Dr. Barbara Segelken Sammeln, ordnen, darstellen. Verfahren frühneuzeitlicher Sammlungspraktiken

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Transkript:

Dr. Barbara Segelken Sammeln, ordnen, darstellen. Verfahren frühneuzeitlicher Sammlungspraktiken Die Abbildung auf dem Flyer, mit der das Symposium Vom Ordnen der Dinge angekündigt wurde, zeigt eine Zusammenstellung von (Blech-)Dosen unterschiedlicher Größe, Form und Gestaltung. Sie sind auf einem Planschrank gestapelt und in einer aufgezogen Schublade in Kartons geordnet nebeneinander ausgelegt. Um das Abstoßen des farbigen Aufdrucks zu verhindern, sind vereinzelt wattierte Folien zwischen die Dosen gelegt. Während einige von ihnen nur im Anschnitt betrachtet werden können, sind diejenigen in der Schublade so ausgebreitet, dass sie auf einen Blick überschaut werden können und ein vergleichendes Sehen möglich ist. Abgesehen von einer Zuordnung zu einem Sammlungsgebiet, das sich nach Auftrag und Interesse der besitzenden Institution ergibt bei der Abbildung auf dem Flyer handelt es sich um eine Ansicht aus dem Depot Alltagskultur des Deutschen Historischen Museums, erfolgt die Ordnung so legt es zumindest der seitliche Blick von oben in die aufgezogene Schublade nahe nach Größe und Material. Weitere Ordnungskategorien könnten sein: Produkt, also Doseninhalt, Firma, Sammlungsherkunft oder inhaltliche Stichworte wie Konsum, Kolonien, Exotik, Interkulturalität. Schaut man zum Vergleich frühneuzeitliche Sammlungsansichten an, fällt bei Interieurs wie dem Frontispiz aus Ole Worms Museum Wormianum von 1655 1

eine guckkastenähnlich angelegte Raumsituation und panoramaartige Sicht auf ein dichtes Nebeneinander verschiedenster Artefakte ins Auge. Die Bildanlage des Frontispizes zielt darauf ab, die auf Totalität angelegte Sammlungspräsentation mit einem Blick erfassen können. Aus der kompakt angelegten Raumkonstruktion, vor allem aber durch das enge Nebeneinander der Objekte ergibt sich eine netzartige Dichte, so dass die Darstellung trotz zentralperspektivischer Anlage keinen eindeutigen Bezugspunkt bietet, der als Fokus für einen hierarchisch gegliederten Raum hätte dienen können. Der Betrachter muss sich folglich den Raum Schritt für Schritt erobern, er muss die Sammlung durchwandern, sich mit Blicken hin- und herbewegen. Beide Abbildungen veranschaulichen einen Spielraum an Ordnungsmöglichkeiten und setzen gleichzeitig eine Vielzahl von Handlungen, Entscheidungsfindungen, Begriffsklärungen und Bestimmungen von Hierarchien voraus, die nötig sind, um größere Objektmengen zu organisieren und verfügbar zu machen. Beide rekurrieren auf ein bereits existierendes Wissen. Ob ein Objekt als Alltagsobjekt, Kunst oder wissenschaftliches Belegstück erkannt und wahrgenommen wird, beruht auf voraussetzungsreichen Bedingungen, Absprachen, Konventionen, ästhetischen Präferenzen etc. 1 Jegliche Art von Umgang mit Objekten oder Informationen, ihr Festhalten, Ablegen und ihre Verfügbarmachung, ist demnach immer schon Teil einer umfassenden Diskursivität. 2 Generell lässt sich festhalten, dass in allen Sammlungen die Kriterien der Aufnahme allgemeinere kulturelle Regeln reflektieren, die den Kategorien Systematik, Geschlecht, Ästhetik, Auswahl, Hierarchisierung folgen. Jegliche technische Form des Zeigens, jedes ästhetisch gestaltetes Arrangement umfasst die Wahrnehmung mitbestimmende Faktoren, die neben Anordnungen im Raum, Systematiken und taxonomische Fragen auch Auswahlkriterien und quantitative wie qualitative Verzeichnungspraktiken eines Sammlungsbestands betreffen. Das Verständnis vom Objekt als materieller Träger, in dem und durch das Wissen begreifbar gemacht wird, affimiert gleichzeitig aber auch einen gesellschaftlich hegemonialen Anspruch davon, wie Bedeutung produziert und materiell fixiert werden soll. 3 Von was für einem Interesse sind nun Ordnungsverfahren und Praktiken des 16./17. Jahrhunderts für aktuelle Auseinandersetzungen, die sich mit Objektverzeichnungen, Klassifizierun- 1 Ludwik Fleck, Schauen, sehen, wissen [Originalausgabe 1947], in: ders., Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt am Main 1983, 147-174. 