Spielen im Kindergarten: Wie sich Professionalität zeigt

Ähnliche Dokumente
Spielen im Kindergarten: Wie sich Professionalität zeigt

Frühförderung verdrängt das Kinderspiel Claudia Bryner

Potenziale im Alter(n): Unausgeschöpfte Talentreserven

Schulabsentismus in der Schweiz

' Förderung mathematischer Kompetenzen im Kindergarten kindgerecht und fachorientiert WS Luzern, M. Link, S. Mock, M.

Blickpunkt Kindergarten Der Übergang ins Schulsystem

Kindergarten Eltern Grundschule. Informationsveranstaltung für die Eltern Vierjähriger der Stadt Herzogenrath Gymnasium Herzogenrath

Chancen und Risiken der Frühförderung und ihre Auswirkungen auf die Bildungslaufbahn

Kinder suchtkranker und psychisch kranker Eltern eine besondere Herausforderung für die Hilfesysteme Rede nicht! Traue nicht! Fühle nicht!

Psychisch gesund trotz Krise

Folgeschulung bei Jugendlichen Diabetikern

Fitness für Kids. Frühprävention im Kindergartenalter Ein Gemeinschaftsprojekt der KKH und des Vereins für Frühprävention e. V.

Die Betreuung von Kindern unter drei Jahren in der Kita Holzwurm

Talentmanagement als Lehrstellenmarketing: Erkenntnisse aus der Forschung

175'000'000. Stressmanagement eine Aufgabe (auch) der Gemeinden?! Treffer im Internet zum Suchbegriff Stress


GESUNDHEIT SALUTOGEN LEHREN UND LERNEN. Aufgabe A/Puzzle. Didaktik Methodik PädagogInnengesundheit im Fokus/AVOS Salzburg

Familien stärken- Förderung von Resilienz

Pädagogische Geschlossenheit

Die Schweizer Bündnisse gegen Depression Stand, Nutzen und Wirkung

Konzept Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) der Stadt Zug. Kurzfassung

Gesundheitsförderung im Alter

Good practice vor Ort. Aufbau von Beratungsnetzwerken für junge Familien am Beispiel der Netzwerke Frühe Hilfen

Beobachtung und fachliche Reflexion von Kindverhalten

Mirjam Schaffner / Florian Wagner Zürich, 5. Mai 2009

Vizepräsidentin der Bayerischen Landesärztekammer (BLÄK)

Professionelle Entwicklungsberichte und Beschreibung der Lernausgangslage am PC erstellen

- Sachkosten - Verpflegung in Form eines Snacks und Getränken - Eltern- und Schulgespräche nach Bedarf - Hilfeplangespräche - Berichtswesen

Die Bedeutung von Bindung in Sozialer Arbeit, Pädagogik und Beratung

Unternehmen statt hinnehmen. Wohnbetreuung

In Hausen gibt es einen Schulspielplatz für Jung & Alt

Informationsabend der Kindertageseinrichtungen und der Grundschulen in Gevelsberg

Faustlos. Programm zur Förderung. sozialer und emotionaler Kompetenzen. und zur Gewaltprävention

Resilienz in der Jugendarbeit mit Jugendlichen im Alter von Jahren

Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen. Dr. phil. Eveline Hipeli Am 22. August 2014 UZH, Familien und neue Medien

Gesetzestext (Vorschlag für die Verankerung eines Artikels in der Bundesverfassung)

Was bedeutet Qualität in Tagesfamilien?

Entwicklungspsychologie

Das Konzept des Mentorings: Vom Kindergarten bis in die Schule D I P L. - P S Y C H. STEPHANIE L A U X

Grundlage des Qualitätsberichts ist die Konzeption der Familienkita (Stand 05/2008) sowie der Kriterienkatalog zur Selbstbewertung.

