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- Beate Förstner
- vor 8 Jahren
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1 2 SWR2 Tandem - Manuskriptdienst WM contra Menschenrechte Die Verlierer der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien Autor: Redaktion: Julio Segador Rudolf Linßen Sendung: Dienstag, um Uhr in SWR2 Bayerischen Rundfunk für ARD vom Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte der Sendungen SWR2 Tandem auf CD können wir Ihnen zum größten Teil anbieten. Bitte wenden Sie sich an den SWR Mitschnittdienst. Die CDs kosten derzeit 12,50 Euro pro Stück. Bestellmöglichkeiten: 07221/ Einfacher und kostenlos können Sie die Sendungen im Internet nachhören und als Podcast abonnieren: SWR2 Tandem können Sie ab sofort auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter oder als Podcast nachhören: Kennen Sie schon das neue Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/ oder swr2.de 1
2 MANUSKRIPT: B5-Reportage am 8. Juni 2014 WM contra Menschenrechte Die Verlierer der Fußball-Weltmeisterschaft Autor: Julio Segador Redaktion: Clemens Verenkotte (BR) Technik: Länge: Atmo 1 Indianer-Tanz Indios bewegen ihre Körper zu einem traditionellen Kriegertanz. In voller Kriegsbemalung, mit Pfeil und Bogen in den Händen. Atmo 1 hoch Indianer-Tanz Der Kriegstanz findet nicht irgendwo in einem entlegenen Reservat im Amazonasgebiet statt, nein, die Indios tanzen mitten in Rio de Janeiro, vor einer alten, schon ziemlich heruntergekommenen Villa, die abgerissen werden soll. Einen Steinwurf entfernt vom Maracanã-Stadion, an dem außen noch immer gebaut wird. Carlos Tucano beobachtet die tanzenden Indios, blickt dann zur mächtigen WM- Arena, die herausgeputzt wird und macht sich seine Gedanken. OT 1 Carlos Tucano 12 Für die Weltmeisterschaft geben sie hier 1 Milliarde Reais aus, umgerechnet 360 Millionen Euro, und hier investieren sie keinen Cent. Sie wollen stattdessen sogar für den Abriss viel Geld hinblättern. Atmo 2 Straßenatmo Es geht um das alte Indio-Museum in Rio, direkt neben dem Maracanã-Stadion, das seit Jahren verfallen ist, dessen einstige Pracht sich nur noch mit viel Phantasie erahnen lässt. Die zweistöckige Villa aus der Kolonialzeit hat keine Fenster mehr, die Fassade ist heruntergekommen, die Treppen im Inneren des Gebäudes sind baufällig. Carlos Tucano, hat mit einigen Dutzend Gleichgesinnten seit 2006 in dem Camp im Garten des Hauses gelebt, er hat viel vor mit der alten Villa: OT 2 Carlos Tucano 33 Wir haben seit Jahren gefordert, dass das Gebäude wieder aufgebaut werden soll. Es müssen neue Fenster rein, die Fassaden müssen gestrichen werden. Innen sollte eine Menge erneuert werden, Wasser, Elektro, Energie. 2
3 Es muss alles so erneuert werden, dass man darin gut arbeiten kann. Wir wollen nämlich, dass ein Kulturzentrum und ein Museum unserer indigenen Kultur darin eingerichtet werden. Wir leben nicht nur mit Pfeil und Bogen und ernähren uns von Maniok und Fischen. Wir wollen hier bleiben und den Menschen unsere Kultur zeigen. Vor Jahren war das alte Museum umgezogen, nun verfällt das schöne Gebäude zusehends. Der Bundesstaat Rio de Janeiro, dem das Grundstück gehört, wollte lange Zeit das an das Maracanã-Stadion angrenzende Areal privatisieren. Shopping- Center und Lokale waren geplant. Doch der Gouverneur von Rio machte die Rechnung ohne die Indios. Sie wehren sich erbittert