Strafrecht Allgemeiner Teil I

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Transkript:

Strafrecht Allgemeiner Teil I 11 Das vorsätzliche (unechte) Unterlassungsdelikt Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi, LL.M., RA Vgl. DONATSCH/TAG, S. 299 ff.; STRATENWERTH, 14 HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Seite 1

Unterlassen 1. Sie fahren mit dem Auto eine entlegene Bergstrasse entlang. In einer Kurve sehen sie ein verunfalltes Fahrzeug. Sie bremsen ab und erkennen: Der Fahrzeuglenker hängt bewusstlos und blutüberströmt über dem Lenkrad. Ihnen wird schlecht. Sie geben Gas und fahren von dannen. Das Unfallopfer verendet 30 Minuten später an der Unfallstelle. 2. «Meine Frau hat mich nach 20 Jahren Ehe für einen anderen verlassen. Jetzt das Scheidungsurteil: Ich muss ihr bis zu ihrer Pensionierung im Jahre 2027 monatlich Fr. 600,- nachehelichen Unterhalt zahlen. Aber nicht mit mir, nicht nach so einer Geschichte. Ich zahle jetzt einfach seit Monaten nichts. Mal gucken, was passiert.» 3. So hat sich Marie ihr Mutterglück nicht vorgestellt. Ihr Freund hat sie verlassen und ihre neu geborene Tochter entpuppt sich als Schreibaby. Ohne erkennbaren Grund brüllt sie Tag und Nacht stundenlang. Nach drei Monaten ist Marie mit den Nerven völlig am Ende. Sie gibt dem Kind nichts mehr zu trinken. Vier Tage später ist es verdurstet und liegt tot im Kinderbett. Strafbarkeit? HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 2

Fallbeispiel: Verkehrsunfall Art. 128 StGB Unterlassung der Nothilfe Wer einem Menschen, [ ] der in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt, nicht hilft, obwohl es ihm den Umständen nach zugemutet werden könnte, [ ] wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. Unterlassen von Nothilfe Sie fahren mit dem Auto eine entlegene Bergstrasse entlang. In einer Kurve sehen sie ein verunfalltes Fahrzeug. Sie bremsen ab und erkennen: Der Fahrzeuglenker hängt bewusstlos und blutüberströmt über dem Lenkrad. Ihnen wird schlecht. Sie geben Gas und fahren von dannen. Das Unfallopfer verendet 30 Minuten später an der Unfallstelle. Beachte: Die strafrechtliche Verantwortlichkeit beschränkt sich hier auf die reine Untätigkeit, bezieht sich also nicht auf die Folgen der unterlassenen Nothilfe z.b. den Tod des Unfallopfers. HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 3

Fallbeispiel: Gehörnter Ehemann Art. 217 StGB: Vernachlässigung von Unterhaltspflichten 1 Wer seine familienrechtlichen Unterhaltsoder Unterstützungspflichten nicht erfüllt, obschon er über die Mittel dazu verfügt oder verfügen könnte, wird, auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. [ ] Unterlassen von Unterhaltszahlungen «Meine Frau hat mich nach 20 Jahren Ehe für einen anderen verlassen. Jetzt das Scheidungsurteil: Ich muss ihr bis zu ihrer Pensionierung im Jahre 2027 monatlich Fr. 600,- nachehelichen Unterhalt zahlen. Aber nicht mit mir, nicht nach so einer Geschichte. Ich zahle jetzt einfach seit Monaten nichts. Mal gucken, was passiert.» HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Seite 4

Fallbeispiel: Mutterglück Art. 111 StGB Vorsätzliche Tötung Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, [ ] wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft. töten = aktives Tun (erwürgen, erschlagen, vergiften, erstechen etc ) «Verursachung» des Todes durch das Verhalten des Täters So hat sich Marie ihr Mutterglück nicht vorgestellt. Ihr Freund hat sie verlassen und ihre neu geborene Tochter entpuppt sich als Schreibaby. Ohne erkennbaren Grund brüllt sie Tag und Nacht stundenlang. Nach drei Monaten ist Marie mit den Nerven völlig am Ende. Sie gibt dem Kind nichts mehr zu trinken. Vier Tage später ist es verdurstet und liegt tot im Kinderbett. Strafbarkeit? HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 5

Fallbeispiel: Mutterglück Art. 111 StGB Vorsätzliche Tötung Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, [ ] wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft. + Art. 11 StGB: Begehen durch Unterlassen 1 Ein Verbrechen oder Vergehen kann auch durch pflichtwidriges Untätigbleiben begangen werden. 2 Pflichtwidrig untätig bleibt, wer die Gefährdung oder Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsgutes nicht verhindert, obwohl er aufgrund seiner Rechtstellung dazu verpflichtet ist, namentlich auf Grund: a. des Gesetzes; b. eines Vertrages; c. einer freiwillig eingegangenen Gefahrengemeinschaft; oder d. der Schaffung einer Gefahr. 3 Wer pflichtwidrig untätig bleibt, ist gestützt auf den entsprechenden Tatbestand nur dann strafbar, wenn ihm nach den Umständen der Tat derselbe Vorwurf gemacht werden kann, wie wenn er die Tat durch ein aktives Tun begangen hätte. 4 Das Gericht kann die Strafe mildern. HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 6