Medienkompetenz und Medienpädagogik in einer sich wandelnden Welt. Multimedia 10 Antworten

Bericht «Psychische Gesundheit» des Dialogs Nationale Gesundheitspolitik

Burnout Prophylaxe: Aufmerksamkeit für sich selbst - Eigene Ressourcen entdecken und nutzen

Warum die ANEIGNUNG des öffentlichen Raums zu mehr Beteiligung der BürgerInnen führt

Zahlen, Daten, Fakten zur gesundheitlichen Lage von Heranwachsenden

Grenzen (in) der Prävention

Vorschulförderung Individualitätsförderung. (Indi-Gruppe) Konzept zur individuellen Förderung von Vorschulkindern

Ursprung der Montessori-Pädagogik

Handlungsfelder schulischer Prävention: die Leitperspektive Prävention und Gesundheitsförderung

Veränderung der Lebenswelt: Ursache für die Zunahme psychischer Störungen

Wege aus der Einsamkeit

Autismusspezifische Frühförderung. Autismusambulanz Leipzig

Personalentwicklung. für kleinere mittelständische. Die Qualifikation Ihrer Mitarbeiter ist der Schlüssel zum Erfolg.

Reichtum, Liebe und das Mysterium des Glücks

Die Wirkung im Alltag und die therapeutische Bedeutung von Assistenzhunden für körperlich behinderte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene

Katrin Macha Berlin. Bildung und Gesundheit Berliner Bildungsprogramm

. Kinder brauchen Aufgaben, an denen sie wachsen können, Vorbilder, an denen sie sich orientieren können, Gemeinschaften, in denen sie sich

Gesund älter werden in Deutschland

Forum: Jugendwohlgefährdung oder Kindeswohlgefährdung bei Jugendlichen

Black Box: Migranten mit Potenzial

Praxis für Psychotherapie (für Erwachsene) Elternberatung für Säuglinge und Kleinkinder von 0 bis 3 Jahren

Welche Kompetenzen brauchen Projektund Programmleitende heute?

Psychische Gesundheit und Resilienz stärken

Tagesschulen und Internat für Kinder und Jugendliche mit Körperbehinderungen

Zugehende Beratung für Menschen mit Demenz und ihre Nahestehenden

Bürgerschaftliches Engagement in den Frühen Hilfen. drei Beispiele aus Flensburg

Pflichten des Arbeitgebers unter dem Aspekt der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes

Der Lebensbezogene Ansatz

ENDE der Erziehungsstelle Nach Plan gelebt? Ziel erreicht? Klarheit des Abschlusses / Scheitern -Chance oder Stigma?

aim-qualifizierungsmaßnahme: Grundlagen der Elementaren Musikpädagogik (EMP) / Rhythmik

Schulabsentismus in der Schweiz Ein Phänomen und seine Folgen Eine empirische Studie zum Schulschwänzen Jugendlicher im Schweizer Bildungssystem

Behinderung = Defekt? Die Chancen und Grenzen einer medizinischen Sichtweise auf Behinderung

Brandschutzerziehung und Brandschutzaufklärung in Kindertagesstätten und (Grund-)schulen. Wie lernen Kinder in Kindergarten und (Grund-)schulen?

Neun Argumente für die frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung

Vortrag am Ängste bei Kindern und Jugendlichen und ihre Hintergründe

Netzwerkstelle Lernen durch Engagement Sachsen-Anhalt. Impulse und Methoden. Kreativitätstechniken. Ideenfindung.

Workshop. Strukturierungs- und Visualisierungshilfen nach dem TEACCH Ansatz. Dipl. Heilpädagoge Sascha Knorr

Verhaltensauffällige Kinder. Fördermaßnahmen und Fördermethoden in der Schule

Elternarbeit im Setting Kita unter besonderer Berücksichtigung kultureller Differenzen

Alter ist nicht nur Schicksal Alter ist gestaltbar. Colourbox.de

Integration von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten mit Fokus AD(H)S

Nichtraucherschutz. Hygienetagung 27./ Schweizerischer Verein von Gebäudetechnik-Ingenieuren (SWKI) Grundlage / Beteiligte.

Glücksspielsucht & Männlichkeit. Fachtag GlücksspielerIn typisch Mann?

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

Projekt Ballschule Heidelberg. in Altach

FOSUMOS Persönlichkeitsstörungen: Ein alternativer Blick. Felix Altorfer 1

Unterrichtsmaterialien für Lehrer & Schüler UN World Food Programme

Kulturelle und ästhetische Bildung in der frühen Kindheit Eine Investition für die Zukunft?

