Beitrag: Willkommen in Deutschland Reportage aus dem Flüchtlingsheim

Transkript

1 Manuskript Beitrag: Willkommen in Deutschland Reportage aus dem Flüchtlingsheim Sendung vom 25. November 2014 von Natascha Gillenberg und Kathrin Schlieter Anmoderation: Willkommenskultur! Ein beliebter Begriff in der Politiker-Rhetorik. Deutschland soll Migranten mit offenen Armen empfangen, auch, weil dem Land ansonsten die Fachkräfte ausgehen. Die Ausländerbehörden werden deshalb gar zu Willkommensbehörden" umgebaut. Aber Flüchtlinge sind der Bundesregierung offenkundig nicht willkommen. Im Gegenteil, sie verschärft lieber Gesetze, damit möglichst viele Asylanträge abgelehnt werden können. Auch in der Bevölkerung gibt es immer mehr, die Flüchtlinge und Heime hier nicht haben wollen. Unsere Reporterin Natascha Gillenberg ist allerdings Deutschen begegnet, die rund um ein Berliner Flüchtlingsheim weiter Willkommenskultur von Herzen praktizieren. Für alle. Und erst recht für die Menschen, die in Not sind! Text: Noura und ihre Geschwister Adam, Yazan und Hind - sie haben eine fürchterliche Odyssee hinter sich. Eine Flucht durch arabische und europäische Staaten, über Land und übers Meer. Eine Flucht aus Angst vor dem Bürgerkrieg in Syrien. Zu dem wenigen, was ihre Eltern aus der Heimat haben retten können, gehören Bilder vom zerbombten Kinderzimmer ihres Hauses, von ihrer zerstörten Heimatstadt Homs, von der Überfahrt nach Europa in einem überfüllten Flüchtlingsboot. O-Ton Nassem Qattus, Flüchtling aus Syrien: Es gab kein Essen, kein sauberes Wasser. Der Seegang und der Schmutz im Boot erschöpften uns. Die Kinder haben sich ständig übergeben, jedes nahm fast sieben Kilo ab. - Es war die Hölle. Seit Mai wohnt Familie Qattus im Flüchtlingswohnheim in Berlin- Pankow.

2 250 Flüchtlinge leben hier eine Bleibe auf Zeit für Menschen, die auf Sicherheit, ein Stück Heimat hoffen. Sie kommen aus Syrien und aus Bosnien, aus Serbien, dem Iran und Albanien. Heimleiterin Susan Hermenau kennt das Schicksal jedes Bewohners hier. Sie weiß auch, wie viel Furcht sie oft noch in sich tragen. O-Ton Susan Hermenau, Heimleiterin, Flüchtlingsheim Berlin-Pankow: Frau Polatinovic, unten im Büro, wir müssen sprechen! Ja? Nicht erschrecken, ist nichts Schlimmes, nichts Schlimmes! Susan Hermenau will, dass die Menschen hier ohne Angst leben können. Wenigstens ohne die Angst vor der eigenen Nachbarschaft. Denn an anderen Orten hat es in der Vergangenheit immer wieder lautstarke Proteste gegen neue Flüchtlingsheime gegeben. 0-Ton Susan Hermenau, Heimleiterin, Flüchtlingsheim Berlin- Pankow: Meistens sind das, sag ich mal, diffuse Ängste, die man zerstreuen kann, indem man einfach aufklärt und in Kenntnis setzt. In Pankow sind wir ne ganz transparente Schiene gefahren. Wir haben Flyer angefertigt, sind auf die Anwohner zugegangen, haben ne Sprechstunde angeboten. Die Nachbarn in Berlin-Pankow haben positiv reagiert. Mittlerweile engagieren sich rund 150 Freiwillige und 20 Initiativen für das Heim. O-Ton: Guck mal, das ist doch wie ein Herz! Familie Qattus ist dankbar für die Hilfe. Dass sie darauf einmal angewiesen sein würden früher unvorstellbar. Als Manager hatte Tareq in Syrien gut verdient, die Familie lebte in einer großen Villa. Heute geben ihnen die Nachbarn neuen Lebensmut. O-Ton Tareq Qattus, Flüchtling aus Syrien: Die Deutschen, die hier um das Haus herum wohnen, sind wunderbare Menschen. Viele besuchen uns im Heim, sind ehrenamtlich tätig. Wir bekommen den Eindruck, dass sie unsere Sorgen verstehen und mit uns fühlen. Dass sie versuchen, unsere Probleme zu lindern. Ihre Söhne Yazan und Adam können regelmäßig Fußball spielen bei den CHAMPIONS ohne GRENZEN. Sie werden persönlich von Christine Schröder und ihren Freunden im Heim abgeholt. O-Ton, Christine Schröder, CHAMPIONS ohne GRENZEN:

