Lese-Rechtschreib-Störung. Sofort fehlerfrei lesen. Computerprogramm verhilft Legasthenikern zu schnellen. Erfolgserlebnissen. von Beatrice Wagner
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- Hetty Vogel
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Transkript
1 Lese-Rechtschreib-Störung Sofort fehlerfrei lesen Computerprogramm verhilft Legasthenikern zu schnellen Erfolgserlebnissen von Beatrice Wagner Genau an der spannendsten Szene geht der Fernseher kaputt. Das Bild ist schwarz, nichts geht mehr. Der Fernsehmechaniker kommt, zerlegt das gute Stück und überlegt, woran es liegen könnte. Er prüft die Sicherungen, misst Leitungen durch und ersetzt das kaputte Modul. Der Fernseher funktioniert wieder. Mit der Behandlung der Lese-Rechtschreib-Schwäche ehemals als Legasthenie bezeichnet könnte man ähnlich verfahren und genauso effektiv sein, sagt Reinhard Werth vom Institut für Soziale Pädiatrieund Jugend... in München. Sobald die richtige Ursache gefunden ist, man sozusagen das defekte Modul entdeckt hat, können Kinder sofort fehlerfrei lesen. So verspricht es der Neuropsychologe. Er hat ein Computerprogramm entwickelt hat, das er zur Therapie und Diagnose einsetzt und das es auch zu kaufen gibt. Wie wird Legasthenie bislang diagnostiziert und therapiert? Das gängige Verfahren bei Verdacht auf Legasthenie sieht folgendermaßen aus: Um festzustellen, ob eine Lese-Rechtschreibstörung vorliegt, werden zunächst mit speziell entwickelten standardisierten Testverfahren, die abhängig vom Alter sind, das Lesevermögen, die Rechtschreibfähigkeiten und das
2 Intelligenzniveau gemessen. Dann vergleicht man die Ergebnisse mit den Werten von Kindern, die problemlos lesen können. Ab einer gewissen Abweichung heißt es, das Kind ist legasthenisch. Hat sich der Verdacht bestätigt, werden die Ursachen gesucht. Ein relativ banaler Grund kann sein: Häufiges Schule schwänzen, oder ein Hör- oder Sehfehler des Kindes, das deshalb dem Unterricht nicht folgen kann. Mit regelmäßiger Anwesenheit im Unterricht, beziehungsweise einer Brille oder einem Hörgerät kann diese Legasthenie rasch behoben werden. Anders bei tatsächlichen Legasthenikern. Neuerdings hat man festgestellt, dass bei ihnen überdurchschnittlich häufig die Weiterverarbeitung von Tönen oder optischen Reizen gestört ist, weswegen man das als Ursache der Lese-Rechtschreib-Schwäche ansieht. Diese Störungen werden therapeutisch durch logopädische Übungen kompensiert. Das heißt, es gibt jede Menge Nachhilfestunden, in denen das Kind pauken muss, nach welchen Regeln man korrekt schreibt und spricht. Ein Problem jedoch stellt sich bei dieser Therapiemethode: Alle Legastheniker bekommen die gleiche Behandlung. Individuelle Unterschiede sind nicht vorgesehen. Und genau an dieser Stelle setzt Reinhard Werth an. Für den Münchner Medizinpsychologen gibt es nicht den Legastheniker. Lesen ist für ihn das Ergebnis zahlreicher Hirnleistungen. Die verschiedenen, für das Lesen zuständigen Hirnregionen, sind über weite Bereiche des
3 Gehirns zerstreut. Lesen kann man dann, wenn es dem Gehirn gelingt, diese verschiedenen Hirnregionen zu einem geordneten Zusammenwirken zu bewegen. Sind jedoch eine oder mehrere dieser Hirnleistungen oder deren Koordination gestört, kann es zu Leseproblemen kommen. Um die Bereiche ausfindig zu machen, in denen Koordinations- oder Aufnahmeschwierigkeiten bestehen, geht Werth im Prinzip nicht anders vor als der Fernsehmechaniker. Er sucht nach dem defekten Modul. Dazu benutzt er ein selbst entwickeltes Computerprogramm namens Celeco. Dieses beinhaltet Übungen, mit denen systematisch Störquellen ausfindig gemacht werden können. Zehn große Untergruppen von Lesestörungen hat Werth identifzieren können, wie zum Beispiel zu-früh-aussprechende Legastheniker, zukurz-fixierende Legastheniker oder buchstabierende Legastheniker. Wenn organische Ursachen für eine Leseschwäche, wie Seh- oder Hörschwäche, ausgeschlossen werden können, beginnt Werth mittels Testreihen einen Legastheniker in die richtige Untergruppe einzuordnen. Die erste Testreihe dient dazu, den zu-frühaussprechenden Legastheniker zu finden. Beim Lesen lassen wir unseren Blick normalerweise nicht von einem Buchstaben zum anderen fließen, sondern fixieren ein ganzes Wort beziehungsweise Wortsegment, das Wort wird im Gehirn abgerufen und dann vollziehen wir einen Blicksprung. Die Abrufzeit beträgt bei Kindern im Alter
