Sommersemester 07 Zusammenfassung zur Vorlesung: "Soziale I nteraktion" PD Dr. Udo Thiedeke Fällt alles aus dem Rahmen? 19.07.07
1 Vorlesung: "Soziale I nteraktion" Fällt alles aus dem Rahmen? 19.07.07 Programm: 1 ) Vorbemerkung 2) Die sel bstverständl iche Wi rkl ichkeit 3) Rahmen in der Krise 4) Zusammenfassung 5) Über den I nteraktionismus hi naus 1 ) Vorbemerkung - Nach Goffmans dramaturgischem Ansatz geben uns die I nteraktionsrahmen, i n denen wi r unsere Rol len spielen, Sicherheit i n der Welt der sozialen Begegnungen. - Obwohl Goffman bei der Rahmenanalyse davon ausgeht, dass die Sel bstverständl ichkeit der situativen Orientierungen i mmer i n Frage steht, beobachtet er hauptsächl ich, wie Rahmen (auch mani pul ierte Rahmen) sozial bestätigt werden und "Schauspieler" sowie "Publ i kum" dadurch i hr "Gesicht wahren". - Der wiederum stärker sozial phänomenologisch orientierte Ansatz der sog. Ethnomethodologie geht hingegen weiter und fragt danach, wie wir überhaupt in der Lage sind Rahmen zu entwickeln und zu bestätigen? 2) Die sel bstverständl iche Wi rkl ichkeit - Zentrale Figur der Ethnomethodologie ist zweifellos Harold Garfinkel. Er wude1 91 7 in Newark New Jersey geboren, studierte i n Harvard bei Parsons Soziologie, wo er 1 952 auch promovierte. Danach arbeitete er an der University of Cal ifornia, Berkely. Dort wurde er 1 966 Professor für Soziologie. - Entscheidend für die Entwicklung ei nes radi kalen I nteraktionismus bei Garfi nkel war die Opposition gegen die Handlungssystemtheorie sei nes Lehrers Parsons. - Garfi nkel kam aufgrund empi rischer Untersuchungen zum Entscheidungs- und Rechtfertigungsverhalten von Geschworenen i n Strafprozessen dazu, Parsons Vorstellungen für falsch zu halten, wonach Normen und Werte das soziale Handeln der I ndividuen formieren (vgl. Garfinkel, 1 967). - Er stel lte stattdessen fest, dass die Geschworenen auch bei ei ndeutiger Rechtslage und Verfahrensregel n erst ' nach' i hrer Entscheidung ei ne normative Rechtfertigung für ihr Urteil suchten (O.c. : 1 1 4).
2 - Garfinkel geht deshalb davon aus, dass wir, ähnlich der Typisierung in der Sozialphänomenologie, unsere al ltägl ichen I nteraktionen auf i mpl izite Basisregel n oder "Basissätze" stützen, die wi r i n unseren sprachl ichen Äußerungen bestätigen und so als Alltagswissen behandeln, auf das wir vertrauen. Gafinkel schreibt dazu in seinem Beitrag "Das Al ltagswissen über soziale und i nnerhal b soialer Strukturen": ">>Gesel lschaftl ich gebi l l igte Tatsachen des Lebens i n der Gesel lschaft, die jedes engagierte und vertrauenswürdige Gesel lschaftsmitgl ied (...) kennt<<, bi lden den Gesamtbereich alltäglicher Lebensinhalte ab. " (1 981 : 1 89) - Diese "Gewissheitsunterstel lungen" bieten laut Garfi nkel zwei grundlegende Orientierungsmögl ichkeiten für soziale I nteraktionen, die sich als "Plausi bi l isierung" und "Verbindlichkeit" benennen lassen. [siehe Folie 1 ] - Solche Unterstel l ungen werden gewöhnl ich nicht weiter präzisiert. I hre Sel bstverständl ichkeit, d. h., die unterstel lte Si nnüberei nti mmung, resultiert aus i hrer "wesensmäßigen Vagheit". - Versucht man diese unterstel lten Gewissheiten i n al ltägl ichen I nteraktionen zu objektivieren, so geht augenbl ickl ich i hre Sel bstverständl ichkeit und die Vertrautheit mit i hnen verloren. - Wi l l man daher untersuchen, worauf wi r i n al ltägl ichen I nteraktionen vertrauen, dann muss man laut Garfinkel diese alltäglichen Selbstverständlichkeiten mit