2 Hans-Jörg Rheinberger, Kritzel und Schnipsel, in: fülle der combination. Literaturforschung und Wissensgeschichte, hg. von Bernhard J. Dotzler und Sigrid Weigel, München 2005, 343-356. 3 Dorothea von Hantelmann, I promise it s political. Performativität in der Kunst, Köln 2002, 16, in Bezug auf Kunstausstellungen. 2

gen und Ordnungen sowie Datenbankmodellen und Annotationen beschäftigen? Worin liegt die Aktualität frühneuzeitlicher Sammlungspraktiken haben sich doch Grundlagen und Kategorien des Sammelns im 19. und 20. Jahrhundert fundamental geändert. Eine Faszination dieser Sammlungen für die Gegenwart wie für die Vergangenheit scheint im Anspruch auf enzyklopädische Vollständigkeit und Ordnung des Wissens als Ganzes zu liegen ein Glaube, der darin besteht, sich durch eine systematische Erschließung das gesamte Wissen aneignen zu können. In den letzten drei Jahrzehnten haben sich Vertreter/Vertreterinnen aus Kunst-, Kultur, Literatur-, Sozial- und Wissenschaftsgeschichte verstärkt mit Objekt-, Sammlungsund Museumsgeschichte sowie mit der Produktion von Wissen auseinandergesetzt. Dass Wissen dabei nicht als eine neutrale Größe, und die im Prozess der Wissensgenerierung verknüpften Praktiken nicht als passives Verhalten zu interpretieren sind, gehört zu den grundlegenden Einsichten. 4 Gesellschaftliche Funktionen von Sammlungspraktiken, Fragen nach Bedeutungskonstruktionen, nach institutionellen Rahmenbedingungen, Inszenierungen- und Vermarktungsstrategien, wissenschaftlicher Aufarbeitung und historischer Einordnung von Objekten seien sie Forschungsobjekte, (Kunst-)Artefakte, Instrumente oder Alltagsgegenstände wurden ebenso in historische Perspektive betrachtet. 5 Sammlungen wie Kunstkammern und spezialisierte Sammlungskabinette ordneten die Dinge nach anderen Kriterien als die modernen Sammlungen. Während in der Vormoderne Kunst, Natur und Technik ein gemeinsames Feld beanspruchten, gehörten naturwissenschaftliche, ästhetische und historische Vorgehen in der Moderne zu jeweils unterschiedlichen Bereichen von Wissensordnungen. In der Zusammenstellung unterschiedlichster Phänomene waren Beobachtung, Bücherwissen und Bildproduktion methodische Ansätze für die Organisation von Wissen. Unterschiedliche Phänomene, Auflistungen sowie synchrone Ansichten überlagerten sich und verknüpften verschiedene Disziplinen. Bereits im Verlauf des 18. Jahrhunderts wurden das Ordnungsdreieck Naturalia, Artificialia und Scientifica sowie die Beziehungskette Naturform, antike Skulptur, Kunstwerk, Maschine als Inhalts- und Bedeutungszusammenhang durch Praktiken und Argumentationsstrategien überlagert, die die Objekte in eine chronologische, geographische und gattungsspezifische Ordnung brachten. 6 Im 19. Jahrhundert war die zentrale Aufgabe der Sammlungsinstitute einen Bildungsanspruch zu vermitteln, der auf historische und wissenschaftliche 4 Representation in Scientific Practice, hg. von Michael Lynch und Steven Woolgar, Cambridge/London 1990; Bruno Latour, Haben auch Objekte eine Geschichte? Ein Zusammentreffen von Pasteur und Whitehead in einem Milchsäurebad, in: ders., Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin 1996, 87-112. 