Prof. Dr. Andrä Wolter Erosion alter Grenzziehungen? Berufliche Bildung, Hochschulbildung und Weiterbildung Zwischen Fachkräftemangel und Studierenden berg Vorseminar 4 Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für wissenschaftliche Weiterbildung und Fernstudium (DGWF), LM-Universität München, Mittwoch, 12. September 2012
Gliederung (1) Bedarf an und Nachfrage nach Hochschulbildung im Überblick (2) Potenziale erweiterter Studiennachfrage (3) Entwicklung der Studiennachfrage: Status-quo und Projektion (4) Übergänge in den Beruf und beruflicher Verbleib: Beschäftigungsindikatoren (5) Berufsstruktureller Wandel und Arbeitskräftebedarf (6) Herausforderungen und Konsequenzen: Neukonfiguration von beruflicher Bildung, Hochschulbildung und Weiterbildung? Warnung: Zukunft der Weiterbildung an Hochschulen aus der Perspektive sozialstrukturellen Wandels 2
Bedarfsseite: Konjunkturen einer Debatte (1) Bedarf an Fachkräften wichtigste Legitimationsfigur, Bedarfssteuerung ( manpower requirement approach ) aber faktisch nie implementiert (2) 1960/70er Jahre: Hochschulausbau primär aus volkswirtschaftl. Gründen (3) Von Anfang an Unkenrufe vor akademischer Dequalifizierung (4) Wendepunkt der Ausbaupolitik Mitte der 1970er Jahre, Übergang zu einer muddling-through -Strategie (5) 1980/90er Jahre: Stagnation, Krisenbewältigungs- und Anpassungsstrategie (6) Weiterhin begleitet von kontroverser Debatte über Akademikerbedarf: Wachstums- vs. Überproduktionsthese ( over-education ) (7) Volatilität der Arbeitsmarktanalyse: Koexistenz beider Thesen, Übergewicht der einen oder anderen These je nach wirtschaftlicher Entwicklung und Zeitgeist (8) In den letzten Jahren Durchsetzung der These eines drohenden Fachkräftemangels, besonders im Bereich hochqualifizierter Arbeitskräfte (MINT) (9) Noch vor ca. 10 Jahren entschiedener Widerstand der Wirtschaft gegen eine Ausweitung des Hochschulzugangs ( mehr Studierende als Auszubildende ) 3
Nachfrageseite: kontinuierliche Expansion (1) In Deutschland tendenziell in jedem Jahr mehr Studienanfänger/ -innen als im Jahr zuvor (2) 2011: 516.000 Anfänger/-innen u. Anfängerquote von 55 % (3) Globaler Trend - bei allerdings starken Unterschieden im Niveau und Tempo zwischen den Ländern (4) Deutschland international im Mittelfeld, unter OECD-Staaten im unteren Feld (5) Steigende Beteiligung von Frauen international wichtig(st)er Wachstumsfaktor (6) In Deutschland nach wie vor ausgeprägte soziale Disparitäten in der Wahrscheinlichkeit der Studienaufnahme (deutlicher als in anderen Ländern) (7) Soziale Selektion erfolgt primär auf dem Weg zur Studienberechtigung hin, aber auch an der Schwelle des Hochschulzugangs 4
Koordinaten der aktuellen Debatte über Hochschule und Arbeitsmarkt (1) Koexistenz widersprüchlicher Szenarien: Drastisches Wachstum der Studiennachfrage Befürchtete demographische Kontraktion Furcht vor dramatischem Nachwuchsmangel (2) Bildungspolitische Codierung: Sicherung des Studierendennachwuchses und des Fachkräftebedarfs im demographischen Wandel (3) Aktuelle Faktoren der Studiennachfrage: Demographie: ab 2010 sinkende Geburtenzahlen in den relevanten Alterskohorten Bildungsbeteiligung: anhaltende Expansion des Gymnasiums, steigende Studienberechtigtenquoten, hohe Übergangsquoten zur Hochschule Politische Interventionen: Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur; Wegfall der Wehrpflicht; Umwandlung der BA B-W in Duale Hochschule (4) Hochschule als Volksbildungsstätte der Postmoderne? Löst die Hochschule die duale Berufsausbildung als wichtigsten nachschulischen Lernort ab? (5) Wachsende Konkurrenz zwischen Berufs- und Hochschulbildung um dieselbe Zielgruppe? 5