3 Ab und zu bekommt man schon ein paar Einzelgeschichten mit. Also, auch Kinder bekommen mit, wenn man von der Abschiebung bedroht ist. Es passiert auch, dass auf einmal ein Kind von heute auf morgen eben nicht mehr beim Fußball ist. Man hört dann nur, ja, die Polizei war in der Nacht teilweise dort, und man kann einfach nichts machen. Man ist so machtlos, das ist das Schlimme dabei. Für sie alle ist die Heimat, sind die alten Freunde verloren. Neuanfangen in einer fremden Welt - aber wie? Familie Pecaninovic geht abends oft in den gegenüberliegenden Park vom Wohnheim. O-Ton Nesiba Pecaninovic, Flüchtling aus Bosnien: Es gibt Leute, die von selbst auf einen zukommen. Aber für mich ist es schwer, da ich nicht mit ihnen sprechen kann. O-Ton Fahrudin Pecaninovic, Flüchtling aus Bosnien: Ich hatte mal das Glück, eine Deutsche kennen zu lernen. Es regnete, und die Deutsche rief zu mir herüber: Komm, komm, unter den Regenschirm! Damit ich nicht nass werde, bin ich unter ihren Regenschirm gegangen. Ich habe auch hier Leute kennen gelernt, beim Tischtennis. In seiner bosnischen Heimat hat Fahrudin Pecaninovic für die Kommune gearbeitet, erzählt er. Dort setzte er sich für Rechte seiner Volksgruppe, der Roma, ein, machte sich für ihren Zugang zum Gesundheitssystem stark. Das gefiel den politischen Kräften nicht. Erst verlor er seinen Job, schließlich erhielt er Todesdrohungen. Weil ihm Gerechtigkeit und Gemeinsinn so wichtig sind, steht er jetzt vor den Scherben seiner Existenz. O-Ton Nesiba Pecaninovic, Flüchtling aus Bosnien: Wir haben von der Behörde eine Bescheinigung gekriegt: Die können jederzeit kommen und uns abschieben, mitten am Tag oder auch mitten in der Nacht. Seit kurzem gilt Bosnien wieder als sicheres Herkunftsland. Dass die Roma dort massiv diskriminiert werden, spielt für die deutschen Behörden keine Rolle. Die 23-jährige Tochter Amira ist das Sorgenkind der Familie. Sie ist im Bosnien-Krieg aufgewachsen. Das hat Spuren hinterlassen. Amira leidet unter Entwicklungsstörungen. ohne ihre Eltern kommt sie nicht zurecht. Doch nun hat sie von der Ausländerbehörde eine Fahrkarte erhalten. Weil sie volljährig ist, muss sie nach Bosnien zurück. Ganz allein soll sie mit dem Fernbus in ihre alte Heimat fahren. O-Ton Fahrudin Pecaninovic, Flüchtling aus Bosnien: Nicht weinen!

4 O-Ton Fahrudin Pecaninovic, Flüchtling aus Bosnien: Am schlimmsten ist, dass mein Mädchen nicht bei sich ist, wie wir sagen würden. Ich habe Angst, dass sie irgendwo falsch aussteigt, und dann bliebt sie irgendwo in der fremden Welt zurück. Sie ist Analphabetin und wüsste nicht, wie sie zurück nach Hause kommt. Keine Chance. Das ist mein größtes Problem, die Reise. Dies ist der letzte gemeinsame Abend, den die Familie miteinander verbringt. Für Arwa Idress, ihre Tochter Arees und Sohn Hani ist das Handy das wichtigste Kommunikationsmittel die Verbindung zur syrischen Heimat. Tag für Tag verfolgen sie die Nachrichten von Familie und Freunden: Wer lebt noch? Wer konnte fliehen? Wo sind sie zu finden? In Syrien war Arwa Englischlehrerin an einer Schule der Vereinten Nationen. In Berlin lernt sie nun eine neue Sprache. Arbeiten darf sie nicht. Ihre Kinder fragen regelmäßig bei den Behörden nach, ob sie eine Ausbildung machen oder eine Hochschule besuchen dürfen. Ohne Erfolg. O-Ton Arwa Idress, Flüchtling aus Syrien: In einem Alter, in dem meine Kinder eigentlich zur Universität gehen könnten, haben sie zwei Jahre ihres Lebens verloren. Was aus ihnen wird, weiß ich nicht. Ohne Unterstützung der Behörden kann ich meine Kinder nicht so erziehen, dass sie sich voll in die Gesellschaft integrieren können. Meine größte Sorge - abgesehen von der Situation meiner Familie in Syrien ist die Zukunft meiner Kinder. Ich habe sie hierher gebracht, damit sie Erfolg in ihrem Leben haben können. Nicht, damit sie nur schlafen, essen und herumliegen dürfen. Auch Arwa floh vor Krieg und Terror. Ihr Mann hatte Morddrohungen erhalten, neun seiner Kollegen wurden brutal enthauptet, erzählt sie. Sie flüchteten getrennt - er lebt derzeit in einem anderen europäischen Land. Die Flucht vor dem Krieg sie ist der Familie gelungen. Im Frieden angekommen sind sie noch lange nicht. O-Ton Arwa Idress, Flüchtling aus Syrien: Von mir aus kann man mich ruhig töten. Aber die seelische Unruhe, die Angst, die Ungewissheit, was aus mir werden wird, lassen mich keinen Frieden finden. Einmal in der Woche ein kurzer Moment des Durchatmens - Arwa besucht in einem anderen Flüchtlingswohnheim einen Yoga-Kurs. Auch dies wird für die traumatisierten Frauen von einer ehrenamtlichen Helferin organisiert.