5 Als Überblick: Macrocosmos in microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800, hg. von Andreas Grote, Opladen 1994; Kunstkammer, Laboratorium, Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert, hg. von Helmar Schramm, Ludger Schwarte und Jan Lazardzig, Berlin 2003; Robert Felfe, Einleitung, in: Frühneuzeitliche Sammlungspraxis und Literatur, hg. Robert Felfe und Angelika Lozar, Berlin 2006, 8-28. 6 Zur Beziehungskette und Bedeutungszusammenhang von Naturform, antike Skulptur, Kunstwerk, Maschine: Horst Bredekamp, Antikensucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993. 3

Aufklärung zielte. Die entstehenden Museums- und Sammlungstypen entwickelten eigene Präsentationsmuster, für die je nach Museumstyp chronologische Prinzipien, Typenreihen oder die Betonung eines Zusammenhangs im Ensemble kennzeichnend waren. Anhand eines museologischen Traktats aus der frühneuzeitlichen Sammlungspraxis soll ein Ordnungsentwurf skizziert werden, der nicht nur eine Menge unterschiedlicher Objekte zusammenstellt. Das Beispiel ist Samuel Quicchebergs Traktat Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi von 1565. Der Text gilt als frühestes und beispielgebendes Werk der museologischen Literatur im deutschsprachigen Raum und wird als Beginn der Museumslehre in Deutschland bezeichnet. 7 Quiccheberg verfasste ihn während seiner Zeit in München, wo er von 1559 bis zu seinem Tod 1567 im Dienst von Herzog Albrecht V. von Bayern stand und mit der Betreuung der herzoglichen Sammlungen beauftragt war. Zuvor arbeitete er bei Johann-Jakob Fugger in Augsburg als Bibliothekar und Betreuer dessen Sammlung. In seinem Traktat erläutert er ein theoretisches Klassifizierungssystem aller irdischen Dinge sowie konkrete Vorstellungen zu deren Aufbewahrung und Präsentation. Bereits im Titel formuliert er Programm und Anliegen des Traktats: Überschriften oder Titel des umfangreichsten Theaters, welches einzelne Stoffe aus der Gesamtheit aller Dinge und herausragende Bilder umfaßt, so daß man mit Recht auch sagen kann: ein Archiv kunstvoller und wundersamer Dinge, eines vollständigen seltenen Schatzes und kostbarer Ausstattung, Aufbauten und Gemälde, was hier alles gleichzeitig zum Sammeln im Theater empfohlen wird, damit man durch dessen häufige Betrachtung und die Beschäftigung damit schnell, leicht und sicher eine einzigartige, neue Kenntnis der Dinge sowie bewundernswerte Klugheit erlangen kann. 8 Es galt also eine vollständige Übersicht zu geben, aus der Gesamtheit aller Dinge Objekte in Stellvertreterfunktion für das Ganze zusammenzustellen und so zu präsentieren, dass sich durch gleichzeitiges Betrachten ein Erkenntnisgewinn ergebe. Der Anspruch, den gesamten Kreis des überlieferten Wissens abzuschreiten, kombinierte sich mit dem Wunsch eine größtmögliche Menge an Detailwissen zu akkumulieren. Insofern ist der Text in mehrfacher Hinsicht dem Paradigma der Restlosigkeit verpflichtet. Quiccheberg bringt diesen Anspruch in einen Text, den er in fünf große Abschnitte gliedert, die er wiederum durch weitere Unter- 7 Rudolf Berliner, Zur älteren Geschichte der allgemeinen Museumslehre in Deutschland, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 5, 1928, 327-352, hier: 328. Harriet Hauger, Samuel Quiccheberg: Inscriptiones vel Tituli Amplissimi. Über die Entstehung der Museen und das Sammeln, in: Universität und Bildung. Festschrift Laetitia Boehm zum 60. Geburtstag, hg. von Winfried Müller u.a., München 1991, 129-139, hier: 130. Mit der Herausgabe, Übersetzung und Kommentierung durch Harriet Roth (= Hauger) liegt der Text in deutscher Übersetzung vor: Harriet Roth, Der Anfang der Museumslehre in Deutschland. Das Traktat Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi von Samuel Quiccheberg, Lateinisch Deutsch, Berlin 2000. Die folgenden Quiccheberg-Zitate werden als Quiccheberg 1565/Roth 2000 angegeben. Zu Quiccheberg und seinem Traktat auch: Stephan Brakensiek, Vom Theatrum mundi zum Cabinet des Estamps. Das Sammeln von Druckgraphik in Deutschland 1565 1821, Hildesheim u.a. 2003, 40-81 8 Quiccheberg 1565/Roth 2000 (Anm. 7), 37. 4