Arten von Unterlassungsdelikten echte Unterlassungsdelikte unechte Unterlassungsdelikte Nichtstun (= Unterlassen) wird im jeweiligen TB des BT selbst ausdrücklich erfasst Beispiele: Unterlassung der Nothilfe (Art. 128 Abs. 1 StGB) Vernachlässigung von Unterhaltspflichten (Art. 217 StGB) etc. Möglichkeit einer Begehung durch Nichtstun (= Unterlassen) ist nicht im jeweiligen Straftatbestand selbst beschrieben, sondern wird erst durch Art. 11 StGB klargestellt konkreter BT-Tatbestand (z.b. Art. 111 StGB) + Art. 11 StGB HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 7

Strafrechtliche Relevanz des Unterlassens Staatsbürgerliche Grundpflicht ist das Unterlassen (nämlich von Rechtsgutsverletzungen) Sie wird verletzt durch Tun. Es gibt aber auch besonders begründete Pflichten zum Handeln. Sie werden verletzt durch Unterlassen. HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 8

Strafrechtliche Relevanz des Unterlassens bei Verletzung spezieller Handlungspflichten an die im jeweiligen BT-TB angeknüpft wird Beispiele: Art. 128 Abs. 1 Alt. 2 StGB (Nothilfepflicht bei unmittelbarer Lebensgefahr für einen Menschen); Art. 128 Abs. 1 Alt. 1 StGB (Nothilfepflicht des Verletzers); Art. 217 StGB (Unterhaltspflicht) echte Unterlassungsdelikte aus einer besonderen Rechtsstellung (Garantenstellung) des Täters vgl. Art. 11 Abs. 2 StGB unechte Unterlassungsdelikte alle UD sind Sonderdelikte (STRATENWERTH, 15 N 5; teilweise a.a. DONATSCH/TAG, S. 305 [bei Art. 128 Abs. 1 Alt. 2 StGB]) HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 9

Verletzung spezieller Handlungspflichten, an die im BT-Tatbestand angeknüpft wird Grundgedanke: Pflicht zur Wahrung eines Mindestmasses an zwischenmenschlicher Solidarität Handlungspflicht: nur unter bestimmten einschränkenden Voraussetzungen (vgl. TB-Merkmale!) Täter: derjenige, der sich in der tatbestandsmässigen Situation befindet Art. 128 Abs. 1 Alt. 2 StGB Unterlassung der Nothilfe Wer einem Menschen, [ ] der in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt, nicht hilft, obwohl es ihm den Umständen nach zugemutet werden könnte, [ ] wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. (vgl. STRATENWERTH, AT I 15 N 5 [Sonderdelikt]; a.a. DONATSCH/TAG, S. 305 [Allgemeindelikt]) HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 10

Verletzung spezieller Handlungspflichten, an die im BT-Tatbestand angeknüpft wird Art. 217 Abs. 1 StGB Vernachlässigung von Unterhaltspflichten Wer seine familienrechtlichen Unterhalts- oder Unterstützungspflichten nicht erfüllt, obschon er über die Mittel dazu verfügt oder verfügen könnte, wird, auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. [ ] z.b. Pflicht zur Leistung von nachehelichem Unterhalt, Art. 125 ZGB «Meine Frau hat mich nach 20 Jahren Ehe für einen anderen verlassen. Jetzt das Scheidungsurteil: Ich muss ihr bis zu ihrer Pensionierung im Jahre 2027 monatlich Fr. 600,- nachehelichen Unterhalt zahlen. Aber nicht mit mir, nicht nach so einer Geschichte. Ich zahle jetzt einfach seit Monaten nichts. Mal gucken, was passiert.» HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Seite 11

Fallbeispiel: Mutterglück Art. 111 StGB Vorsätzliche Tötung Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, [ ] wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft. Strafbewehrte Pflicht zur Verhinderung des Todes? So hat sich Marie ihr Mutterglück nicht vorgestellt. Ihr Freund hat sie verlassen und ihre neu geborene Tochter entpuppt sich als Schreibaby. Ohne erkennbaren Grund brüllt sie Tag und Nacht stundenlang. Nach drei Monaten ist Marie mit den Nerven völlig am Ende. Sie gibt dem Kind nichts mehr zu trinken. Vier Tage später ist es verdurstet und liegt tot im Kinderbett. Strafbarkeit? HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 12