5 O-Ton Arwa Idress, Flüchtling aus Syrien: Sie sieht uns an und merkt, ob wir traurig sind. Und dann fragt sie uns, was uns fehlt, was los ist. Wir können ihr unsere Sorgen ganz offen erzählen. Es ist eine Freundschaft entstanden. Auch nach den Kindern fragt sie immer. Bettina Schuler versucht, den Frauen die Anspannung zu nehmen, etwas gegen ihre Isolation zu tun. O-Ton Bettina Schuler, ehrenamtliche Helferin: Ich glaube, das, was denen am meisten fehlt, ist einfach auch der soziale Kontakt. Dass die eben keinen Kontakt zu Deutschen haben, ja, dass die hier leben in ihrem abgeschlossenen Raum. Die können schlecht schlafen, die können schwer runterkommen, all diese Dinge fallen denen wahnsinnig schwer. Also, man spürt das auch, wenn man rumgeht, dass die hier alle die Schultern so ganz extrem hochziehen. Dass man die immer wirklich so runterdrücken muss, weil die halt die ganze Zeit diese Hab-Acht-Stellung haben, noch von ihrer Flucht, von diesen ganzen Dingen, die die erlebt haben. Die Flucht von Familie Qattus ist noch nicht zu Ende. Weil sie mit dem Schlepperboot in Italien gelandet waren, können sie nach EU-Recht nur dort Asyl erhalten. Tareq hat Angst, nach Italien zurückgeschickt zu werden, er hat die elenden Lebensbedingungen für die Flüchtlinge dort selbst erlebt. O-Ton Tareq Qattus, Flüchtling aus Syrien: Aus den Medien weiß ich, dass Deutschland tausende syrische Bürgerkriegsflüchtlinge hierher holen möchte. Das finde ich toll. Aber denkt auch an uns! Wir haben es geschafft, dem Krieg zu entfliehen und lebend hier anzukommen. Doch nun bin ich in ständiger Angst und weiß nicht, was aus uns werden soll. Am nächsten Morgen kurz nach acht verstauen die Eltern von Amira deren Habseligkeiten in einem Auto. Ein Freund wird sie und ihren Vater zum Busbahnhof bringen. Zwei Tage wird Amiras Reise nach Bosnien dauern. Am Busbahnhof gibt Fahrudin seiner Tochter letzte Ratschläge aber die scheint kaum zu begreifen, worum es geht. Sie weiß nur: Am Ende der Reise wird sie ihr Onkel abholen. Wie es dann weitergeht keine Ahnung. Der Vater bittet andere Mitreisende, ein Auge auf seine Tochter zu haben er kann sie nun nicht mehr schützen. Wann er seine Tochter das nächste Mal wiedersehen wird Fahrudin weiß es nicht.

6 Im Heim geht der Alltag weiter. Auch die anderen hier wissen meist nicht, was werden wird. O-Ton Susan Hermenau, Heimleiterin, Flüchtlingsheim Berlin-Pankow: Dass viele Menschen nicht hierbleiben können, obwohl sie gerne hierbleiben würden, ist Teil meiner Arbeit. Ich könnte diese Arbeit nicht machen, wenn ich das nicht irgendwie akzeptieren würde. Ich finde das nicht gut. Aber der Fokus meiner Arbeit ist immer der: Das, was jetzt hier heute ist, das soll gut sein. Wir machen den Moment einigermaßen erträglich. Und auf mehr habe ich keinen Einfluss. Leben im Augenblick mehr ist für die Flüchtlinge nicht möglich. Den Rest entscheiden deutsche Behörden. Abmoderation: Kurz nach den Dreharbeiten wurde die gesamte bosnische Familie abgeschoben. Die beiden syrischen Familien mussten trotz ihrer schrecklichen Kriegserlebnisse mit Rechtsanwälten hart dafür kämpfen, dass sie vorerst bleiben dürfen. Das ist deutsche Willkommenskultur von Amts wegen. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.