gegen den Abriss. Immer wieder drohte die Situation zu eskalieren. Schwerbewaffnete Polizisten sollten das Camp rund um das Haus stürmen. Die Indios standen mit ihren Speeren und Bogen bereit. Im letzten Moment kam es zu Verhandlungen. Den Indios wurden Sozialwohnungen angeboten, Carlos Tucano lehnt das ab. Er und die anderen Mitglieder der Indio- Stämme wollen sich weiter gegen den Abriss wehren. OT 3 Carlos Tucano 3 Wir werden Widerstand leisten, aber ohne Gewalt. Atmo 3 Baggeratmo / Kampfszenen In São Paulo, etwa 400 Kilometer weiter südlich von Rio de Janeiro, geht es nicht ohne Gewalt ab. Schwere Bagger sind aufgefahren, wälzen die Hütten und Häuser der Favela Alto da Paz nieder. Die Bagger werden geschützt von schwerbewaffneten Polizisten, die mit Gummigeschossen auf die Bewohner des Armenviertels schießen. Die Leute wehren sich gegen die Polizeiübermacht. Es kommt zu kriegsähnlichen Szenen. Atmo 3 hoch Baggeratmo / Kampfszenen Panik unter den Favela-Bewohnern. Mehrere Menschen werden durch die Gummigeschoße verletzt. Die Polizei schont keinen, der sich wehrt. Eine ältere Frau ist völlig aufgelöst. OT 4 Ältere Frau 25 Ich bin aufgebracht, ich bin sauer, ich fühle mich verletzt. Und nicht nur ich, alle Bewohner der Alto da Paz. Das war ein regelrechtes Massaker hier, die Kinder rannten umher, die Bagger fuhren alles um, sogar die Haustiere; sie hatten mit nichts und niemandem Mitleid. Atmo 4 aufgeregte Stimmen Die Favela Alto da Paz ist in Sichtweite des Itaquerão. So heißt das neue WM- Stadion in São Paulo, in dem am 12. Juni das Eröffnungsspiel der Weltmeisterschaft angepfiffen wird. 3
4 Noch wenige Tage vor dem ersten WM-Spiel wird in der Arena gewerkelt. Die Bauarbeiten hinken Monate hinter dem Zeitplan hinterher, auch außerhalb des Stadions. Die kleine Favela soll mehreren Zufahrtsstraßen weichen. Außerdem sollen auf dem Areal 1500 neue Wohnungen entstehen. Die Region in Stadionnähe, einst das Armenhaus São Paulos, erlebt dank des Stadionbaus einen Immobilienboom. Neue Siedlungen entstehen, ebenso Shoppingcenter, die Mietpreise schnellen nach oben. Verlierer sind zigtausend Familien, die bisher in den umliegenden Favelas lebten und sich höhere Mieten kaum leisten können. Allein in São Paulo sind Familien von Umsiedelungen betroffen. Dass die Behörden dann wie in der Favela Alto da Paz mit äußerster Brutalität vorgehen, macht viele Brasilianer wie diese ältere Frau fassungslos. OT 5 Ältere Frau 26 Leider ist das in Brasilien so. Für die Weltmeisterschaft wollen sie alles rausputzen, aber man muss sich ja nur mal umschauen, wie wir hier leben: Zwischen dem Abwasser. So leben wir hier in Brasilien. Es gibt in diesem Land viele Reiche, aber denen sind wir doch egal. Und die Politiker wollen, dass wir sie wählen; und dann machen sie mit uns solche Sachen hier. Atmo 5 Stadionatmo 1 Von schlechter Stimmung ist auf den Rängen der Arena Pernambuco nichts zu spüren. Rund Zuschauer passen in das WM-Stadion von Recife. An diesem Abend sind nicht einmal Menschen in dem riesigen Rund mit den knallroten Sitzen. Unten auf dem Rasen spielen zwei Teams gegeneinander. Es geht um die unwichtige Regionalmeisterschaft im Nord-Osten Brasiliens. Die Stimmung bei den Fans ist besser als der lustlose Kick auf dem Rasen. Atmo 6 Trommeln Seit wenigen Monaten erst wird in der Arena Pernambuco gekickt. Das Stadion, in der Deutschland Ende Juni gegen die