4 von sieben Jahren weniger als 300 Millisekunden. Ein zufrüh-aussprechendes legasthenisches Kind braucht mehrere Sekunden. Wenn es versucht schneller zu lesen, kann es das Gehirn nicht lange genug nach dem richtigen Wort in seinem Speicher suchen. So rät das Kind und bekommt im Fach Lesen eine sechs. Um zu überprüfen, ob ein Kind ein zu-frühaussprechender Legastheniker ist, gibt Werth dem Kind auf dem Monitor einzelne Wörter zu lesen. Zuerst wird das Wort für 200 Millisekunden gezeigt. Liest das Kind das Wort falsch, gibt Werth dem Wort ein Signal hinzu, das erst nach mehreren Sekunden auftritt. Erst beim Ertönen des Signals darf das Kind das Wort laut aussprechen. In vielen Fällen kann es mit dieser Geschwindigkeit zum ersten Mal in seinem Leben fehlerfrei lesen. Dann reduziert Werth die Wartezeit bis zu dem Signal, bei dem das Kind beginnt Fehler zu machen. So erhält er eine Richtgröße, die bei einem zu-frühaussprechender Legastheniker bei 3 oder mehr Sekunden liegen kann. Das bedeutet, dieses Kind kann fehlerfrei lesen, wenn es sich für jedes Wort oder Segment mindestens 3 Sekunden Zeit nimmt. Somit hat Werth das defekte Modul schnell gefunden und kann es gegen ein funktionierendes, nämlich einer längeren Abrufzeit, eintauschen. Das neue Leseverhalten muss das Kind jetzt üben. Es soll zuerst seine individuelle Abrufzeit verinnerlichen und diese danach sukzessive verringern. Dazu bekommt es die Übung mit seiner individuellen Abrufzeit auf einer
5 Diskette nachhause. In regelmäßigen Abständen finden weitere Sitzungen mit dem Therapeuten statt, in denen die Abrufzeit nach und nach herunterreguliert wird. Werth schätzt, dass bei täglichem Üben von etwa 15 Minuten das Kind in drei Monaten flüssig und fehlerfrei auch ohne Computerprogramm lesen kann. Es wird zwar ein langsamer Leser, aber es wird fehlerfrei lesen und verstehen lernen, erklärt Werth. Eine andere Untergruppe sind buchstabierende Legastheniker. Viele als legasthenisch bezeichnete Kinder haben erhebliche Schwierigkeiten damit, den Schritt vom Buchstabenlesen zum Wörterlesen zu vollziehen. Das heißt, das Kind kann einzelne Buchstaben richtig lesen, doch in dem Moment, in dem die einzelnen Buchstaben zu einem vollständigen Wort zusammengefügt werden, kann dieses nicht erkannt werden. Um diese Schwäche zu beheben, bietet das Celeco-Programm zwei Trainingsstrategien an. Das Einsteigertraining zeigt zwei-, drei- oder vierbuchstabige Wörter für höchstens 300 Millisekunden, die das Kind laut lesen soll. Damit wird das Zusammenziehen von Buchstaben trainiert. Im Fortgeschrittenentraining unterteilt das Computerprogramm einen Text in Silben und blendet peu à peu jede einzelne Silbe ein. Auch diese Übung bekommt das Kind auf eine Diskette überspielt mit der Vorgabe, zu Hause täglich zu trainieren. Nach zwei Wochen erhält es wieder einen Termin beim Therapeuten. Hat das Kind seine Hausaufgaben gemacht, kann die Silbenlänge