Verletzung von Handlungspflichten aus einer Garantenstellung des Täters (Art. 11 Abs. 2 StGB) Art. 11 Abs. 2 StGB: Pflichtwidrig untätig bleibt, wer die Gefährdung oder Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsgutes nicht verhindert, obwohl er aufgrund seiner Rechtstellung dazu verpflichtet ist, namentlich auf Grund: a. des Gesetzes; b. eines Vertrages; c. einer freiwillig eingegangenen Gefahrengemeinschaft; oder d. der Schaffung einer Gefahr. besondere Rechtsstellung des Täters (= Garantenstellung), die ihn zum Eingreifen verpflichtet (= Garantenpflicht) Vgl. BGE 141 IV 251 ff. HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 13

Begehungsdelikte Unterlassungsdelikte Begehungsdelikte Verbot bestimmter Handlungen (= Unterlassungspflicht) «Greife nicht in fremde Rechtsgüter ein!»; «Verletze niemanden»; «Töte nicht»; «Mach keine fremden Sachen kaputt» Tatbestand wird durch ein aktives Tun verwirklicht, d.h. durch die Verletzung der Unterlassungspflicht Regelfall Unterlassungsdelikte Gebot eines bestimmten Tätigwerdens (= Handlungspflicht) «Beseitige diese Gefahr!», «Hilf einem in Not Befindlichen!»; «Gib dem Säugling Nahrung»; «Zahl den Unterhalt, den Du schuldest» Tatbestand wird durch ein Untätigbleiben (=Unterlassen) verwirklicht, d.h. durch die Verletzung der Handlungspflicht Ausnahmefall HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 14

Tun oder Unterlassen? Fallbeispiel: IV-Bezug trotz Genesung X wurde eine eingeschränkte Arbeitsfähigkeit zufolge eines Verkehrsunfalls attestiert, weshalb ihm die Sozialversicherungsanstalten nach entsprechender Antragstellung durch X fortan eine Invalidenrente gewährten. Allerdings verbesserte sich sein Gesundheitszustandes mit der Zeit. Darüber informierte X die Leistungserbringer nicht. Er nahm die Rentenzahlungen weiterhin entgegen und verwendete sie für seinen Lebensunterhalt. Versicherungsdetektive ermittelten nach einigen Jahren: X fährt unterdessen Autorennen, er arbeitet in einer Garage, sein Gesundheitszustand scheint einwandfrei. X wurde angeklagt wegen gewerbsmässigen Betrugs zum Nachteil der Versicherer in den Jahren 2005-2008. Betrug durch aktives Tun oder durch Unterlassung? (vgl. BGE 140 IV 11) HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 15

Massstäbe für die Abgrenzung von Tun und Unterlassen 1. Ansatz: Wertende Betrachtung des Geschehens in seiner Gesamtheit: Liegt nach dem sozialen Sinngehalt bzw. nach dem Schwergewicht des fraglichen Verhaltens eher ein Tun oder ein Unterlassen vor? 2. Ansatz: Subsidiaritätsprinzip (h.m.) Falls sich irgendeine äusserlich feststellbare Handlung (= Energieeinsatz in eine bestimmte Richtung) kausal in einem tatbestandlichen Erfolg niederschlägt, liegt ein Begehen durch aktives Tun vor. Dann ist immer zuerst zu prüfen, ob dieses aktive Tun tatbestandsmässig, rechtswidrig und schuldhaft ist (BGE 120 IV 271). Die Prüfung des Unterlassens ist nur dann erforderlich, wenn dieses aktive Tun keine strafrechtliche Verantwortlichkeit begründet oder wenn das Unterlassen evt. noch eine andere weiterreichende Haftung begründet. (Vgl. BGE 115 IV 199, E. 2a; 120 IV 271) HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 16

Tun oder Unterlassen? Aktives Tun, das tatbestandsmässig, rechtswidrig und schuldhaft ist? Antragstellung: kausal für Weitergewährung der IV-Rente strafbar nach Art. 146 StGB? Entgegennahme der Versicherungsleistungen? «Der Entgegennahme der Versicherungsleistungen kommt [ ] kein positiver Erklärungswert zu. [ ] Dem Beschwerdeführer ist damit im Ergebnis ausschliesslich vorzuwerfen, dass er die Versicherer [ ] nicht über seinen verbesserten Gesundheitszustand aufklärte [ ]. Damit kommt hier nur Betrug durch Unterlassen in Betracht, was eine Garantenpflicht voraussetzt.» (BGE 140 IV 15 ff.) Relevanz der Unterscheidung: Wird an das blosse Unterlassen angeknüpft, dann ist insbesondere eine Garantenstellung des Täters erforderlich (vgl. Art. 11 StGB) und es gibt eine Strafmilderungsmöglichkeit nach Art. 11 Abs. 4 StGB, die beim aktiven Tun nicht existiert. HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 17