Implementierung eines Skillskoffer für den Umgang mit Patienten mit selbstverletzenden Verhaltensweisen.

Vom Erwerbsleben in die Pensionierung. Alt werden wir das ganze Leben

F e r n r o h r. Begabtenförderung. der. Schulen Einsiedeln. E l t e r n i n f o

Sprachentwicklungsvoraussetzungen und Voraussetzungen der Sprachanwendung

Finden Sie auch, dass Büroarbeitsplätze mehr sein sollten als nur Orte, an denen Aufgaben erledigt werden?

Projekt Streitschlichter

Entwicklung und Lernen junger Kinder

Psychosoziale Belastungen als Negativspirale und Chancen für den einzelnen

Herzlich. Willkommen!

Wenn der Druck steigt. Körperliche und seelische Auswirkungen des Leistungsdrucks in der Schule auf Kinder und Jugendliche

Scheidung und ihre Folgen: Vernachlässigte Kinder? Gestresste Frauen? Benachteiligte Männer?

Transkript:

Spielen im Kindergarten: Wie sich Professionalität zeigt Referat beim Kantonalen Kindergartenkonvent St. Gallen in Gossau, 23.09.2017 Prof. Dr. Margrit Stamm Professorin em. der Universität Fribourg-CH Direktorin des Forschungsinstituts Swiss Education, Bern

Ausgangslage Frühfördereuphorie Konnotation des Spiels mit Zeitverschwendung, gefährlicher, sinnloser und trivialer Beschäftigung oder dann mit der Vorstufe zum «richtigen» Lernen 1/3 weniger freie Zeit für das Spiel seit den 1980er Jahren Risikoscheue Elternhäuser und ihre Nonstop- Kontrolle der Kinder: eingeschränkte Bewegungsfreiheit, Motorik, Kreativität Das (freie) Spiel als entscheidender Lern- und Entwicklungsmotor und beste Frühförderung

Thesen 1. Der Hype um eine möglichst frühe Förderung und Schulvorbereitung der Kinder verbunden mit der Sicherheitsangst unserer Gesellschaft hat dazu geführt, dass das Spiel* sowohl im Elternhaus als auch in Kindergärten nicht mehr zu seinem Recht kommt. 2. Kinder, die man am Spielen hindert, laufen Gefahr, in ihrer Entwicklung beeinträchtigt zu werden. * Meine Aussagen basieren auf Forschungen zum freien, selbstbestimmten, intrinsisch motivierten und persönlich gesteuerten (ko-konstruktiven) Spiel im Vorschul- und Schuleingangsalter (Bewegungsspiele, Phantasie-, als-ob- Spiele, Rollenspiele, Regelspiele, Konstruktionsspiele etc.)

Aufbau des Referats Bedeutung und Bedrohung des Spiels Freies Spiel oder angeleitete Förderung? Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung Spielverhinderung in der Familie Merkmale spielbasierter Kindergärten Das Phänomen der leeren Spielplätze Empfehlungen

Bedeutung und Bedrohung des Spiels Swiss Education

Kompetenzaufbau: Gefühl von Kontrolle & Herausforderung, Beteiligung an der sozialen, materiellen und imaginären Umwelt, Schulung der Feinund Grobmotorik, Lebensbewältigung! Förderung der Kindergarten-/Schulbereitschaft und des Schulerfolgs: Je spielhaltiger das Lernen, desto nachhaltiger ist es für die Intelligenzentwicklung und das psychische Wohlbefinden. Bedrohung durch falsch verstandene Forderungen nach möglichst früher Vorbereitung auf die Schule sowie nach systematischem kognitivem Lernen (LP21: Fachliche Kompetenzorientierung im MP). Spielen muss oft wiedererlernt werden (zu banales Spiel). Zwei gefährdete Gruppen: Überbehütete, stark geförderte Kinder Medienzentrierte, meist benachteiligte Kinder

Spiel oder angeleitete Förderung? Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung

Empirische Tatsache I: Frühe Instruktion optimale Bildungsförderung Längsschnittstudie Frühlesen und Frührechnen als soziale Tatsachen, 1995 bis 2008 mit N=400 Kindern in 12 Kantonen

