Erkenntnisse der Gesamtevaluation für das Konzept zur Reform des Kindergeldes Beitrag zur Fachtagung Wege aus dem Leistungsdschungel Notwendige Schritte zur Weiterentwicklung des Systems monetärer Leistungen für Familien und Kinder am 13. März 2014 in Berlin von Irene Becker
Übersicht Gesamtevaluation ambitionierte Ziele, methodische Grenzen, zentrale Ergebnisse zum Kindergeld Das Konzept eines bedarfsabhängigen Kindergeldes Ziele Politische Stellschrauben (Parameter, Gestaltungsmöglichkeiten) Modellrechnung und geschätzte Nettokosten Bewertung des Reformkonzepts vor dem Hintergrund der Gesamtevaluation und offene Fragen
Gesamtevaluation Zielvorgaben des BMFSFJ Familienpolitische Ziele Vereinbarkeit von Familie und Beruf Wirtschaftliche Stabilität von Familien (Armutsvermeidung???) Wohlergehen und gute Entwicklung von Kindern Erfüllung von Kinderwünschen ergänzt um Wahlfreiheit (wie weitgehend???) Weitgehend komplementäres Zielbündel, das aber stärker an der Vielfalt Familie (ZFF) ausgerichtet werden sollte (Teilziele sind für einzelne Gruppen und Familienphasen von unterschiedlicher Bedeutung!). Ziele der Evaluation: Systematische und umfassende Analyse der Wirkungen verschiedener Leistungen im Zusammenwirken und im Hinblick auf übergreifende familienpolitische Ziele; Basis für die zielorientierte Gestaltung von Familienleistungen. Aber: Vorrang fiskalpolitischer Ziele! und einige drängende Fragen ausgeklammert.
Gesamtevaluation Was wurde nicht gefragt (und entsprechend nicht untersucht)? Höhe des Existenzminimums von Kindern bzw. Jugendlichen im Transfer-/Steuerrecht realistisch und kompatibel? - Regelleistungen nach SGB II/XII - Kinderzuschlag (KiZ) - Kinderfreibeträge (BEA-Frbt auf den Prüfstand! Wieland 2011) Werden alle Anspruchsberechtigten erreicht? verdeckte Armut, Nichtinanspruchnahmequoten geschätzt auf ca. 40% (Grundsicherung) bis 67% (Kinderzuschlag, Wohngeld)! Vergleiche mit Reformszenarien größere politische Relevanz als Gegenüberstellung von Status quo und Null-Szenario (ersatzloser Wegfall der jeweiligen Leistung).
Methodische Ansätze in der Gesamtevaluation Einbezogene Effekte familienpolitischer Maßnahmen unmittelbare Wirkung direkter Einkommenseffekt mittelbare Wirkung durch induzierte Verhaltensänderung Mikroanalytischer Ansatz Beobachtetes Verhalten (Arbeitsangebot, KitaNutzung) wird auf individuelle Merkmale/unterstellte Nutzenfunktionen zurückgeführt. Aussagekraft der Schätzverfahren von Modell und Datenbasis (Merkmalskatalog, Repräsentativität) abhängig, Laborexperimente nicht möglich, Vergleichsszenario meist Wegfall der Leistung. Einfluss gesamtgesellschaftlicher Rahmenbedingungen ausgeblendet vorsichtige Ergebnisinterpretation Beispiel ALG II: Gedankenexperiment Wegfall der kindbedingten Anteile mit dem Ergebnis positiver Effekte auf das Arbeitsangebot von Müttern des unteren Einkommensbereichs ist irrelevant (verfassungsrechtliche Ansprüche), vernachlässigt das Fordern des SGB II und die Ursachen des Leistungsbezugs, führt zu voreiligen Schlüssen; Effekte z. B. anderer Einkommensanrechnung wurden nicht untersucht.
Methodische Ansätze in der Gesamtevaluation Schätzung der Wirkung von Kindergeld/Kinderfreibeträgen (1)Gedankenexperiment Wegfall des Kindergeldes (DIW-Studie)* Basis: Nutzenmaximierungsfunktion für Mütter mit den Zielgrößen Einkommen/Freizeit/Förderung der Kinder, Nebenbedingungen durch Zeit- und Budgetrestriktion; Modellschätzung auf Basis des SOEP/FiD; differenziertes Modell, das z. B. auch faktische Rationierung von formalen Kita-Plätzen berücksichtigt; methodische Grenzen: Einfluss weiterer Entscheidungshintergründe (z. B. mittelfristiger Berufsziele, nicht beobachteter Unterschiede kindlicher Entwicklungsverläufe) und Erwerbschancen; Vernachlässigung der Effekte für Kinder ab 12 Jahren; Vernachlässigung des unmittelbaren gesamtwirtschaftlichen Nachfrageausfalls bei Wegfall des Kindergeldes. * Förderung und Wohlergehen von Kindern ; Betreuungsarrangement als Indikator für die Förderung der Kinder.