Prüfungsvorschlag für das vorsätzliche vollendete unechte Unterlassungsdelikt I. Tatbestand a. objektiver Tatbestand Eintritt des tatbestandsmässigen Erfolgs Nichtvornahme einer zur Erfolgsabwendung geeigneten Handlung (= Unterlassung; nötigenfalls Abgrenzung zum Tun) Möglichkeit zur Vornahme dieser Handlung (= Tatmacht) Garantenstellung des Täters (Art. 11 Abs. 2 StGB) hypothetische Kausalität der Unterlassung für den Erfolg (Wahrscheinlichkeitstheorie Risikoerhöhungstheorie) Vorwurfsidentität (falls erörterungsbedürftig) b. subjektiver Tatbestand Vorsatz weitere subjektive Merkmale (wenn vom Tatbestand verlangt) II. Rechtswidrigkeit insbesondere: rechtfertigender Notstand (Interessenabwägung); rechtfertigende Pflichtenkollision III. Schuld Art. 11 StGB: Begehen durch Unterlassen 1 Ein Verbrechen oder Vergehen kann auch durch pflichtwidriges Untätigbleiben begangen werden. 2 Pflichtwidrig untätig bleibt, wer die Gefährdung oder Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsgutes nicht verhindert, obwohl er aufgrund seiner Rechtstellung dazu verpflichtet ist, namentlich auf Grund: a. des Gesetzes; b. eines Vertrages; c. einer freiwillig eingegangenen Gefahrengemeinschaft; oder d. der Schaffung einer Gefahr. 3 Wer pflichtwidrig untätig bleibt, ist gestützt auf den entsprechenden Tatbestand nur dann strafbar, wenn ihm nach den Umständen der Tat derselbe Vorwurf gemacht werden kann, wie wenn er die Tat durch ein aktives Tun begangen hätte. 4 Das Gericht kann die Strafe mildern.

Garantenstellung = besondere Rechtsstellung des Täters, die ihn zum Eingreifen verpflichtet mögliche Quellen für eine Garantenstellung (vgl. Art. 11 Abs. 2 StGB «namentlich»!): aus Gesetz (z.b. Stellung als Amtsträger; VSP); aber: NICHT allein aus echtem UD! aufgrund einer Stellung als Geschäftsherr (sog. Geschäftsherrenhaftung) durch einverständliche Übernahme einer Schutzpflicht (sog. vertragliche Übernahme) aus freiwillig eingegangener Gefahrengemeinschaft aufgrund eines vorausgegangenen (pflichtwidrigen; h.m.) gefährdenden Tuns (sog. Ingerenz) aufgrund natürlicher Verbundenheit (familiäre Obhutsverhältnisse, enge Lebensgemeinschaft) Beachte: Die verschiedenen Fallgruppen für die Begründung einer Garantenstellung schliessen sich nicht gegenseitig aus. Im konkreten Fall können auch mehrere Fallgruppen gegeben sein. Auch kann sich aus Teilstücken der oben genannten Fallgruppen im Wege der Addition eine Garantenstellung ergeben. HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 19

Einteilung von Garantenstellungen nach der Aufgabe, die vom Garanten zu erfüllen ist Gefahr n Gefahr 1 Gefahr n Beschützergarant: Schutzpflicht für ein bestimmtes Rechtsgut (z.b. Leben, körperliche/sexuelle Integrität, Vermögen) vor allen Gefahren HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 20

Einteilung von Garantenstellungen nach der Aufgabe, die vom Garanten zu erfüllen ist Sicherungsgarant: Sicherung einer Gefahrenquelle, damit Schädigungen von Rechtsgütern beliebiger Träger vermieden werden HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 21

Fallbeispiel: Zimmer frei Maurus und Fabiana wohnen zusammen. Beim Renovieren stürzt Fabiana von einer Leiter und bleibt stöhnend auf dem Boden liegen. Maurus eilt hinzu und erkennt, dass Fabiana dringend ärztliche Hilfe benötigt. Weil er ohnehin lieber alleine wohnen möchte, macht er kehrt und geht zum Jassabend mit Kollegen. Fabiana stirbt unterdessen an den Folgen des Sturzes. Die rechtsmedizinische Untersuchung ergibt, dass sie den Sturz höchstwahrscheinlich überlebt hätte, wenn sie bald nach dem Auffinden ärztlich behandelt worden wäre. Macht es einen Unterschied, ob Maurus und Fabiana verheiratet sind, in einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft oder in einer Wohngemeinschaft zusammenleben? I. Tatbestand a. objektiver Tatbestand Eintritt des tatbestandsmässigen Erfolgs Nichtvornahme einer zur Erfolgsabwendung geeigneten Handlung (= Unterlassung; u.u. Abgrenzung zum Tun) Möglichkeit zur Vornahme dieser Handlung (= Tatmacht) Garantenstellung des Täters, namentlich auf Grund: des Gesetzes; eines Vertrages; einer freiwillig eingegangenen Gefahrengemeinschaft; oder der Schaffung einer Gefahr hypothetische Kausalität der Unterlassung für den Erfolg Vorwurfsidentität (falls erörterungsbedürftig) b. subjektiver Tatbestand Vorsatz weitere subjektive Merkmale (wenn vom Tatbestand verlangt) II. Rechtswidrigkeit insbesondere: rechtfertigender Notstand (Interessenabwägung); rechtfertigende Pflichtenkollision III. Schuld