überschriften ordnet. Im ersten Abschnitt ( Inscriptiones ) führt er den Objektbestand auf, im zweiten die Werkstätten und Bibliotheken ( Musea et Officina ), die zur Beweisführung der Objekte dienen sollten. Anschließend folgen Ermahnungen und Ratschläge ( Admonitio et Consilium ), in denen er das Anliegen des Traktats ausführt; dann erst kommen die Erklärungen zu den Objektgruppen ( Digressiones et Declarationes ), die er im ersten Abschnitt aufführt. Im letzten Abschnitt ( Exempla ad Lectorem ) listet er ein Panorama von Sammlungen vorwiegend aus dem deutschsprachigen Raum auf, die er entweder selbst besucht hat oder aus der Literatur kannte. 9 Die Ordnung der Objekte nimmt er nach typologischen und topografischen Kriterien vor. Ausgesucht nach inhaltlich-thematischen Aspekten fasst Quiccheberg in den Objektgruppen verschiedene Gattungen, Materialien und Techniken zusammen. Die im Laufe des 16. Jahrhunderts etablierte Unterteilung der Bestände einer Kunstkammer nach Artificialia, Scientifica und Naturalia wird von ihm nicht strikt eingehalten. Die Objekte im ersten Abschnitt gliedert er in fünf Klassen. In der ersten Klasse führt er im Zusammenhang mit dem Repräsentationsbedürfnis des Fürsten Bilder mit heilsgeschichtlichen Themen, eine Ahnengalerie sowie Darstellungen historischer Ereignisse, Stadt- und landestopografische Ansichten auf. Daneben stehen Modelle von repräsentativen Bauten und Maschinen. Die zweite Klasse beinhaltet kunsthandwerkliche Gegenstände aller Gattungen, darunter auch wissenschaftliche Geräte, die sich durch ihre handwerklichen Qualitäten auszeichnen. Quiccheberg nennt hier beispielsweise Maße, Gewichte, Klafter und alles für die Erdvermessung Nötige, das in den verschiedenen Reichen und Staaten benutzt wird. 10 Die dritte Klasse umfasst Objekte aus der Natur und solche, die ihr nachgebildet sind. Die Untergliederung erfolgt nach Tieren, Pflanzen und Mineralien eine Einteilung, die seit Plinius enzyklopädisch und systematisch angelegter Naturalis historia ein gängiges Ordnungsschema war. Die vierte Klasse listet verschiedene musikalische und wissenschaftliche Instrumente sowie Werk- und Spielzeuge, Waffen und wertvolle Textilien aus dem Ausland auf. In der fünften Klasse stellt Quiccheberg verschiedene Bildmedien zusammen, die er nach technischen und typologischen Gesichtspunkten sortiert. Im Zusammenhang mit den Objektgruppen im ersten Abschnitt wie auch im weiteren Textverlauf bezieht er sich immer wieder auf einschlägige Autoritäten, wägt ab, kritisiert und a- daptiert. So zitiert er Giulio Camillos L idea del Teatro von 1550, erwähnt dessen kosmolo- 9 Seit 1563 besichtigte Quiccheberg im Auftrag Albrechts V. Sammlungen in Deutschland und Italien so in Frankfurt, Bologna, Florenz, Padua und Rom. Roth 2000 (Anm. 7), 8-9, darunter die Sammlung des neapolitanischen Apothekers Ferrante Imperato, Ulisse Aldrovandis Musaeum Metallicum in Bologna, die Sammlungen Francescos I. de Medici und Francesco Calzeolaris in Florenz sowie Michele Mercatis Metallotheca in Rom. 10 Quiccheberg 1565/Roth 2000 (Anm. 7), 51. 5