Potenziale erweiterter Studiennachfrage (1) Increasing and widening participation (2) Studienberechtigtenzahl/-quote steigern (3) Übergangsquote Schule Hochschule anheben (4) Studienberechtigte, die bislang auf ein Studium verzichtet haben, für ein Studium gewinnen (5) Studienerfolgsquote anheben: aus Studienanfängern mehr Absolventen erzielen (6) Soziale Öffnung: Soziale Ungleichheit in der Beteiligung an Hochschulbildung abbauen (7) Berufliche Öffnung: Nicht-traditionelle Studierende und andere neue Zielgruppen 6
Offene Hochschule Spektrum der Maßnahmen Seit ca. 2005: Zahlreiche Initiativen und Maßnahmen zur Öffnung der Hochschule für neue Zielgruppen bzw. für lebenslanges Lernen (1) BMBF-Förderprogramm Offene Hochschule/Aufstieg durch Bildung 2011 ff. (2) Länderspezifische Programme (z.b. Niedersachsen) (3) KMK-Vereinbarung 2009: Neuregelung des Hochschulzugangs für beruflich qualifizierte Bewerber ohne schulische Studienberechtigung (4) Zahlreiche Maßnahmen auf Länderebene zur Neuregelung des Hochschulzugangs (5) BMBF-Programm Aufstiegsstipendien (seit 2008) (6) ANKOM-Projektverbünde I III, 2006 ff. (7) KMK 2009: Neufassung der Anrechnungsvereinbarung von 2002 (8) Förderung zahlreicher Forschungsprojekte im Bereich Hochschule und LLL (9) Zahlreiche Initiativen u. Maßnahmen auf Hochschulebene zur Entwicklung neuer Studiengänge 7
Berufliche Bildung Hochschulbildung Weiterbildung: Traditionelles Verständnis Traditionelle Segmentierungen: - zwischen beruflicher Bildung und Hochschulbildung - zwischen Erstausbildung/-studium und Weiterbildung - zwischen schulischer Vorbildung und Ausbildung/Studium Doppelte Herausforderung: empirisch durch den realen Druck der Bildungs- und Arbeitsmarktentwicklung programmtisch/konzeptionell: durch eine an der Lebensverlaufsperspektive/Vorstellung lebenslangen Lernens orientierten Betrachtung 8
Entwicklung der Studienanfängerquote 1950 2011 Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Hochschulstatistik 9
Projektionsmethodik (1) Teilprojektion im Rahmen eines Gesamtmodells der Bildungsvorausberechnung (Statistisches Bundesamt) (2) Projektionen als konditionale Vorausschätzungen (wenn-dann- Verknüpfungen) (3) Annahme unterschiedlicher Szenarien, primär in den Übergangsquoten (4) Folge: Korridorschätzung mit Maximal-, mittlerer und Minimalvariante (anders als KMK-Prognose 2012) (5) Regionale Differenzierung möglich nach Ländergruppen (6) Darstellung im Bildungsbericht als Indexberechnung (7) Projektionen als self-fulfilling prophecy : Fortschreibung und Aktualisierung geplant 10
Annahmen der Bildungsvorausberechnung für den Übergang in die Hochschule Übergangsquoten Untere Variante Übergangsquoten 2010 und Zahl der Studienanfänger ohne schulische bzw. mit ausländischer HZB gehen bis 2015 auf den Fünfjahresschnitt zurück Mittlere Variante Fortschreibung der Übergangsquoten 2010 und der Zahl der Studienanfänger ohne schulische bzw. mit ausländischer HZB Obere Variante Erhöhung der Übergangsquoten 2010 und der Zahl der Studienanfänger ohne schulische bzw. mit ausländischer HZB um die Steigerung 2010 gegenüber dem Fünfjahresschnitt Studienanfänger/innen in Studiengängen mit Staatsexamen Fünfjahresschnitt Wehrdienst Zeitliches Übergangsverhalten der Männer wie das der Frauen Regionale Verteilung der Studienanfänger/innen Wanderungsmatrix 2010 11
Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Bildungsvorausberechnung 2012, KMK Vorausberechnung der Studienanfängerzahlen 2012-2025 12
Studiennachfrage bis 2025 nach Ländergruppen (Indexwerte 2010 = 100) Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Bildungsvorausberechnung 2012 13
Indikatoren des beruflichen Verbleibs von Hochschulabsolvent/inn/en (1) Qualifikationsspezifische Arbeitslosigkeit 1975 2009 (MZ) (2) (Nicht-)Erwerbstätigkeit und Erwerbslosigkeit nach Berufsabschluss (MZ) (3) (Nicht-) Äquivalenz im Verhältnis erworbener Qualifikation und ausgeübter Beschäftigung (HIS-Absolventenpanel 1/2009) (4) Äquivalenzmessung über folgende Kategorien: - Notwendigkeit des Hochschulabschlusses - Positionsadäquanz (vertikal) - Niveauadäquanz (vertikal) - Fachadäquanz (horizontal) Differenzierung nach 4 Adäquanzstufen (volladäquat, nur vertikal, nur fachlich, inadäquat) (5) Vergleich zwischen allen Qualifikationsgruppen (MZ) und innerhalb der Gruppe der Hochschulabsolvent/inn/en (Absolventenstudien) 14
Übergänge in den Beruf und beruflicher Verbleib bei Hochschulabsolventen (1) Starker Anstieg der Absolventenzahlen und der Absolventenquote seit 2003 (2) Frage: Wie reagiert der Arbeitsmarkt? (3) Hohe Übergangsquoten von BA-Absolventen in MA- Programme (4) Dequalifizierungserscheinungen bei BA-Absolventen? (5) Beschäftigungsindikatoren (Adäquanz, Arbeitslosigkeit) lassen insgesamt keine Dequalifizierung erkennen (6) Aber starke fachspezifische Unterschiede (Segmentierung in Teilarbeitsmärkte) 15
Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Hochschulstatistik 16
Quelle: HIS Absolventenbefragung 2009 17
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Adäquanz der etwa ein Jahr nach Studienabschluss ausgeübten Erwerbstätigkeit (in %) Quelle: HIS Absolventenbefragung 2009 19
Adäquanz der Erwerbstätigkeit 1, 5 und 10 Jahre nach Studienabschluss, nach Fachrichtung (in %) Quelle: HIS Absolventenbefragung, Abschlussjahrgang 1997; Bildung in Deutschland 2012,Tab. F4-16web 20
Erwerbstatus nach beruflichem Bildungsabschluss und Geschlecht 2010 (in %) Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Mikrozensus 2010; Bildung in Deutschland 2012, Tab. I1-1A 21
Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquoten 1975 bis 2009 (in %) Quelle: IAB-Aktuell 10.2.2011 22
Entwicklung von Angebot und Nachfrage bei Personen mit Fachhochschul-/ Hochschulabschluss (Indexwerte) Quelle: Projektionen, Berechnungen und Darstellung des NIW. 23
Berufsstruktureller Wandel in Deutschland (1990 2007) 40% 35% 30% 25% 20% 15% Starker Zuwachs: Gesundheits- und Sozialberufe Starke Abnahme: Technische Berufe Starke Abnahme: Facharbeiter/ Handwerker 1997 2007 10% 5% Starker Zuwachs: Freie Berufe Oberes Management Starke Abnahme: Dienstleistungen Produktion 0% Professionen Semiprofessionen Lehrberufe An- und Ungelernte (Anteile der Berufsgruppen an der Gesamtheit der Erwerbstätigen) Quelle: SOEP, Vester 2011 24
Arbeitskräftebedarf 2005 bis 2025 nach Berufshauptfeldern (in %) 25