Fallbeispiel: Ist ein IV-Bezieher Garant für das Vermögen des Versicherers? «Für sein Vermögen hat der Versicherer grundsätzlich selber zu sorgen. Die Verantwortung hierfür geht alleine aufgrund der Meldepflicht nicht auf den Leistungsbezüger über. [Diese Pflicht] ist Ausdruck des Grundsatzes von Treu und Glauben [ ]. Pflichten, die sich aus diesem Gebot ergeben, genügen nicht, um eine Garantenstellung zu begründen.» (BGE 140 IV 15 ff.) Freispruch vom Betrugsvorwurf Merke: Strafrechtsspezifische Wertungen sind bei der Frage nach einer Garantenstellung entscheidend. Eine Garantenstellung kann nicht «automatisch» aus Pflichtschöpfungen im zivilen und öffentlichen Recht abgeleitet werden, die auf ganz anderen Gesichtspunkten beruhen! HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 23

Fallbeispiel: Zuschauer Die Gaststätte von Gustavo ist gut besucht. Zu fortgeschrittener Stunde geraten zwei Gäste aneinander, Bela und Ali. Zu diesem Zeitpunkt sind beide schon angetrunken, Gustavo hat einige Biere ausgeschenkt. Ali meint, Bela habe sich am Spielautomaten vorgedrängelt. Nach einigem hin und her greift Ali dem Bela plötzlich mitten ins Gesicht und rupft ihm die Brille von der Nase. Gustavo schaut dem Treiben amüsiert zu. Erst als Ali dem Bela so kräftig auf den Mund haut, dass dessen Lippe aufplatzt, gebietet er dem Treiben der beiden Einhalt. Ali ist wegen einfacher KV (Art. 123 Ziff. 1 Abs. 1 StGB) strafbar. Strafbarkeit von Gustavo? I. Tatbestand a. objektiver Tatbestand Eintritt des tatbestandsmässigen Erfolgs Nichtvornahme einer zur Erfolgsabwendung geeigneten Handlung (= Unterlassung; u.u. Abgrenzung zum Tun) Möglichkeit zur Vornahme dieser Handlung (= Tatmacht) Garantenstellung des Täters, namentlich auf Grund: des Gesetzes; eines Vertrages; einer freiwillig eingegangenen Gefahrengemeinschaft; oder der Schaffung einer Gefahr hypothetische Kausalität der Unterlassung für den Erfolg Vorwurfsidentität (falls erörterungsbedürftig) b. subjektiver Tatbestand Vorsatz weitere subjektive Merkmale (wenn vom Tatbestand verlangt) II. Rechtswidrigkeit insbesondere: rechtfertigender Notstand (Interessenabwägung); rechtfertigende Pflichtenkollision III. Schuld

Reichweite der Garantenstellung aus Ingerenz/vorausgegangenem gefährlichen Tun (Art. 11 Abs. 2 lit. d)? Ingerenzprinzip: Derjenige, der eine Gefahr für ein fremdes Rechtsgut schafft oder vergrössert, muss alles Zumutbare vorkehren, um zu verhindern, dass die Gefahr sich realisiert (sog. Gefahrensatz). Problem: Anforderungen an das Vorverhalten? Vorverhalten (aktives Tun) (Schaffung oder Erhöhung einer Gefahr) + Anschliessende Nichtvornahme einer zur Erfolgsabwendung geeigneten Handlung (=Unterlassen) HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 25

Wenn Tun und Unterlassen nacheinander vorkommen Ausgangslage: 1. aktives Tun, das lediglich fahrlässig (= pflichtwidrig) war PLUS 2. vorsätzliches anschliessendes Unterlassen 3. in Bezug auf denselben, schon durch aktives Tun fahrlässig verursachten Erfolg Beispiel: Fahrlässiges Überfahren eines Fussgängers nachts auf einsamer Landstrasse, der schwere Verletzungen erleidet. Trotz der Annahme, das Unfallopfer werde ohne sofortige Hilfe verbluten, entfernt sich der Fahrer. Unterlassungsstrafbarkeit ist dann ebenfalls zu klären. Denn sie kann eine andere weiterreichende Haftung für den eingetretenen Erfolg, eben wegen Vorsatzes begründen (Garantenstellung aus Ingerenz und/oder andere Fallgruppen). HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 26