Methodische Ansätze in der Gesamtevaluation Schätzung der Wirkung von Kindergeld/Kinderfreibeträgen (2) Historisches Ereignis als Quasi-Experiment (ifo München) große Kindergeldreform 1996 (vom dualen zum Optionsmodell, deutliche Kindergelderhöhung, für Erstkind von 69* auf 102 Euro); Vergleich vorher/nachher, kinderlose Frauen als Kontrollgruppe; differenzierter Schätzansatz auf Basis des SOEP; methodische Grenzen: - potenzielle Unterschiede zwischen Zeittrend bei Müttern und dem der Kontrollgruppe; - Vernachlässigung der gesamtwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, die Mütter und kinderlose Frauen möglicherweise unterschiedlich trifft welche Konstellation lag 1996 vor? * einschl. Zuschlag bei geringem Einkommen
Konjunkturindikatoren für die deutsche Volkswirtschaft (Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 18, Reihe 1.5, Tab. 1.1, 1.12) 12 10 8 6 4 große Kindergeldreform 1996 2 0-2 1 9 9 3 1 9 9 4 1 9 9 5 1 9 9 6 1 9 9 7 1 9 9 8 1 9 9 9 2 0 0 0 2 0 0 1 2 0 0 2 2 0 0 3 2 0 0 4 2 0 0 5 2 0 0 6 2 0 0 7 2 0 0 8 2 0 0 9 2 0 1 0 2 0 1 1 2 0 1 2-4 BIP-Wachstum (%) Erwerbslosenquote (%)
Platz-Kind-Relationen (bis 2002) bzw. Betreuungsquoten (Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege, Kinder- und Jugendhilfestatistik) 100 90 80 70 60 50 40 unter 3 J. 3 bis 6 J. 6 bis 11 J. 30 20 10 0 1994 1998 2002 2006 2013 große Kindergeldreform 1996 methodischer Bruch
Gesamtevaluation zentrale Ergebnisse zum Kindergeld DIW, ifo, ZEW: Der Wegfall des Kindergeldes würde die Familieneinkommen erheblich senken, die Armutsrisikoquote erhöhen (von 13,5% auf 19%), hätte aber kaum Auswirkungen auf das Arbeitsangebot von Müttern (leicht negativ gemäß Quasi-Experiment 1996) und die Betreuungsarrangements (DIW 2013, Politikberatung kompakt 73, S. 79). Konkrete Empfehlung: Aufgrund relativ schwacher Effekte des Kindergeldes auf die analysierten Ziele sollte von einer Erhöhung dieser Leistung abgesehen werden. (DIW-WB 40/2013, S. 3). Mittel sollten eher in die Kita-Betreuung fließen (ebd. S. 10) wobei Kinder jenseits des Hortalters aber leer ausgehen würden. RUB: Monetäre Leistungen kommen bei den betroffenen Familien in der Regel gebündelt an, so dass eine Zurechnung einzelner Maßnahmen zu Effekten auf das Wohlergehen von Kindern in der Regel nicht möglich ist (Schölmerich et al. 2013, S. 153). Und: Monetäre Transfers wirken sich nur im unteren Einkommensbereich positiv auf das Wohlergehen von Kindern aus Leistungen zur Armutsvermeidung sind relevant (ebd. S. 155).
Gesamtevaluation zentrale Ergebnisse zum Kindergeld Potenzielle Schlussfolgerungen: keine Abschaffung, aber Einfrieren des Kindergeldes im Zeitablauf zunehmende Bedeutung der bedarfsabhängigen Transfers mit allen unterstellten negativen Arbeitsanreizen und des Problems der verdeckten Armut; Reform des monetären FLA mit vertikaler Verteilungsrichtung Prüfung vorliegender Konzepte (Reform des Kinderzuschlags, grundlegende Kindergeldreform oder Einführung einer Kindergrundsicherung). Variante Kindergeldreform: Das Konzept eines bedarfsabhängigen (statt pauschalen) Kindergeldes (KiG)
Reformziele Sicherung des kindlichen Existenzminimums in Abhängigkeit der finanziellen Leistungsfähigkeit der Eltern mit einer Leistung, außerhalb des SGB II/XII insbesondere Integration des KiZ in das KiG Abbau verdeckter Armut Höchstbetrag des neuen KiG abhängig von der Bemessung des kindlichen Existenzminimums. Die kindbedingten Freibeträge sollen leer laufen implizit vorgegebener Mindestbetrag des neuen KiG. Das Kindergeld soll oberhalb eines Freibetrags mit steigendem Familieneinkommen (erweitertes zu versteuerndes Einkommen) bis zum Mindestbetrag kontinuierlich sinken (unabhängig von Einkommensart). Verbesserung der Einkommenssituation von Familien in prekären und mittleren Einkommensverhältnissen; Anreizkompatibilität (falls Wirkung von incentives gegeben).
