mit freiheitsentziehenden Maßnahmen Strafrechtliche Gutachten Beteiligte Problemfelder Diskussion

Delinquenz bei Jugendlichen I Anteil v. Jugendlichen (14-18) an registrierten Tatverdächtigen: 12% (BMI, 2009) B. 9-12-jährigen berichten 88-92% f. strafrechtlich relevanten Verstößen (Remschmidt & Walther, 2009), 13-21-jährige: 89% (nur 12% davon angezeigt) Gewaltdelinquenz bei Jugendlichen: Alkohol- und Drogenkonsum Konsum gewalthaltiger Medien Schuleschwänzen Akzeptanz gewaltorientierter Männlichkeitsphantasien (Baier et al., 2009) f. Überblick: Schepker, 2011

Delinquenz bei Jugendlichen II Gemittelte Anzahl v. Tatverdächtigen (PKS, 2008) Alter Vergewaltigung, sex. Nötigung Raub Tötungsdelikte Körperverletzung 14-17 52 200 2341 17950 18-20 114 261 2229 17030 21-25 82 182 1188 12354 Nedopil, 2011

Delinquenz bei Jugendlichen III Statistik BKA 2006 über die polizeilich verfolgten Straftaten: weit über ein Drittel aller Tatverdächtigen haben das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet (www.bka.de, 2008). Die Altersverteilung bei Delikten verläuft im Jugendalter gipfelartig mit einem steilen Anstieg in Pubertät und ebenso steilen Abfall im jungen Erwachsenenalter (Overbeek et al., 2001; Moffitt et al., 1993, 1996).

Delinquenz bei Jugendlichen IV 12 Monats Rückfallstatistik 14-jähriger Erstregistrierungen Naplava, 2011

Delinquenz bei Jugendlichen IV Raub und schwere Diebstahlsdelikte haben höchste Rückfallraten, mit höchstem Anstieg nach 1. Registrierung (ev. durch retrospektive Aufklärung weiterer Daten?), LKA NRW Daten Ev. Auswahl von Verdächtigen f. Interventionen? Naplava, 2011

Forensische Ambulanz KJPP Ulm 13 11 Gutachten 2011 5 5 5 5 4 3 Unterbringung Strafrecht Erziehungsf. Sorgerecht Sozialrecht/OEG Anderes Kindeswohlgef. Umgang 1 OA (50%) 1 Psychologe (50%) 8% 6% 10% 10% 10% 10% 25% 21%

KJPP u. delinquente Jugendliche KJPP Therapie Begutachtung

Generelle Kinderrechte Minderjährige: eigene, vom Elternwillen unabhängige, und im Zweifelsfall auch gegenüber diesem gleichberechtigte, teils vorrangige Rechte manche abhängig: von der kognitiven & allgemeinen Entwicklung, manche unabhängig: als elementare & generelle Rechte UN-Kinderrechtskonvention(1989): Recht von Kindern auf rechtliches Gehör und Information in allen sie betreffenden Angelegenheiten. Artikel 12&13: ein Minderjähriger soll sich seine Meinung bilden können und diese muß angemessen berücksichtigt werden

Freiheitsentziehende Maßnahmen Erwachsene: Unterbringungsgesetze der Länder Minderjährigen: BGB 1631b und über das SGB VIII 42 weitere Möglichkeiten gegeben, Minderjährige gegen ihren Willen (auch stationär) zu behandeln. Die zivilrechtlichen Unterbringungsmöglichkeiten haben mit den öffentlich-rechtlichen gemein, dass auch ihre Indikation und Verhältnismäßigkeit richterlich geprüft werden müssen und als Eingriff in die Autonomie des Minderjährigen nicht ohne Kontrolle bleiben können.

1631b BGB Eine Unterbringung des Kindes, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, ist nur mit Genehmigung des Familiengerichts zulässig. Ohne die Genehmigung ist die Unterbringung nur zulässig, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist; die Genehmigung ist unverzüglich nachzuholen. Das Gericht hat die Genehmigung zurückzunehmen, wenn das Wohl des Kindes die Unterbringung nicht mehr erfordert.