Wenn Tun und Unterlassen nacheinander vorkommen Ausgangslage: aktives Tun erweist sich als straflos Beispiele: Fahrzeuglenker wird trotz korrekter Fahrweise in einen Unfall verwickelt, der ausschliesslich auf das Konto des Fehlverhaltens des Fussgängers ging; anschliessendes Liegen- und ggf. Verblutenlassen des Unfallopfers Vorverhalten ist pflichtgemäss Verletzung des Angreifers in Notwehr, anschliessendes Liegen- und ggf. Verblutenlassen des Angreifers Vorverhalten ist durch Eingriffsrecht gedeckt Vorsätzliche Tötung durch anschliessendes Unterlassen denkbar, dann aber ist die Garantenstellung problematisch (Ingerenz?) (Vgl. DONATSCH/TAG, S. 319 f.; STRATENWERTH, AT I 14 N 18; BSK-SEELMANN, Art. 11 N 49) HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 27

Fallbeispiel: Garantenstellung aus Ingerenz/vorausgegangenem gefährlichen Tun (Art. 11 Abs. 2 lit. d)? Till greift Andrin tätlich an. Andrin schlägt kräftig zurück. Till sinkt zu Boden, wo Andrin ihn liegen lässt und seelenruhig den Ort des Geschehens verlässt, obwohl er erkennt, dass Till sich beim Aufprall auf den Boden erheblich verletzt hat. Till stirbt an der Verletzung. Er wäre höchstwahrscheinlich gerettet worden, wenn Andrin unverzüglich einen Notarzt alarmiert hätte. Strafbarkeit von Andrin? Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Tötung (Art. 111 StGB) durch das Zuschlagen?: (-) mangels Tötungsvorsatz Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung (Art. 117 StGB) durch das Zuschlagen?: (-), durch Notwehr gerechtfertigt Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Tötung durch Unterlassen (Art. 111 i.v.m. Art. 11 StGB), weil A keinen Arzt alarmiert hat? Problematisch: Garantenstellung des A aus Ingerenz (Art. 11 Abs. 2 lit. d)? Falls Garantenstellung verneint wurde: Strafbarkeit wegen Unterlassung der Nothilfe (Art. 128 Abs. 1 Alt. 1 StGB Nothilfepflicht des Verletzers) HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 28

Art. 128 Abs. 1 Alt. 1 StGB Nothilfepflicht des Verletzers Grundgedanke: Schon der blosse Verursacher einer Verletzung trägt eine erhöhte Verantwortung für den Verletzten. Verletzen = Verursachung einer mindestens einfachen Körperverletzung Beachten: Aus einem echten Unterlassungsdelikt kann KEINE Garantenstellung «aus Gesetz» hergeleitet werden. Art. 128 Abs. 1 Alt. 1 StGB: Unterlassung der Nothilfe Wer einem Menschen, den er verletzt hat, [ ] nicht hilft, obwohl es ihm den Umständen nach zugemutet werden könnte, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 29

Hypothetische Kausalität des Unterlassens keine reale Kausalität des Unterlassens Wie kann trotzdem ein Zusammenhang zwischen Unterlassung und Erfolg hergestellt werden? Begehungsdelikt natürliche Kausalität = empirisch nachweisbare Verknüpfung kausal ist das Verhalten, wenn es nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele. Wäre der Erfolg ausgeblieben, wenn man die auf ihre Kausalität zu prüfende Handlung wegdenkt? Wenn JA, ist das Verhalten kausal. Unterlassungsdelikt hypothetische Kausalität = Prognose: was wäre gewesen, wenn? hypothetisch kausal ist ein Unterlassen, wenn die erwartete Handlung nicht hinzugedacht werden könnte, ohne dass der Erfolg entfiele Hätte die Vornahme der erwarteten Handlung den Erfolg verhindert? (Wahrscheinlichkeitsth. vs. Risikoerhöhungsth.) Wenn JA, ist die Unterlassung hypothetisch kausal. HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 30

Hypothetische Kausalität des Unterlassens Prüfungsmassstab Wahrscheinlichkeitstheorie (BGer): hypothetische Kausalität nur (+), wenn die Handlung den Erfolgseintritt «höchstwahrscheinlich» / «mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit» verhindert hätte (dabei: Auswertung aller ex post bekannten Umstände). Risikoverringerungstheorie: hypothetische Kausalität schon (+), wenn die Handlung das Risiko des Erfolgseintritts nachweislich verringert hätte (dabei: Auswertung aller ex post bekannten Umstände) = wenn sie die Rettungschancen signifikant verbessert hätte Vgl. STRATENWERTH, 14 N 36; zur Vertiefung und mit Entkräftung wesentlicher Einwände gegen die Risikoverringerungstheorie ROXIN, Strafrecht AT II, 31 N 46 ff. HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 31