Wandel von Arbeit und (Hochschul-)Bildung (1) Hochschulexpansion bislang ohne arbeitsmarktpolitische Friktionen, keines der Dequalifizierungsszenarien eingetreten (2) Aber Absorptionsprobleme können konjunkturell/fachspezifisch auftreten gefühlte Prekarisierung ausgeprägter als die tatsächliche (3) Ist die günstige Arbeitsmarktsituation Hochqualifizierter in D. auch eine Folge der international niedrigen Absolventenquoten? (4) Fundament der bisherigen und zukünftigen Beschäftigungsentwicklung: anhaltender säkularer Qualifikationsstrukturwandel durch Höherqualifizierung (5) Sozialökonomischer Strukturwandel: Tertiarisierung von Wertschöpfung und Beschäftigung Wachstum humankapitalintensiver Dienstleistungen als Träger der Expansion (wissensbasierte Ökonomie) 26
Wandel von Arbeit und (Hochschul-)Bildung (6) Vorhandene Arbeitsmarktprojektionen im Trend sehr ähnlich, aber unterschiedlich in der Bilanz von Nachfrage und Angebot (7) Aber Zweifel an der Prognose eines generellen Nachwuchsmangels Wirksamkeit kompensatorischer arbeitsmarktpolitischer Strategien (Lebensarbeitszeit, Erwerbsquoten, Frauenerwerbstätigkeit, Rationalisierung, Zuwanderung) unklar (8) Aber regionale, sektorale/fachliche und institutionelle mismatches zw. Arbeitskräfteangebot und Bedarf hochwahrscheinlich (9) Mittleres Qualifikationssegment bleibt wohl auch in Zukunft dominant, Bedarfsüberhang hier ebenfalls hochwahrscheinlich (10) Neue Beschäftigungszone für Bachelors und qualifizierte nichtakademische Fachkräfte? 27
Erwerbspersonen und Erwerbstätige nach Qualifikationsniveaus (ISCED) in Mio. Personen Quelle: BIBB-Report 18/12, Mai 2012, S. 5 28
Herausforderungen (1) Projektion der Bildungs-/Studiennachfrage eindeutiger als die des Arbeitskräftebedarfs (2) Verstärkt sich die mögliche Konkurrenzsituation zwischen Berufs- und Hochschulbildung? (3) Flexibilisierung der Bildungswege und des Arbeitskräfteeinsatzes als Ausweg aus dem Prognosedilemma? (4) Sind die historisch gewachsenen Segmentierungen in der institutionellen Struktur unseres Bildungssystems und in der Qualifikationsstruktur das wichtigste Hindernis? zwischen Berufs- und Hochschulbildung zwischen Erstausbildung und Weiterbildung zwischen akademischen Berufen und nicht-akademischen Berufen (5) Werden historisch gewachsene Segmentierungen zwischen beruflicher Bildung, Hochschulbildung und Weiterbildung durch neue Institutionalisierungsformen durchlässiger? 29
Mögliche Lösungsansätze: Durchlässigkeit als bildungspolitische Strategie? (1) Begrenzung der Nachfrage nach höherer und akademischer Bildung? Historisch bislang immer gescheitert und erzeugt Frustrationen (2) Weitere Akademisierung bislang nicht-akademisch organisierter Ausbildungswege? (3) Ausbau von Hybridformen zwischen Berufs- und Hochschulbildung (z.b. duale Studiengänge)? (4) Ausbau berufsbegleitender und mixed-mode-studienangebote? (5) Erststudium als berufliche Fortbildung? (6) Einbau hochschulbezogener Module in berufliche Fortbildungsangebote? (7) Etablierung neuer Abschlussformen Modul- und Zertifikatsprogramme nach dem Baukastensystem Neudefinition von Studienerfolg (8) Offenere Übergänge zwischen beruflicher Bildung und Hochschulbildung? (9) Ausbau von Anrechnungsverfahren? (10) Weitere Ideen? 30
Entnommen aus: Die Mitbestimmung, April 1990 31
Wenn wir schon sparen, dann nicht an Gehirnmasse. Hubert Markl, Biologe, 1986-1991 Präsident der DFG, 1996-2002 Präsident der Max-Planck-Gesellschaft Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Andrae.Wolter@hu-berlin.de 32