Wann ist eine Behandlung gegen den Willen gerechtfertigt? Unterbringung gegen den Willen: maximaler Eingriff in die Autonomie Wenn eine Gefahr für andere oder / und für das eigene Leben ausgeht Die Gefährdung kann akut: z.b. Suizidalität oder chronisch: Schulphobie, Anorexia nervosa, sein Nicht jede Krankheit rechtfertigt eine Unterbringung gegen den Willen eine Minderjährigen!

Bei welchen Krankheiten kann eine Behandlung gegen den Willen notwendig sein? Störung des Sozialverhaltens Psychosen Suizidalität Angststörungen (Schulphobie) Anorexia nervosa Abhängigkeitserkrankungen

Freiheitseinschränkende Maßnahmen in der KJPP Alle Maßnahmen müssen auf ihre Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit richterlich geprüft werden Als Eingriff in die Autonomie des Minderjährigen können sie nicht ohne Kontrolle bleiben Gefahr: wird geprüft ob Kind z.b. freiwillig auf Station ist? Ohne Fragen kann es sein, dass ein unausgesprochen unfreiwilliger Aufenthalt besteht Generell: Auch dem geschlossen untergebrachten Patienten muss das Verfahren transparent gemacht werden

Das Verfahren nach 1631b BGB I Wer stellt den Antrag? Die Sorgeberechtigten Wo wird der Antrag gestellt? Beim zuständigen Familiengericht Warum wird der Antrag gestellt? Da ansonsten eine Gefährdung zu erwarten wäre Was muss noch vorliegen? Eine Diagnose, wenn die Unterbringung in einer Klinik erfolgen soll Die mangelnde Behandlungseinsicht Eine ärztliche Stellungnahme über die Notwendigkeit der Maßnahme (nicht zwingend notwendig)

Das Verfahren nach 1631b BGB II Das Gericht prüft den Antrag und hört an: die Eltern den Minderjährigen evt. den Arzt Evt. fordert das Gericht ein ausführliches Gutachten eines Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie an Der Richter fertigt einen Beschluß Darin steht: wie lange warum evt. Einsetzung eines Verfahrenspflegers

Der Beschluß nach 1631b BGB Was bedeutet der Beschluß? Er erlaubt es Eltern, den Erziehungsauftrag (Fürsorgepflicht) wahrzunehmen, auch gegen den Willen des Kindes/ Jugendlichen und ihn/sie zu einer Behandlung auch gegen den Willen zu veranlassen. Dies kann unter Einschränkung der Freiheiten des Kindes und Jugendlichen erfolgen. Das Gericht genehmigt Eltern, dass sie das Kind gegen den Willen behandeln lassen dürfen. Wenn die Eltern dies nicht mehr wollen, erlischt das Recht z.b. einen Patienten gegen den Willen zu behandeln. Typische Missverständnisse: Das Gericht ordnet NICHT an, dass abgeschlossen sein muss dass ein Kind für die im Beschluß stehende Zeit in der Klinik bleiben muss

42 SGB VIII Unterbringung durch das Jugendamt: Inobhutnahme Bei unmittelbarer Gefährdung des Kindeswohls Innerhalb 24 h zu beenden Gegen den Willen der Sorgeberechtigten möglich Richterlich zu genehmigen

42 SGB VIII Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen (1) Das Jugendamt ist berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn 1. das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet oder 2. eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und a) die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder b) eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann [ ] (5) Freiheitsentziehende Maßnahmen im Rahmen der Inobhutnahme sind nur zulässig, wenn und soweit sie erforderlich sind, um eine Gefahr für Leib oder Leben des Kindes oder des Jugendlichen oder eine Gefahr für Leib oder Leben Dritter abzuwenden. Die Freiheitsentziehung ist ohne gerichtliche Entscheidung spätestens mit Ablauf des Tages nach ihrem Beginn zu beenden.

Strafrecht: 20 & 21 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. 21 Verminderte Schuldfähigkeit Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach 49 Abs. 1 gemildert werden.