USA sein letztes Vorrundenspiel austragen wird, ist eines der Schmuckkästchen der WM in Brasilien. Ein Stadion, für das sich die Fans richtig begeistern. OT 6 Umfrage 1 6 Ein wunderschönes Stadion. Es wurde auch Zeit, dass wir hier solche Strukturen erhalten. OT 7 Umfrage 2 7 Alles hier ist klasse. Der Zugang, die Sicht aufs Spiel. Egal wo man sitzt, man sieht alle Spielzüge ganz genau. OT 8 Umfrage 3 23 Das Stadion ist richtig gut. Damit werden wir endlich auch im Ausland wahrgenommen. Und die Stadt kann sich entwickeln. 4
5 Es entstehen mehr Jobs, unsere Region hier im Nord-Osten steigt im Ansehen. Bisher waren wir von vielem ausgeschlossen. Jetzt beweisen wir, dass wir bereit sind die WM zu empfangen. Atmo 7 Stadionatmo 2 Die Fans sind stolz auf ihr Stadion, das als WM-Austragungsort ganz offiziell den Stempel FIFA-Standard verpasst bekommen hat. Das dieser Standard auch dazu führt, dass an fast allen Spielorten Menschen enteignet und brutal aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben worden sind, stört die Fans aus der gutverdienenden Mittelschicht in Brasilien kaum. Es überwiegt der Stolz, dass Brasilien mit der WM sich mit stolzgeschwellter Brust als Teil der ersten Welt präsentiert. Im Stadion jedenfalls gibt es kaum Verständnis für jene, die durch den Bau von Stadien und Verkehrs-Infrastruktur Nachteile erlitten haben. Fernando Mereira findet das sogar normal: OT 9 Fernando Mereira 28 Also an den Enteignungen führt eigentlich kein Weg vorbei. Das ist doch in der ganzen Welt so. Wenn man etwas bauen will, muss man Bäume fällen um den Raum zu bekommen, oder man enteignet jemanden. Das ist in Deutschland so, genauso in Kanada, überall. Und wir hinterlassen doch ein bleibendes Erbe, für die Stadt hier und auch für die brasilianischen Fans. Das bleibende Erbe in Recife muss erst noch gebaut werden. Die Vision, die gibt es dagegen schon. Ricardo Leitão ist der Chef des lokalen WM-Organisationskomitees in Recife. Für ihn ist die WM ein Geschäft. Das Stadion soll nur der Anfang einer ganzen WM-Stadt sein, die auch schon einen Namen hat. Smart City, die intelligente Stadt, soll hier in dem Außenbezirk von Recife rund um die WM-Arena entstehen. OT 10 Ricardo Leitão 30 Das Baukonsortium hat für 30 Jahre also bis 2043 die Konzession, Smart City zu gründen. Vorgesehen ist, dass eine Halle gebaut wird, ein Shopping- Center, ein Veranstaltungsplatz, Hotels, Verwaltungs- und Gemeinschaftsgebäude sowie um die 4500 Wohnungen. Geplant sind ferner öffentliche Plätze und ein Universitätscampus. Die Stadtplaner wollen Recife umkrempeln, die Stadt modernisieren, die Infrastruktur völlig neu aufbauen. Die Fußball-Weltmeisterschaft ist da ein willkommener Anlass, solche Projekte anzustoßen. Geld für die Finanzierung solcher Projekte ist ohnehin da, wenn auch häufig nicht ganz klar ist, woher die Mittel stammen und wohin sie genau fließen. Atmo 8 einblenden Hintergrundatmo Leute reden Doch nicht alle sind glücklich über Smart City in Recife. Die intelligente Stadt und das neue WM-Stadion sind auch Thema bei der Versammlung des Bürger-Komitees in Camaragibe, einer kleinen Vorstadt von Recife. Etwa 30 Leute sitzen in einem kleinen Hinterhof. Camaragibe liegt nur 2 Kilometer vom Stadion entfernt. 5