Empirische Tatsache II: Internationale Studien* Spielgeförderte Kinder Gleich gut oder besser im Lesen Bessere intellektuelle Fähigkeiten Weniger Asthma, Heuschnupfen, Ekzeme, bessere Ernährung Als Jugendliche emotional ausgeglichener Spielentbehrte Kinder Verhaltensprobleme ADHS Höheres Unfallrisiko (Frontzahnfrakturen) Tendenz zu Adipositas Enorme Bedeutung von Bewegung, Autonomie und Ernährung *siehe auch mein Buch «Lasst die Kinder los!» (2016)

Spielverhinderung in der Familie

«Spielhemmer»: Durchgetaktete Strukturierung des Wochenalltags; Risikoscheu; Bildungsangst. Überbehütende Sicherheitskultur: Nichtunterscheidung zwischen Risiken und Gefahren. Auswirkungen: (a) Kinder kommen durch zu viel Nähe zu kurz, (b) werden unselbstständig und um Lernerfahrungen gebracht, (c) können nicht am eigenen Scheitern wachsen und Grenzen austesten. Jedes Kind hat ein Recht auf blaue Flecken!

Merkmale spielbasierter Kindergärten Swiss Education

Verschwinden des «typischen» Kindergartens. Kinder dürfen sich heute schon für Buchstaben und Zahlen interessieren und lesen und/oder rechnen lernen. Problematik zunehmend durchdidaktisierter und lehrer- resp. erwachsenengesteuerter Arrangements in Kindergärten, in denen das Spiel nur Mittel zum Zweck ist.

Empirische Tatsache IV: 40% 31% In den Kindergärten nimmt das schulähnliche Lernen zu. 17% 12% PRINZ-Studie (Best Practice in Kindergärten; N=24) und FRANZ- Studie (Früher an die Bildung; N=300 Kinder und Familien)

«Good Practice» spielbasierter Kindergärten Gute Beziehungen Swiss Education Freispielzeit im festen Tagesablauf mit genügend grossen, nicht störbaren Zeitgefässen Proaktive, zurückhaltende, selektive und kontinuierlich abnehmende Spiel- und Lernbegleitung Unterstützung der Entwicklung individueller kindlicher Spielfähigkeit Kontinuierliche Selbstreflexion Spielbasierte Good Practice-Kindergärten liefern gratis Geschenke: Lernerfahrungen und -gewinne, mentale und körperliche «Hygiene».

Das Phänomen der leeren Spielplätze Swiss Education

Investitionen vieler Gemeinden, u.a. in Prävention (Einzäunung, Befestigung und Sicherung von Schaukeln und Rutschbahnen, entfernte Torpfosten, abgerundete Kanten). Präferenzen der Kinder: Spielorte, die Erwachsene gar nicht als Spielplätze deklarieren (Naturlandschaften, Wald, nicht gesicherte Klettergerüste etc.). Falsche Strategie: noch sicherere und teurere Spielplätze ohne Risiko. Richtige Strategie: Kinderfreundlichere öffentliche Räume; verdichtete Bauformen mit Freiräumen für Kinder, welche sie selbstständig erreichen und sich dort ohne Dauerüberwachung aufhalten können.

Empfehlungen Swiss Education

Die Bedeutung des Spiels für ein gesundes Aufwachsen in der Öffentlichkeit kund tun (nationale, kantonale, gemeindebasierte Spielinitiativen). Das kind-initiierte freie Spiel im Kindergarten «wiederentdecken», ihm einen modernen Status geben und es selbstbewusst vertreten (Professionalität). Das «Sich-Zurücknehmen» als erwachsene Person üben und pflegen als Teil einer zukunftsgerichteten Didaktik. Dem Spiel in der Aus- und Fortbildung besonderes Gewicht beimessen. Eltern animieren, dass sie das freie Spiel bewusst und gezielt fördern. Die Kinderfreundlichkeit öffentlicher Räume neu denken, planen und realisieren.

Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit. www.margritstamm.ch -> Forschung -> Publikationen -> Dossiers