einem völlig fremden Bl ick beobachten, etwa so, wie die Ethnologie ei n fremdes Vol k beobachtet. Daher nennt sich diese Beobachtungsmethode i nteraktionistischer Soziologie "Ethnomethodologie". [siehe zu den Grundannahmen der Ethnomethodologie Fol ie 2] 3) Rahmen in der Krise - Wi l l man als Sozialwissenschftleri n oder -wissenschaftler die 'sti l le Überei nkunft' zum sozialen Al ltagswissen aufdecken, die von den vagen Basissätzen trnsportiert wi rd, dann ist es notwendig, deren soziale Sel bstverständl ichkeit zu stören. - Solche I nkongruenzperspektiven si nd typisch für i nterakionistische Ansätze. Als i m- plizite Quelle lässt sich dafür Georg Simmel nennen, sie liegen aber der "Generalthese der Rezi prozität der Perspektiven" bei Schütz ebenso zu Grunde, wie der Frage nach symbol ischen Objektbeziehungen i m symbol ischen I nteraktionismus oder Goffmans Theatermetaphori k. - Garfinkel geht aber insoweit radikaler vor, als er die Rahmen der I nteraktion nicht nur mit fremdem Bl ick ansieht, sondern bewusst i n die Krise stürzt.
3 - Garfi nkel hat dazu mit Harvey Sacks sog. Krisenexperi mente entwickelt (breachi ng experiments, vgl. Garfinkel. Sacks, 1 976), in denen die Basisregeln der I nteraktionen z. B. durch zugespitzte Objektivierung mutwi l l ig gestört werden. [vgl. die Beispiele Folie 3 + 4] - Das zeigt nach Garfinkel vor allem den "indexikalen" Charakter der Basissätze, denen diffuse Bedeutungen ei ngeschrieben si nd, auf die wi r uns verlassen. - I ndexi kale Bedeutungen lassen sich aber gerade nicht genau erklären, ohne i hren vertrauensvol len Charakter zu verl ieren. - Bei einer Störung ihrer Selbstverständlichkeit wird daher mit I rritation oder gar mit Aggression reagiert. - Um ihre Geltung wiederherzustellen wird deshalb nicht versucht ihre Objktivität zu klären, sondern situative Erklärungen für den ungewöhnl ichen Umgang mit i hnen zu fi nden - etwa derart, dass man dem Störer der Sel bstverständl ichkeit unterstel lt, er wolle einen Witz machen, sei fremd oder schlicht krank. - Normen und I nterktionsordnungen ruhen auf diesen unausgesprochenen Basissätzen auf, die von Kultur zu Kultur variieren können, deren Geltung man aber in jedem Fall dadurch aufrecht zu erhalten versucht, dass man ihre I ndexikalität auch bei Störungen schnellstmöglich wieder herzustellen versucht. 4) Zusammenfassung - Garfi nkel folgend kann man also davon ausgehen, dass unsere I nteraktionsordnungen nur deshalb möglich sind, weil wir bei ihren Grundlagen nicht so genau hinsehen. Wir unterstellen einfach, dass wir alle etwas ähnliches wissen und meinen und sind bemüht diese Selbstverständlichkeit indexikaler Regeln gegen Störungen zu behaupten. Unsere Sicherheit i n I nteraktionen mit anderen beruht also auf ei ner Mikrophysi k von vagen Annahmen. Warum wi r aber solche Basissätze als Regel n akzeptieren, obwohl sie als Basissätze gar nicht objektivierbar si nd, verrät uns die Ethnomethodologie nicht. 5) Über den I nteraktionismus hi naus - Wie i n der Vorlesung zu zeigen war, konzentriere sich i nteraktionistische Ansätze bei der Beobachtung von Sozialität auf das, was bei individuel len Begegnungen "zwischen" den I ndividuen entsteht. - Al lerdi ngs besti mmen sie alle die Möglichkeit ei ner sozialen Wechselwi rkung wiederum individuel l, d. h., über die Annahme subjektive Bewusstsei nsleistungen. - Damit entsteht Sozialtät nicht 'zwischen' den I nteragierenden, sondern ' i n' i hnen, als ei n letztl ich psychologisches Phänomen.