gische Ordnung, kritisiert sie als zu kompliziert und setzt dagegen seine eigene, leichtere Ordnung, die gemäß der Gestalt der Dinge motiviert sei. 11 Die Vermutung, Quicchebergs Traktat sei eine Auftragsarbeit zur Neuordnung der herzoglichen Sammlungen gewesen, für die zwischen 1563 und 1567 ein neues Gebäude errichtet wurde, liegt nahe, lässt sich jedoch nicht belegen. Ebenso unsicher ist, ob die 1567 in das neue Gebäude der Kunstkammer überführten Teile der Bestände nach Quicchebergs Ordnungssystem eingerichtet worden sind. 12 Im Traktat gliedern Über- und Unterordnungen den Text in kompakte Blöcke und schmale Kolonnen, die mittig auf die Buchseite gesetzt sind. Über- und Unterüberschriften folgen einer Hierarchisierung auf drei Ebenen. Quiccheberg bietet dazu keine Abbildungen oder Orientierungshilfen wie Register oder Inhaltsverzeichnis an. Er bezieht sich zwar auf die Form der systematisch-schematischen Überblicksdarstellungen, wie sie Pierre de la Ramée als Lernmethodik eingeführt hatte und in enzyklopädischen Ordnungsentwürfen wie Johann Heinrich Altsteds Enzyclopädia angewandt wurden, bleibt aber selbst konsequent in Form des Fließtexts. 13 Er verzichtet auf jegliche Form bildlicher Darstellung zur Dokumentation oder wissenschaftlichen Erkenntnis. Dennoch lässt sich Quiccheberg nicht als textorientierter, antiquarisch ausgerichteter Gelehrter beschreiben; sein Traktat ist keine Darstellung einer Geschichte der Gelehrsamkeit in ihrer Gesamtheit. Der Text besteht nicht aus Büchern; er ist keine Sammlung von Referenzen, die sich wie ein Lexikon benutzen lässt, sondern ein Ordnungsgerüst, aus dem heraus sich ein Wissen ergeben soll. So führt er gegen Ende des vierten Abschnitts (den Erörterungen und Erklärungen) aus, dass [ ] während das übrige gemeinschaftliche Handwerkszeug aller Wissenschaften die Bücher sind, wird hier alles aus der Betrachtung der Bilder, der Untersuchung der Stoffe und der Ausrüstung mit Werkzeugen der ganzen Welt heraus, für die bald gliedernde Tabellen und Wahrheitsgemäße Zusammenfassungen deutlich sind, zugänglich und klarer. 14 In dieser knappen Formulierung fasst Quiccheberg nicht nur eine Reihe von Operationen zusammen, die für das Erstellen einer Tabelle Voraussetzung waren, er stellt auch den unmittelbaren Zusammenhang zwischen materieller Objektwelt und tabellarischer Informationsaufbereitung her. In seiner Konzentration auf Reihung, Aufzählung, Inszenierung blendet er weitere Qualitäten wie Techniken, Heilsgeschich- 11 Quiccheberg 1565/Roth 2000 (Anm. 7), 111. 12 Zur Münchner Kunstkammer: Lorenz Seelig, Die Münchner Kunstkammer, in: Jahrbuch der bayerischen Denkmalpflege 40, 1986, 101-138; Die Münchner Kunstkammer, vorgelegt von Willibald Sauerländer, bearbeitet von Dorothea Diemer, 3 Bde., München 2008. 13 Zu Ramées Methode: Walter J. Ong, Ramus. Method and the Decay of Dialogue, Cambridge/Mass. 1958; Neal W. Gilbert, Renaissance Concepts of Method, New York/London 1963, 129-163; Frances A. Yates, Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, Berlin 1994 [englische Originalausgabe 1966], 214-224; Steffen Siegel, Tabula. Figuren der Ordnung um 1600, Berlin 2009, 66-69. 14 Quiccheberg 1565/Roth 2000 (Anm. 7), 161. 6

te, wissenschaftliche Aspekte weitgehend aus wenngleich er im Text auch Bezüge zu kosmologisch-astrologischen und theologischen Ordnungsprinzipien herstellt. Inwiefern Quiccheberg der Anspruch einer unbegrenzten Aneignung von Welt, die faktisch nicht einholbar war, als paradox bewusst war, ist schwer zu sagen. Seine Zusammenstellungen sind dem Denken in Ähnlichkeiten und assoziativen Logiken verpflichtet, sie sind aber ebenso durch Sprunghaftigkeit, unvermittelte Übergänge und Disparates gekennzeichnet. Intertextuelle Wechselwirkungen, Anspielungen auf Sammler und Gelehrte der Zeit ziehen sich durch den gesamten Text, der dadurch einen