6 Es herrscht dicke Luft. Die meisten Leute in der Runde wurden für die WM-Bauten enteignet. Auch der 71-jährige Jeronimo Figueira. OT 11 Jeronimo Figueira 23 Bis zum 29. November gehörte mein Haus mir. Heute werde ich vom Schicksal versklavt, das in Form eines Abrissbaggers erschien. Sie haben mein Haus einfach abgerissen. Ich habe den Kampf, das Haus für mich und meine Familie zu bewahren, verloren. Jetzt stehe ich auf der Straße. 129 Familien sind alleine in Camaragibe für die WM-Projekte in Recife enteignet worden. Die meisten Häuser mussten für eine Straße weichen, die vom Busbahnhof zum Stadion führen soll. Es gebe ein nationales Dekret, wurde den Anwohnern gesagt, sie müssten binnen weniger Tage die Häuser verlassen. Entschädigt worden sind bisher nur wenige Betroffene. Die Gelder liegen auf Sperrkonten, werden von der brasilianischen Bürokratie blockiert. Wann das Geld ausbezahlt wird und wie viel jeder bekommt, ist völlig unklar. Es sei auch kaum jemand in der Lage, sich ein neues Grundstück oder ein Häuschen zu leisten, erklärt Elias Inacio da Silva. OT 12 Elias Inacio da Silva 16 Es ist unmöglich etwas Vergleichbares zu bekommen. Die Quadratmeter-Preise sind explodiert. Wenn man den Betrag X für ein Haus bekommt, muss man für eine entsprechende Immobilie inzwischen mindestens das Doppelte zahlen. Am schlimmsten findet Elias Inacio da Silva die Hilflosigkeit, die er und viele andere in Camaragibe empfinden. Von einem Tag auf den anderen zerstörte die WM sein Leben, als sein Haus abgerissen wurde. Seit Wochen schon ist er in Behandlung bei einer Psychologin, erhofft sich dadurch Halt, doch es geht ihm nicht gut. OT 13 Elias Inacio da Silva 33 Das erste was ich empfand, war ein großes Gefühl der Ohnmacht. Das Haus gehörte mir, ich habe es über 15 Jahre langsam gebaut. Jetzt denke ich: Es war alles umsonst, und ich bin wertlos, für nichts gut. Ich bin nicht gegen den Fortschritt in der Stadt. Aber ich verlange Entscheidungen, die uns in unserer Würde nicht verletzen. Jeden Tag schau ich gen Himmel und bitte Gott um Kraft, dass ich ein neues Haus baue oder eines kaufe. Das wühlt mich unglaublich auf. Und noch etwas wühlt die Menschen auf und macht sie nachdenklich. Die Brutalität, mit der die Staatsmacht gegen die kleinen Leute vorgeht. OT 14 Mariana Ferreira da Silva 34 Was mich am meisten schockiert hat, war die Angst der Menschen, die enteignet wurden, vor der Regierung. Die Angst vor der Polizei, die Angst vor der Staatsmacht. Und es gibt nicht wenige hier, die heute nicht an dieser Versammlung teilnehmen, weil sie Angst haben. Die sagen, was kommt als nächstes? Die Diktatur liegt noch nicht so lange zurück, und der Putsch von 1964 macht vielen Leuten Angst, bis heute. 6
7 In Recife ist weder geregelt, wer eine Entschädigung bekommt, wie hoch sie ausfallen wird, welche Fristen gelten, die Anwohner wissen nicht einmal, ob die Bustrasse, für die ihre Häuser abgerissen wurden, wirklich gebaut wird. Für die Bürger von Camaragibe ist die WM ein einziges Ärgernis. Auch für Mariana Ferreira da Silva: OT 15 Mariana Ferreira da Silva 19 Unsere Stadt hat sich in eine Wüste verwandelt, die Häuser wurden niedergerissen. Bekommen haben wir dafür so gut wie nichts. Wo ist da die Gerechtigkeit? In Camaragibe gibt es niemanden, der fußballverrückter ist als ich. Aber wenn mich jemand auf diese WM anspricht, werde ich sauer und habe gar keine Lust mehr darauf. Auch Elias Inacio da Silva ist die Lust auf das Fußballfest gründlich vergangen. OT 16 Elias Inacio da Silva 14 Ich muss ehrlich