4 - Die Besti mmung des "Zwischen" als Sozial ität gleicht dann aber dem Kunststück i m Subjektiven die anderen zu repräsentieren. - Daher wird Sozialität in der phänomenolgischen Reduktion (bis hin zur Epoché der Lebenswelt), pragmatistischen I ndifferenz oder i n der psychischen Wahrnehmung und I nterpretation symbol ischer Objekte gesucht. - Weil dort aber keine Sozialität zu finden ist, sondern nur subjektive I ndividualität, gehen i nteraktionistische Theorien i mpl itzit oder expl izit davon aus, dass sich die I ndividuen, um sozial zu sei n, über i hre Wahrnehmung als I ndividuen hi nwegsetzen, d. h., sich sel bst z. B. als "general isierte andere" verstehen. - Das führt aber die subjektivistische Komponente des I nteraktionismus, der i mmer wieder betont, dass Face-to-face-Begegnungen von I ndividuen und deren I nterpretation sozialer Wahrnehmungen, die Grundlage von Sozial ität seien, ad absurdum. - Wie absurd die Annahme ist, Sozial ität sei das Ergebnis von i ndividuel len I nterpretationen, die auf der Fähigkeit des Bewusstsei ns zur si nnhaften Reflexion sozialer Wahrnehmungen beruhen, zeigt ei n klei nes Experi ment, i n dessen Verlauf ei ne kommuni kative I nteraktion zwischen ei ner Versuchsperson und enem Computerprogramm (ELIZA) zu stande kommt, das ei ne psychologische Gesprächstherapie simuliert. [siehe Folie 5] Literatur Harold Garfi nkel, 1 967: Studies i n Ethnomethodology. Englewood Cl ifs, N. J. Harold Garfi nkel, Harvey Sacks, 1 976: Über formale Strukturen praktischer Handlungen, i n: El mar Wei ngarten, Fritz Sack, Ji m Schenkei n (Hrsg.): Ethnomethodologie. Beiträge zu ei ner Soziologie des Al ltagshandel ns. Frankfurt/M. S. 1 30-1 75. Harold Garfi nkel, 1 981 : Das Al ltagswissen über soziale und i nnerhal b sozialer Strukturen, i n: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.): Al ltagswissen, I nteraktion und gesel lschaftl iche Wi rkl ichkeit. 5. Aufl. Opladen. S. 1 89-262.
Vorlesung: "Soziale I nteraktion" Fällt alles aus dem Rahmen? Folie 1 Orientierungsmögl ichkeiten von "Gewissheitsunterstel l ungen" 1. Plausi bi l isierung dessen, was über gesel lschaftl iche Zusammenhänge behauptet wi rd; 2. Verbi ndl ichkeit dessen, was als gesel lschaftl iche Wi rkl ichkeit Ausgangspunkt weiterer I nteraktionen ist.
Vorlesung: "Soziale I nteraktion" Fällt alles aus dem Rahmen? Folie 2 Grundannahmen der "Ethnomethodologie" nach Harold Garfi nkel - Soziale Wirklichkeit entwickelt sich in einem Sinnhorizont des Selbstverständl ichen. - Soziale I nteraktionen bestätigen das Al ltagswissen von Basisregel n der Sozial ität. - Alltagswissen wird in vagen Basissätzen vermittelt (I ndexikalität) und als Gewissheit unterstel lt, auf die die I nteragierenden vertrauen. - Das Vertrauen i n Basissätze kommt i n Normal isierungsbemühungen zum Ausdruck.