polyphonen Charakter erhält. Er ist kein Katalog, der einen Objektbestand in Abfolge auflistet und in Gelehrtenpositionen einbettet, sondern vielmehr eine Struktur, die Vieldeutigkeiten und immanente Widersprüche entdecken lässt. Er sichert keinen schnellen Zugriff auf das Wissen, wie die modernen lexikografischen Werke in ihren alphabetischen Ordnungen. Auffallender ist noch, dass Quiccheberg in seinem Versuch, die Vielfalt sichtbarer und lesbarer Zeichen in ein System zu bringen und das gesamte Wissen zu erschließen, eine Art Austauschbewegung innerhalb seines eigenen Texts vornimmt und damit die Vorstellung von Linearität unterläuft. Beispielsweise führt er mehrere Bildarchive in verschiedenen Textabschnitten auf und greift sie im weiteren Textverlauf auf. In Analogie zur Bibliothek diente das von Quiccheberg auch als gesonderte Bibliothek der Bilder bezeichnete Bildarchiv als Wissensspeicher, als Ersatz für physisch nicht vorhandene Objekte sowie als eigenständiger Sammlungsschwerpunkt. [V]on sorgsamen Stiftern so sehr vermehrt, sollte man die Kenntnis möglichst vieler Wissenschaftsfächer allein aus diesen Bildnissen erwerben können. 15 Im Gegensatz zum Buch waren die Loseblattsammlungen der Bildarchive flexibel und in ihren Dispositionen variabel zu handhaben. Innerhalb Quicchebergs Entwurf waren sie ein eigenständiges Ordnungsinstrument, das Sinnzusammenhänge stiften sollte. Durch dieses wiederholte Aufgreifen von Objektgruppen im Text, die nach Inhalt, Repräsentation, Gattung, wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse in unterschiedliche Kategorien geordnet sind, ergibt sich keine kohärente Struktur. Durch beständiges Hin- und Herblättern wird der Lesefluss immer wieder unterbrochen. Neue Funktions- und Bedeutungskontexte werden dem Leser angeboten. Die Zahl der Verknüpfungen verändert sich beim fortschreitenden Lesen und Blättern; je weiter man in die Struktur einsteigt, desto mehr Verbindungen tun sich auf. Alles was in Nachbarschaft miteinander gestellt wird, erzeugt beständige Neukombinationen. In der von Quiccheberg entworfenen Struktur zeigt sich wie letztlich auch in den Sammlungen eine Gleichzeitigkeit von Kontingenz und Kontrolle: Verzeichnen und Ver- 15 Quiccheberg 1565/Roth 2000 (Anm. 7), 139. 7

fügbarmachen von Objekten oder Daten folgten nicht immer dem intendiertem Verständnis einer Autorität oder Institution durch den Leser, Sammler oder Betrachter; die Prozesse der Bedeutungszuschreibungen waren nicht immer vorhersehbar. Quicchebergs Traktat ist ein umfassenderer kultureller Text, der verschiedene Lektüren, Seherfahrungen und Beobachtungen zusammenbringt. Er betastet, prüft und befragt die Dinge von verschiedenen Seiten und adaptiert und modifiziert historisch und kulturell kodifizierte Traditionen nach eigenen Regeln. Gleichzeitiges Sammeln und häufige Betrachtung ergeben eine erkenntnistheoretische Kategorie. Dass sein Ordnungsentwurf, der alle möglichen Darstellungsformen von Wissen umfasst, auch einen Bezug zwischen Montage und Informationstechnologie herstellt, liegt auf der Hand, ist doch das Prinzip universeller Verknüpfungsmöglichkeiten von Informationen eine zentrale Voraussetzung von Wissensmaschinen. Sammeln, ordnen, darstellen mittels montieren, kompilieren und synchronisieren gehören zu grundlegenden Verfahren frühneuzeitlicher Ordnungsprozesse. Diese Prozesse sichtbar zu machen, weil sie Referenzpunkte für Wissensgenerierung und Einübung gesellschaftlicher Normen sind, könnte auch Anregung für unsere heutige konservierende Sammlungs- und Museumskultur sein, die immer noch dem Anspruch verpflichtet ist, ein Stückweit Universalität und Ewigkeit zu transportieren. 8