sagen: Wenn ich es irgendwie beeinflussen könnte, würde ich die WM kippen. Ich lege keinen Wert auf dieses globale Sportereignis, das unser Leben so sehr durcheinander gebracht hat. Für mich existiert die WM nicht mehr. Recife ist kein Einzelfall. In fast allen WM-Städten wurden Menschen enteignet, mussten für die WM-Stadien, für Straßenbauprojekte und Bahntrassen ihre Häuser verlassen. Hinterfragt wurden viele Projekte nicht. Während die brasilianische Regierung der Weltfußballverband FIFA hofierte, wurden elementare Bürgerrechte mit Füßen getreten. Und für Renato Cosentino vom WM-Bürgerkomitee in Rio steht außer Frage, wer schon jetzt noch vor dem Anpfiff in São Paulo - die Verlierer der Fußball-Weltmeisterschaft sind. OT 17 Renato Cosentino 45 Es ist völlig klar, wer hier bei der WM verliert. Als sich Brasilien 2007 um das Turnier bewarb, gab es vollmundige Worte, wie sehr die arme Bevölkerung davon profitieren würde. Aber wir sehen jetzt, dass genau das Gegenteil eingetreten ist. Diese Menschen sind es, die unter der WM leiden. (evtl. OT kurz hoch) Viele verlieren ihre Häuser, sie dürfen nicht an den WM-Bauten mitarbeiten, weil sie nur informelle Arbeiten verrichten. Und die Schwarzarbeiter sind völlig außen vor. Und viele, die früher in die Stadien gingen, können sich das nicht mehr leisten. Mit den neuen Stadien und den hohen Eintrittspreisen müssen sie draußen bleiben. Die Armen sind die Verlierer. Und wie bei jedem Fußballspiel gibt es nicht nur Verlierer, sondern auch Gewinner. Auch diese und deren eher zweifelhaftes Erbe kann Renato Cosentino klar benennen. 7
8 OT 18 Renato Cosentino 45 Die Gewinner sind die großen Unternehmen. Nationale und internationale Bauunternehmen, Servicefirmen, Unternehmensberatungen, die FIFA und auch die Sponsoren. Für die wird das eine lukrative Weltmeisterschaft. Nach der WM und nach Olympia 2016 wird Rio de Janeiro geteilter sein als jemals zuvor. (evtl. OT kurz hoch) Und das Erbe der Events sind die Verletzung von Menschenrechten und weiße Elefanten. Einige der Stadien wird man nicht mehr brauchen. Viele Projekte wurden unter großem Zeitdruck vorangetrieben ohne zuvor eine öffentliche Debatte zu führen, ob man sie wirklich braucht. Man hat im Vorfeld einfach nicht diskutiert, welche Projekte nötig sind und welche nicht. Umgerechnet rund 11 Milliarden Euro hat Brasilien für Stadien und WM-Infrastruktur ausgegeben, während Schätzungen zufolge rund Familien in extremer Armut leben, das Bildungssystem einen verheerenden Ruf genießt und die Situation der Krankenhäuser in Brasilien so katastrophal ist, dass täglich Patienten auf den Gängen der Kliniken sterben. Rafael dos Santos arbeitet in Sao Paulo beim Instituto Ethos, einer brasilianischen Nicht-Regierungs-Organisation, die sich mit Transparenz öffentlicher Prozesse und Korruption befasst. Er hat in den vergangenen drei Jahren eng mit verschiedenen Bürgerkomitees in den WM- Austragungsorten zusammengearbeitet und hat Einblick in die Investitionen, die getätigt worden sind. Rafael dos Santos zieht ein ernüchterndes Fazit: OT 19 Rafael dos Santos 39 Brasilien blickt auf die größten systematischen Investitionen der letzten 50 Jahre. Aber diese Investitionen werden das Land sehr teuer zu stehen kommen. Man hat in Infrastruktur investiert, die keine Priorität hatte. Es wurde viel Geld ausgegeben für temporäre Strukturen, die nach der WM wenig Sinn