Vorlesung: "Soziale I nteraktion" Fällt alles aus dem Rahmen? Folie 3 Krisenexperi ment 1 : Der Fernsehabend (E) = Ehefrau (Konfidenti n); (Vpn) = Versuchsperson (Ehemann) "Freitagabend sassen mei n Mann und ich gerade vor dem Fernseher. Mei n Mann bemerkte, er sei müde. "Ich fragte: I n welcher Hi nsicht bist du müde? Körperl ich, geistig oder nur gelangwei lt?" (Vpn) Ich weiss es nicht genau. Ich nehme an, hauptsächl ich körperl ich. (E) Mei nst du, dass dei ne Muskel n schmerzen bzw. dei ne Knochen weh tun? (Vpn) Ich nehme an. Sei nicht so spitzfi ndig. [nach weiterem Zuschauen] (Vpn) I n all diesen alten Filmen gibt es dieselbe Art von Eisenbettgestell. (E) Woran denkst du dabei? Meinst du alle alten Filme, oder einige von i hnen, oder gerade nur diejenigen, die du sel bst gesehen hast? (Vpn) Was ist mit dir los? Du weisst, was ich meine. (E) Ich wünschte, du würdest mehr ins einzelne gehen. (Vpn) Du weisst genau, was ich mei ne. Hör bloss auf! [Harold Garfinkel, 1 981 : Das Alltagswissen über soziale und innerhalb sozialer Strukturen, i n: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.): Al ltagswissen, I n- teraktion und gesel lschaftl iche Wi rkl ichkeit. 5. Aufl. Opladen. S. 1 89-262. Hier: S. 207]
Vorlesung: "Soziale I nteraktion" Fällt alles aus dem Rahmen? Folie 4 Krisenexperi ment 2: Deutl iche Worte (Vpn) = das Opfer (E) = ein Freund (Konfident) [Das Opfer wirkt freundlich] (Vpn) Wie stehts? (E) Wie steht es mit was? Mei ner Gesundheit, mei nen Geldangelegenheiten, mei nen Aufgaben für die Hochschule, mei nem Seelenfrieden, meinem... (Vpn) [rot i m Gesicht und plötzl ich ausser Kontrol le]. Hör zu. Ich unternehme gerade den Versuch, höfl ich zu sei n. Offen gsprochen kümmert es mich einen Dreck, wie es mit dir steht. [Harold Garfinkel, 1 981 : Das Alltagswissen über soziale und innerhalb sozialer Strukturen, i n: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.): Al ltagswissen, I n- teraktion und gesel lschaftl iche Wi rkl ichkeit. 5. Aufl. Opladen. S. 1 89-262. Hier: S. 207]
Vorlesung: "Soziale I nteraktion" Fällt alles aus dem Rahmen? Folie 5 Eine Begegnung mit "Eliza" Men are all alike. Eliza: I N WHAT WAY? They' re always bugging us about something or other. El iza: CAN YOU THI NK OF A SPECI FIC EXAMPLE? Well, my boyfriend made me come here. El iza: YOUR BOYFRI END MADE YOU COME HERE He says I ' m depressed much of the time. Eliza: I AM SORRY TO HEAR YOU ARE DEPRESSED It's true. I am unhappy Eliza: DO YOU THI NK COMI NG HERE WI LL HELP YOU NOT TO BE UNHAPPY I need some help, that much seems certain. [Weizenbaum, Joseph (1 966): ELIZA - A Computer Program For the Study of Natural Language Communication Between Man and Machi ne. I n: Communications of the ACM, 9/1. S. 36-35. Onl i ne: http://i5. nyu. edu/~mm64/x52. 9265/january1 966. html]