20 & 21 StGB Vorliegen eines der Merkmale 20 StGB -> 21 StGB noch nicht abschließend beantwortet: Beeinträchtigung der psychischen Funktionsfähigkeit relevant. krankheitsbedingte Beeinträchtigung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit Hinweis: Einschränkung des sozialen od. beruflichen Handlungsvermögens? Frage nach Erheblichkeit muß Richter nach sachverständiger Beratung in eigener Verantwortung beantworten

2 & 3 JGG 3 Verantwortlichkeit Ein Jugendlicher ist strafrechtlich verantwortlich, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Zur Erziehung eines Jugendlichen, der mangels Reife strafrechtlich nicht verantwortlich ist, kann der Richter dieselben Maßnahmen anordnen wie das Familiengericht. 2 Die Anwendung des Jugendstrafrechts soll vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegenwirken. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten.

105 JGG 105 Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende (1) Begeht ein Heranwachsender eine Verfehlung, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist, so wendet der Richter die für einen Jugendlichen geltenden Vorschriften [..]an, wenn 1.die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, daß er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand, oder 2.es sich nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung handelt (3) Das Höchstmaß der Jugendstrafe für Heranwachsende beträgt zehn Jahre.

Grundsätze für Schuldfähigkeitsgutachten Wahl der Untersuchungsmethode: methodische Mittel auf aktuellem wissenschaftlichen Erkenntnisstand frei wie Informationen erhoben und Relevanz bemessen Klassifikationssysteme: ICD-10 od. DSM-IV-TR Ausmaß der psychischen Störung: unter Gesamtbeurteilung der Persönlichkeit, Auswirkung auf soziale Anpassung und Ausprägung der Störung: tatbezogen. Nachvollziehbarkeit und Transparenz: welche Anknüpfungstatsachen führen aufgrund welcher Untersuchung und welcher Denkmodelle zu welchem Ergebnis? Beweisgrundlage: Grundlage für richterliche Urteilsfindung ist nur mündlich erstattetes GA in Hauptverhandlung

Formelle Mindestanforderungen Boetticher et al., 2007 Nennung von Auftraggeber u. Fragestellung Ort, Zeit, Datum der Untersuchungen Dokumentierte Aufklärung Angabe von Untersuchungs- u. Dokumentationsmethoden Angabe u. getrennte Wiedergabe der Erkenntnisquellen Kenntlichmachung der interpretierenden und kommentierenden Äußerungen, Trennung von Informationen und Befunden Trennung von gesichertem Wissen u. subjektiver Meinung Offenlegung von Unklarheiten und Schwierigkeiten Darstellung von Aufgaben und Verantwortlichkeiten von Mitarbeitern Zitationen bei wissenschaftl. Literatur Klare Gliederung Hinweis auf Vorläufigkeit d. schriftlichen Gutachtens

Inhaltliche Mindestanforderungen Boetticher et al., 2007 Vollständige Exploration, v.a. delikt- u. diagnosenspezifisch Benennung der Untersuchungsmethoden, Darstellung der Ergebnisse Erläuterung von Methoden u. Grenzen Diagnosen u. DD Funktionsbeeinträchtigungen soweit f. GA Frage relevant Überprüfung ob Funktionsbeeinträchtigung bei Tat vorhanden Darstellung d. Schweregrad d. Störung Tatrelevante Funktionsbeeinträchtigung: differenziert: Einsichts- und Steuerungsfähigkeiten beschreiben Darstellung alternativer Beurteilungsmöglichkeiten

Beteiligte I: Der Sachverständige Sachverständiger: Person, die aufgrund besonderer Sachkenntnis über Tatsachen, Wahrnehmungen oder Erfahrungssätze Auskunft geben oder eine bestimmten Sachverhalt beurteilen kann Boetticher et al., 2007; Kinze, 2011; Deutsch, 2011 wird berufen, wenn sich aufgrund von Auffälligkeiten oder Störungen Zweifel an der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ergeben Ist Beweismittel Sachverständiger muß wissenschaftlichen Ansatz, Untersuchungsmethoden und Hypothesen offenlegen Gutachter: Offenbarungspflicht gegenüber dem Gericht, Geheimhaltungspflicht gegenüber anderen Personen und Institutionen

Beteiligte II: Gericht Staatsanwalt od. Richter hat Tätigkeit des Sachverständigen zu leiten ( 78 StPO). Leitung betrifft das, was der Sachverständige, nicht wie er es erforschen soll (Boetticher et al., 2007)

Beteiligte III: Kinder- und Jugendliche Kinze, 2011 Als Beschuldigter: Recht auf Aussageverweigerung Als Zeuge bzw. Opfer: Zeugnisverweigerungsrecht wenn in gerader Linie od. in Seitenlinie bis zum 3. Grad verwandt od. bis zum 2. Grad verschwägert ( 52 StPO) b. Minderjährigen: mangelnde Verstandesreife od. psychische Behinderung: verstehen Bedeutung d. Zeugnisverweigerungsrecht nicht: nur vernommen wenn zur Aussage bereit und gesetzl. Vertreter einverstanden.