Hypothetische Kausalität des Unterlassens Prüfungsmassstab 1. Der Ehemann lässt seine Frau nach einem schweren Sturz auf dem Küchenboden verbluten. Bei sofortigem Notruf und umgehender Operation hätte die Frau einige wenige Überlebenschancen gehabt. 2. Arzt A unterlässt es, einem todkranken Patienten ein Antibiotikum zu verabreichen, in der Annahme, dass dieser dadurch von seinem Leiden erlöst und sterben werde. Der Patient verstirbt. Es lässt sich allerdings nicht klären, ob das Antibiotikum überhaupt angeschlagen hätte, wenn es verabreicht worden wäre. 3. Marie gibt ihrem Baby nichts mehr zu trinken. 4 Tage später ist es verdurstet. Hypothetische Kausalität nach Wahrscheinlichkeitstheorie: NEIN Risikoverringerungstheorie: JA Hypothetische Kausalität nach Wahrscheinlichkeitstheorie: NEIN Risikoverringerungstheorie: NEIN Hypothetische Kausalität nach Wahrscheinlichkeitstheorie: JA Risikoverringerungstheorie: JA HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 32

Rechtfertigende Pflichtenkollision Fallbeispiel: Die Qual der Wahl Bergsteiger Vito besteigt mit zwei Bergsteigerkollegen den Piz Badile im Bergell. Es geht ein Steinschlag herunter, die beiden Kollegen klammern sich über dem Abgrund an einem Felsvorsprung fest, der ebenfalls bröckelt. Die Zeit reicht nur noch, einen der Freunde zu retten. Vito rettet den A. B stützt in die Tiefe. Strafbarkeit von Vito? Art. 111 StGB i.v.m. Art 11 StGB? I. TB: (+) II. RW: rechtfertigender Notstand: rechtfertigende Pflichtenkollision? Kollisionslage: Handlungspflicht: Rettung Freund A Handlungspflicht: Rettung Freund B Wahrung der höherrangigen oder einer gleichrangingen Pflicht? Wenn JA: Rechtfertigung (+) HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 33

Rechtfertigende Pflichtenkollision 1. Kollision zweier Handlungspflichten. 2. Täter kann aus tatsächlichen Gründen nur eine von ihnen erfüllen. 3. Täter erfüllt die höherrangige oder eine von mehreren gleichrangigen Pflichten. Höherrangig kann eine Pflicht sein, wenn: hinsichtlich desselben Rechtsguts eine Garantenpflicht der allgemeinen Hilfspflicht aus Art. 128 StGB gegenübersteht unterschiedlich bewertete Rechtgüter geschützt werden sollen der Grad der Gefahren für die zu schützenden gleichwertigen Rechtsgüter unterschiedlich hoch ist Vgl. BGE 130 IV 19 f.; DONATSCH/TAG, S. 263 ff.; STRATENWERTH, 10 N 62 ff.; ROXIN, AT II, 31 N 205 f., 216 ff. HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 34

Super-GAU am Sihlsee-Staudamm Der Sihlsee-Staudamm bei Einsiedeln wurde durch ein Erdbeben irreparabel beschädigt. Der Bruch der Talsperre steht kurz bevor. Für Zürich bedeutet das: Die Wassermassen des Sihlsees werden sich 40 Kilometer weit in das Sihltal ergiessen. Nach einer Stunde und 25 Minuten wird die Flut Leimbach erreichen. Nach einer Stunde und 50 Minuten hat sie die Innenstadt acht Meter hoch unter Wasser gesetzt. Die Überflutung Zürichs wird vier bis fünf Stunden andauern. Einen Evakuationsplan hat die Stadt Zürich nicht, die Menschen müssen sich selber helfen. Abwenden liesse sich dieses Szenario allein dadurch, dass das Wasser in eine spärlich besiedelte Richtung umgeleitet wird; allerdings würden dann die in jener Gegend wohnenden Familien (112 Personen) mit Sicherheit getötet. 20-Minuten-online vom 9. Februar 2010 HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 35

L (Leiter des Teams für den Katastrophenschutz) leitet das Wasser nicht um. 20 000 Einwohner der Stadt Zürich sterben deswegen in den Fluten. Strafbarkeit von L wegen vorsätzlicher Tötung durch Unterlassen (Art. 111 i.v.m. Art. 11 StGB)? Kollisionslage: Unterlassungspflicht: «Tötung von 112 Personen im spärlich besiedelten Gebiet ist verboten» (Art. 111 StGB) Handlungspflicht: «Rette die 20 000 Einwohner» (Art. 111 i.v.m. Art. 11 StGB) TB: (+) RW:? Rechtfertigender Notstand (Art. 17 StGB): Verletzung fremder Rechtsgüter ist nur zur Wahrung höherwertiger Interessen erlaubt Im Falle des Tätigwerdens: Aufopferung von 112 Menschen zur Rettung von 20 000 = Wahrung höherwertiger Interessen? NEIN. Was folgt daraus für das Untätigbleiben? Vgl. DONATSCH/TAG, S. 263 f.; STRATENWERTH, AT I 14 N 52; SEELMANN/GETH, Strafrecht AT I, N 307 ff.; ROXIN, AT II, 31 N 205 f., 216 ff.; HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 36