machen. Die FIFA hat einen Großteil der Kosten einfach auf die öffentlichen Haushalte abgeschoben. Da wurden auch viele Nebelkerzen gezündet. Man hat die Leute für dumm verkauft. Bis heute weiß niemand genau, was die Auflagen der FIFA sind und was nicht, und was die Behörden in Eigenregie in Auftrag gegeben haben. Auch deshalb haben sich in allen WM-Austragungsorten kritische Bürgerkomitees gebildet, um die brasilianischen Behörden und Funktionäre zu kontrollieren und um die Interessen der kleinen Leute zu vertreten. Ziviler Widerstand gegen soziale Ausgrenzung, gegen die Auswüchse einer globalen Interessenorganisation, die sich aus Politik, FIFA und mächtigen, einflussreichen Unternehmen zusammensetzt. Die Bürgerkomitees und Aktivistengruppen sind es, die in Brasilien ihre Finger in die Wunden legen, die die Weltmeisterschaft in die brasilianische Gesellschaft geschlagen hat. Während des Confederations Cup im vergangenen Jahr haben sie mit Massendemonstrationen für weltweites Aufsehen gesorgt, sind zu hunderttausenden auf die Straßen gezogen, um gegen den WM-Wahnsinn zu demonstrieren. Seitdem wird nicht nur in Brasilien über Sinn und Unsinn gigantischer Sportevents diskutiert, die sich nur für einige Wenige rechnen. Durch die Demonstrationen ist dem strahlenden Gesicht des WM-Gastgebers Brasilien das Lachen vergangenen. 8
9 Gleichzeitig hat sich die Zivilgesellschaft in Brasilien zum ersten Mal artikuliert. Das wertet Rafael dos Santos als größten Erfolg dieser Weltmeisterschaft. OT 20 Rafael dos Santos 39 Das war unser wichtigster Sieg. Zuerst sagten alle, wir wären gegen die Weltmeisterschaft, das sind wir aber nicht. Wir wollen eine Diskussion darüber führen, wie die Städte aussehen sollen, wenn sie umgestaltet werden. Und wir haben da zum Teil erste Erfolg erzielt. Das war ein Reifeprozess. (evtl. OT kurz hoch) In manchen Städten stand etwa das Thema Mobilität zum ersten Mal auf der Agenda. Nun diskutieren die Menschen darüber, wie Bürgersteige aussehen sollen, wie der Verkehr durch die Stadt geführt wird, wie sich Stadtteile entwickeln sollen. Das ist das Erbe des Engagements der Zivilgesellschaft. Atmo 9 Straßenatmo Unterwegs nachts auf einer Straße im Zentrum von Fortaleza. Auch in dieser nordost-brasilianischen Stadt werden WM-Spiele ausgetragen. Deutschland wird in Fortaleza gegen Ghana antreten. Auch die Frauen und Männer, die hier an der Straße arbeiten, freuen sich auf die Fußball-Weltmeisterschaft. Das ganze könnte ein ziemlich gutes Geschäft werden. Laís jedenfalls hat sich den WM-Termin schon dick notiert. OT 21 Laís (ohne OV) 7 Da kommen viele Touristen, meint sie. Je mehr Touristen, desto mehr Arbeit. OT 21 Sandy 1 (ohne OV) 6 Sandy, die gleich neben Laís steht, freut sich auf die Brasilianer, vor allem aber auf die Gringos, auf die Ausländer. Seit 2 Jahren arbeitet sie als Prostituierte, schafft hier in Fortaleza an. OT 22 Sandy 2 (ohne OV) 4 Mit den Japanern, die oft kommen habe sie gute Erfahrungen, meint sie noch. Sandy, grellgeschminkt und aufreizend gekleidet, ist keine 16 Jahre alt. Laís dürfte vermutlich noch jünger sein. Minderjährige Prostituierte sind in Brasilien keine Seltenheit. Im Nordosten des Landes, in Fortaleza, Salvador da Bahía oder Recife also in den Spielorten der deutschen Mannschaft gibt es sogar einen regelrechten Sextourismus. Frau CEDEC 9
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