Politische Stellschrauben Parameter Höchst- und Mindestbetrag Freibetrag Abschmelztarif (Ausmaß der Einkommensanrechnung) Setzung entsprechend kindlichem Existenzminimum (oder darüber); ungewiss hinsichtlich anzuerkennender BEA-Aufwendungen (Höhe des steuerlichen Freibetrags nicht überprüft; Einfluss der Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten und BuT im sächlichen Existenzminimum?). Untergrenze: elterliches Existenzminimum; teilweise Freistellung auch des kindlichen Existenzminimums empfehlenswert (stärkerer sozialer Ausgleich). variabel mit wesentlichen Auswirkungen auf die Kosten; gleitender Tarif mit progressivem Effekt empfehlenswert.
Potenzielle Varianten: Konkretisierung von Freibeträgen, Höchst- und Mindestkindergeld Beträge laut Existenzminimumbericht für 2010 2013 (2014) Alleinerziehende 658 677 (696 ) Elternpaare 1.106 1.138 (1.168 ) Kinder 356 (370 ) incl. BuT + BEA-Aufwand Konsistente Beträge (2013) für ein reformiertes Kindergeld bei alternativen Annahmen über BEA-Aufwand BEA-Aufwand Höchstbetrag 1 Mindestbetrag 2-32 388 184-65 421 200-180 536 256 1 sächliches Existenzminimum + angenommener BEA-Aufwand 2 bei derzeitigem Höchststeuersatz von 45% und Soli von 5,5% der Steuerschuld
Potenzielle Varianten: Einkommensanrechnung (Abschmelzung des Kindergeldes mit Stufentarif) am Beispiel eines Ehepaares mit zwei Kindern (2013) (min/max: 184/388, Freibetrag: 1.526, max. Entzugsrate 46%, Tarifzonen: 177,40 ) Tarifzone des maßgeblichen Einkommens (gerundet) Anrechnungssatz in der jeweiligen Zone (weiterer) Anrechnungsbetrag KiG-Zahlbetrag an der Grenze der Tarifzone < 1.526 / / 776 (2*388 ) 1.526-1.703 0,2 35,48 623,65 1.703-1.881 0,4 70,96 574,95 1.881-2.058 0,5 88,70 514,08 2.058-2.236 0,6 106,44 441,04 1.236-2.413 0,6 106,44 368 (2*184 ) bei Erreichen des Mindest-KiG Durchschnitt: 0,46 Summe: 408 (53% von KiG max )
Verfügbares Einkommen von Ehepaaren mit zwei Kindern (6-13 J.) nach dem Bruttoerwerbseinkommen Modellrechnung für Status quo und Reformvarianten 388/184/46% und 421/200/46% 3.500 3.300 3.100 2.900 2.700 2.500 fakt min mid 2.300 2.100 1.900 1.700 1.500 100 400 700 1.000 1.300 1.600 1.900 2.200 2.500 2.800 3.100 3.400 3.700 4.000 4.300 Bruttoerwerbseinkommen
Nettokosten des einkommensabhängigen Kindergeldes erste Schätzung (Basis: Mikrosimulationsmodell, SOEP 2007, i. V. m. Makrodaten 2011) (ohne Berücksichtigung potenzieller Einsparungen von Grundsicherungsleistungen; Becker 2012, S. 22, revidierte Berechnung) kleine Variante (184 / 388 / 46%): 6,4 Mrd. mittlere Variante (200 / 421 / 46%): 10,9 Mrd. Beträge einschließlich der Kosten des Abbaus verdeckter Armut! Zum Vergleich: Kindergelderhöhung 2010 um 20 kostete 4,4 Mrd.. Kostenreduzierung durch restriktivere Setzung von Parametern (Freibetrag, Tarif) denkbar!
Bewertung vor dem Hintergrund der Gesamtevaluation Ergebnissen der jüngsten Forschung wird entsprochen, da die festgestellte Bedeutung des KiG zur Armutsbekämpfung verstärkt wird, die mikroanalytisch abgeleitete geringe Anreizkompatibilität des derzeitigen Systems im unteren Einkommensbereich (KiG i. V. m. ALG II bzw. KiZ Und WoG) erhöht wird, die fiskalischen Belastungen in Grenzen gehalten werden können, Reform muss nicht zu Lasten von Infrastruktur gehen. Offene Fragen Regelung von Schnittstellen mit anderen Sozialgesetzen, insbesondere mit SGB II, Wohngeldgesetz, BAföG, Unterhaltsrecht Höhe des kindlichen Existenzminimums, insbesondere - bezüglich des anzuerkennenden BEA-Aufwands - Frage der Altersdifferenzierung und/oder der Differenzierung nach der Rangfolge der Kinder Maßgeblicher Einkommensbegriff (Begrenzung Bürokratiekosten) Tarifvarianten und Finanzierung.