«Zumutbarkeit» des Eingreifens Situation: Dem Rettungshandeln stehen eigene Interessen des Garanten entgegen Unstreitig: Zumutbarkeit des Eingreifens ist zu berücksichtigen! Muss der Ehemann seine geliebte Frau, die in diesem Gewässer zu ertrinken droht, durch einen Sprung hinein retten? Streitig: Platzierung im Deliktsaufbau beim unechten UD 1. Möglichkeit: TB Zumutbarkeit als TB-Merkmal 2. Möglichkeit: RW Rechtfertigung, solange keine höherwertigen Interessen vernachlässigt werden (vgl. Art. 17 StGB) 3. Möglichkeit: Schuld je nach Lage der Dinge ausgeschlossen (vgl. Art. 18 StGB) oder vermindert (vgl. Art. 11 Abs. 4 StGB) Vgl. DONATSCH/TAG, S. 309 ff. (?); STRATENWERTH, 14 N 51 (Schuld); BSK-SEELMANN, ART. 11 N 60 (im TB); vertiefend ROXIN, AT II, 31 N 205 f., 216 ff. (Notstandsregel mit Umkehrung der Abwägung) HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 37

Versuchtes unechtes Unterlassungsdelikt Beispiel: Bahngleisfall A geht mitten in der Nacht an den Bahngleisen entlang und sieht seinen Vater auf den Gleisen liegen, volltrunken, nahezu bewusstlos. A ist angewidert. Sein Vater ist ein gewalttätiger versoffener Taugenichts. A wird klar, dass der Zug in 5 Minuten einfahren und V höchstwahrscheinlich überrollt werden wird, wenn er ihn nicht von den Gleisen zerrt. A wendet sich ab. Er findet, dann solle das Leben seines Vaters eben auf diese Weise schicksalhaft enden. A läuft weiter, vom Bahnhof weg. Dabei nimmt er den Tod seines Vaters in Kauf. Erst 2 Minuten vor Eintreffen des Zuges überlegt es sich A plötzlich anders: Er kehrt um, rennt zu den Gleisen und rettet V vor dem sicheren Tod. (angelehnt an BGHSt 38, 356) HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 38

Der Beginn der Ausführung der Tat beim unechten UD Bahngleisfall 1. Möglichkeit: Versuchsbeginn bereits dann, wenn der Garant auf der Basis seiner Vorstellung die erste Rettungsmöglichkeit verstreichen lässt 2. Möglichkeit: Versuchsbeginn erst dann, wenn der Garant auf der Basis seiner Vorstellung die letzte Rettungsmöglichkeit verstreichen lässt 3. Möglichkeit (wohl h.m.): Versuchsbeginn, wenn durch die Verzögerung der Rettungshandlung eine wirkliche oder vom Täter angenommene unmittelbare Gefahr für das Tatobjekt entsteht oder sich eine bereits entstandene Gefahr steigert Versuchsbeginn, als A die Gefahrenstelle verlässt kein Versuchsbeginn, weil A eine Rettungsmöglichkeit ergriffen hat Versuchsbeginn, als A die Gefahrenstelle verlässt Vgl. DONATSCH/TAG, S. 329 f.; STRATENWERTH, 15 N 1 ff. HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 39

Prüfungsvorschlag für das versuchte unechte Unterlassungsdelikt I. Nichtvollendung des Deliktes, Strafbarkeit des Versuchs II. Tatbestand 1. Tatentschluss, das Delikt durch Unterlassen zu verwirklichen Vorsatz bzgl. aller objektiven TBM des Unterlassungsdeliktes u.u. weitere subjektive Merkmale (sofern vom Tatbestand vorausgesetzt) 2. Beginn der Ausführung des Delikts (bedeutet hier: Beginn des dem Handlungsgebot widersprechenden Unterlassens), Zeitpunkt streitig: 1. Möglichkeit: wenn der Garant auf der Basis seiner Vorstellung die erste Rettungsmöglichkeit verstreichen lässt 2. Möglichkeit: wenn der Garant auf der Basis seiner Vorstellung die letzte Rettungsmöglichkeit verstreichen lässt 3. Möglichkeit (wohl h.m.): wenn durch die Verzögerung der Rettungshandlung eine wirkliche oder vom Täter angenommene unmittelbare Gefahr für das Tatobjekt entsteht oder sich eine bereits entstandene Gefahr steigert HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 40

Prüfungsvorschlag für das versuchte unechte Unterlassungsdelikt (Forts.) III. Rechtswidrigkeit IV. Schuld V. Straflosigkeit beim grob unverständigen offensichtlich untauglichen Versuch (Art. 22 Abs. 2 StGB) VI. Feststellung: (fakultative) Strafmilderung beim Versuch (Art. 22 Abs. 1 i.v.m. Art. 48a StGB) und beim Unterlassen (Art. 11 Abs. 4 StGB i.v.m. Art. 48a StGB) VII.Absehen von Strafe oder fakultative Strafmilderung wegen Rücktritt bzw. tätiger Reue (Art. 23 StGB) HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 41