Beteiligte III: Kinder- und Jugendliche Kinze, 2011 Verstandesreife wenn erkannt: Beschuldigter hat etwa Unrechtes getan, es droht ihm hierfür Strafe, Aussage kann zur Bestrafung beitragen. Keine festen Grenzen, meist nicht < 7a Eine psychiatrisch-psychologische Begutachtung ist nur mit Einwilligung des Kindes und seiner Sorgeberechtigten möglich ( 81 StPO), sowohl als Beschuldiger als auch als Zeuge

Strafrechtliche Begutachtung in der KJPP Sittliche Reife tiefgreifende Bewußtseinsstörung Einsichtsfähigkeit Schwachsinn geistige Reife Schuldfähigkeit schwere andere seelische Abartigkeit krankhafte seelische Störung Steuerungsfähigkeit

Probleme: Sprache Gesetzestexte enthalten keine psychiatrischen Begrifflichkeiten: künstlich auf Diagnostiksysteme herunterzubrechen. Begrifflichkeiten für Jugendliche häufig diskriminierend: forensisch relevanter Schwachsinn : juristische Termini müssen eingehalten werden (Lösung: vorab Gutachten besprechen).

Moderatorenfunktion des Gutachters übersetzt Antworten in übersetzt Antworten in psychopathologische Begrifflichkeiten

Exkurs: Fachsprache I Nach sorgfältiger Einschätzung der APA (American Psychiatric Association) sind rund zwei Drittel der langfristigen Prognosen, die zur Gewalttätigkeit, die von Psychiatern erstellt wurden, falsch Nur in einem Drittel kam es zu Gewalttaten In 10% kam es zu Gewalt obwohl dies nicht vorhergesagt wurde Monahan et. al., 2001

Exkurs: Fachsprache II N= 400: Mitglieder der American Academy of Psychiatry & Law u. 400 Mitglieder der American Psychology-Law Society 4 Fallvignetten Wie hoch ist das Riko, dass diese Person im ersten halben Jahr nach Entlassung gewalttätig wird? Wie viele von 100 Personen, deren relevanter Merkmale dieser Person gleichen werden innerhalb eines Jahres nach Entlassung gewalttätig? Slovic et al., 2000, Gigerenzer, 2004

Exkurs: Fachsprache III Wie Zahlen dargestellt werden ist (nicht nur im Gerichtssaal) essentiell Slovic et al., 2000, Gigerenzer, 2004

Problemfeld: Richter - Gutachter Naturwissenschaften: am Kausalitätsprinzip orientiert Normative Wissenschaften (Rechtswissenschaften, Theologie,..) nehmen Zuordnungen zu vorgegeben Festlegungen vor psychiatrisch-psychologische Begutachtungen gründen auf Methoden der Erfahrungswissenschaften: Aussagen beruhen auf Wahrscheinlichkeiten: begrenztes Maß an Sicherheit (Kinze, 2011) Gutachter muß Richter in die Lage versetzen eine eigene sachgerechte Entscheidung zu treffen, manche Unklarheiten bleiben bestehen: benennen!

Problemfeld: therapeutische Arbeitshaltung Therapeut erarbeitet mit Klienten die subjektive Wahrheit und Bedeutsamkeit, Gutachter will die objektive Wahrheit erfassen (Kinze, 2011) Gutachter ist nicht Anwalt des Kindes Gutachter ist Beweismittel (Deutsch, 2011)

Problemfelder in der Praxis Unklare Fragestellungen Unzufriedenheit mit Rest- Unsicherheit Formalkriterien zunehmend relevanter Sachverständiger benutzt um schwierige Erlebnisse in Kindheit als mildernde Umstände geltend zu machen Terminologie f. Betroffene oft diskriminierend