6 sukzessive vergrößert werden, bis das Kind die nächste Stufe erreicht hat. Hier bekommt es einen ganzen Text zu Lesen, mit langen und mit kurzen Wörtern, so wie es sich gerade ergibt. Allerdings wird nur immer ein Wort eingeblendet. Der Text rechts und links von dem Wort ist unsichtbar. Nach einer weiteren Übungszeit beginnt das "Profitraining". Jetzt ist auch der gesamte umgebende Text zu sehen, zuerst in hellgrau, später in immer dunklerer Schrift. So lernt das Kind, sich vom Computerprogramm zu lösen. Wenn es diese Meisterleistung vollbracht hat, ist es fit für jede Menge Lesespaß. Sprich: Es kann flüssig lesen. Bei einer dritten Gruppe von leseschwachen Kindern handelt es sich nach Werth um zu-große-blicksprung Legastheniker. Diese Kinder können nur vier Buchstaben auf einmal erfassen, springen aber mit dem Blick sechs oder acht Buchstaben weiter. Die übersprungenen Buchstaben raten sie, mal falsch, mal richtig. Auch hierfür hat Celeco einen Diagnose- und einen Therapiemodus parat, genauso wie für die insgesamt zehn Unterformen der Legasthenie. Folgt man Werths Modell, gibt es nicht die Legasthenie, sondern vielmehr verschiedene Arten von Lese- und Schreibschwäche, deren jeweilige Ausprägung in unterschiedlichen Ursachen liegen kann. Und in dieser Annahme liegt auch das Neue, das Werths Diagnoseprinzip bietet, gegenüber der ursprünglichen
7 Behandlung von Legasthenie. Wir haben erkannt, dass sich das Lesen aus vielen kleinen Einzelheiten zusammensetzt. Erst wenn wir genau die Quelle ausfindig machen, die die Fehler generiert, können wir dem Kind zum fehlerfreien Lesen verhelfen, sagt Werth. Untersuchungen geben ihm Recht. Laut einer Studie hat Werths Verfahren eine Erfolgsquote von 100 Prozent. Im Moment stellt Reinhard Werth ein Computerprogramm zur Behandlung der Schreibschwäche fertig, das im Frühjahr 2004 auf den Markt kommt. Beatrice Wagner Kontakt: PD Dr. Dr. Reinhard Werth Institut für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin Ludwig-Maximilians-Universität München Informationen über das Computerprogramm Celeco, das es als Version für Therapeuten und Fachbetreuer und als Version für Eltern und Schüler zu kaufen gibt. Preis: je 99. Celeco GmbH Postfach München Tel: 089/ Buchtipp: Reinhard Werth, "Legasthenie und andere
8 Lesestörungen. Wie man sie erkennt und behandelt." Verlag C. H. Beck. 2. Auflage 2003, ISBN ,90. [Kasten] Die Untergruppen von Legasthenie 1. Das Kind fixiert das Wort nicht richtig mit der Stelle des schärfsten Sehens im Auge. 2. Das Kind fixiert das Wort oder das Segment für zu kurze Zeit. 3. Das Kind liest Einzelbuchstaben, macht aber Fehler beim Zusammenziehen zu einem Wort. 4. Das Kind erkennt alle Buchstaben in ihrer richtigen Position, braucht aber mehr Zeit, um die Lautfolge aus dem Gedächtnis abzurufen. 4. Das Kind kann Pseudowörter aussprechen, hat aber Schwierigkeiten, natürliche Wörter auszusprechen, da es die dazu erforderlichen Ausspracheregeln gleichzeitig beherrschen muss. 5. Das Kind hat ein geringes Aufmerksamkeitsfeld, es kann ungeübt nur zwei statt vier Buchstaben erkennen. Um schnell zu lesen, fängt es zu raten an. 6.a Die Sehleistung ist während des Blicksprunges gehemmt, das Kind braucht zu lange, damit die Sehleistung wieder hergestellt wird nach dem Blicksprung. 6.b Während des Blicksprungs wird das, was vor dem dem Blicksprung gesehen wurde, nicht vollständig gelöscht, und überlagert das nach dem Blicksprung betrachtete Wort. 7. Das Kind macht zu große Blicksprünge, und rät die übersprungen Buchstaben. 8. Das Textumfeld stört und lenkt ab. 9. Das Kind blickt geradezu zwanghaft zu bereits richtig gelesenen Wörtern oder Wortsegmenten zurück und kommt deshalb kaum von der Stelle. 10. Das Aufmerksamkeitsfeld ist ausreichend groß, doch die Fähigkeit zum gleichzeitigen Erkennen der verschiedenen Buchstaben ist gestört. 11. Die Fähigkeit zum simultanen Erkennen von Buchstaben rein visuellen Signale können nicht adäquat weiter verarbeitet werden. Verbunden mit akustischen Signalen (laut vorlesen) klappt das Lesen. 12 Die Kinder haben Schwierigkeiten, den Text zu verstehen, weil die Wörter nicht mit einer Bedeutung verknüpft werden können. 13. Der Leseprozess erforlert so viel Aufmerksamkeit, dass keine Aufmerksamkeit mehr dem Inhalt zugerichtet werden kann. nach: PD Dr. Dr. Reinhard Werth, Institut für medizinische Psychologie, München
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