Zwei Staaten, eine Nation: Identitätsbilder in der BRD und der DDR
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- Angelika Richter
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1 Freie Universität Berlin Institut für Soziologie HS : Kollektive Identität Prof. Jürgen Gerhards Zwei Staaten, eine Nation: Identitätsbilder in der BRD und der DDR Torben Nerlich
2 Wer ist Mario Rainer Lepsius? geboren 1928 in Rio de Janeiro/Brasilien 1950 Diplom für Volkswirte an der Universität München 1955 Promotion 1957 bis 1963 wissenschaftlicher Assistent am Institut für Soziologie der Universität München 1963 Habilitation 1963 bis 1993 Ordinarius für Soziologie an der Universität Mannheim (bis 1981) und Heidelberg Seit 1993 Emeritus in Heidelberg. Von 1971 bis 1974 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Seit 1977 Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, seit 1992 korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und seit 2004 ausländisches Mitglied der Klasse für Moral-, Historische und Philologische Wissenschaften der Accademia delle Scienze di Torino. Lepsius' ist Mitherausgeber der Gesamtausgabe von Webers Werk. Stark beeinflusst hat Lepsius die politische Kulturforschung durch seinen Milieubegriff. Quelle:
3 Was ist auf nationalstaatlicher Ebene kollektive Identität nach Lepsius? Drei Fragen müssen hierfür beantwortet werden: 1. Der Umgang mit der eigenen Geschichte: Wie wird die eigene Geschichte konstruiert? Was wird betont? Was wird ausgeblendet? 2. Was für eine politische Kultur existiert in der Nation? 3. Wie wird (im Anschluss an Weber) die Gesellschaftsordnung legitimiert?
4 1. Gliederung 2. Geschichtliche Entwicklung hin zur deutschen Teilung 3. Der Charakter der beiden deutschen Staaten 3.1 Der Umgang mit dem Nationalsozialismus 3.2 Die politische Kultur in den beiden deutschen Staaten 3.3 Über das Verhältnis von Nation und Staat innerhalb der beiden deutschen Staaten 4. Diskussion der Ergebnisse
5 2. Geschichtliche Entwicklung hin zur deutschen Teilung Eckdaten deutscher Geschichte: Reichsgründung 1871 Erster Weltkrieg nicht erfolgreiche Revolution 1918 (-> Bezugspunkt für DDR-Geschichte) Weimarer Republik (-> Bezugspunkt für BRD-Geschichte) Nationalsozialismus Zweiter Weltkrieg Die deutsche Teilung seit 1945: militärische Teilung in Folge der bedingungslosen Kapitulation am wirtschaftliche Teilung 1947/1948 durch die Währungsreformen politische Teilung 1949 durch die Konstitution der beiden deutschen Staaten BRD und DDR soziale Teilung 1950 bis 1961 durch unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung und die Schließung der Grenzen kulturelle Teilung durch unterschiedliche Ideologien
6 3.1 Der Umgang mit dem Nationalsozialismus Bundesrepublik Deutschland Der Nationalsozialismus wurde normativ internalisiert, soll durch Institutionenreform de politischen Systems und den Aufbau von demokratischen Wertüberzeugungen überwunden werden teilidentisch mit dem Territorium und der Bevölkerung des Dritten Reichs Anspruch: Rechtsnachfolger des Großdeutschen Reiches Bonn als ein besseres Weimar (Reparatur der Geschichte): Beseitigung der Präsidialkompetenzen des Präsidenten der Republik Einführung des konstruktiven Misstrauensvotums Einrichtung des Bundesverfassungsgericht (1951) Fünf-Prozent-Hürde (1953) Bonn ist nicht Weimar als Mahnung wie Zielvorgabe. BRD als wehrhafte Demokratie
7 3.1 Der Umgang mit dem Nationalsozialismus Deutsche Demokratische Republik Der Nationalsozialismus wurde über die Kategorie des Faschismus universalisiert und durch den Typenwandel zur sozialistischen Gesellschaft aus der Eigengeschichte der DDR gestrichen neuer Staat, mit dem Deutschen Reich nicht mehr identisch Anspruch: revolutionärer Entwicklungssprung vom kapitalistischen zum sozialistischen Staat, der die Kontinuität durch einen historischen Typenwandel unterbrochen habe Anknüpfung an die nicht erfolgreiche Revolution von 1918: Enteignung der Produktionsmittel Aufbau eines planwirtschaftlichen Wirtschaftssystems mit nivellierender Einkommens- und Sozialpolitik erzwungener Zusammenschluss der sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien zur SED Durchsetzung des kommunistischen Herrschaftsanspruchs im Namen der Arbeiter und Bauern Abgrenzung gegen bürgerliche Gesellschaften, die den Faschismus erst ermöglicht hätten.
8 3.1 Der Umgang mit dem Nationalsozialismus Lepsius' Zusammenfassung: Für die Bundesrepublik galt: Eine funktional effektive und wertbezogene parlamentarische Demokratie hätte trotz Wirtschaftskrise den Nationalsozialismus nicht zur Macht kommen lassen; die neue Ordnung hatte dementsprechend die parlamentarische Demokratie institutionell zu festigen und einen Wertkonsens normativ zu bekräftigen. Für die DDR galt: Eine sozialistische Gesellschaftsordnung hätte den Kapitalismus beseitigt, der seinerseits die Basis der Entwicklung zum Faschismus darstellt; die neue Ordnung hatte dementsprechend den Kapitalismus zu beseitigen und die Herrschaft der Partei der Arbeiterklasse zu sichern (Lepsius 1993: 231).
9 3.2 Die politische Kultur in den beiden deutschen Staaten post-nationalstaatliches Gemeinwesen Bundesrepublik Deutschland neue politische Kultur demokratische politische Ordnung individuell einklagbare Grundrechte pluralistische Interessenorganisation auch für Minderheitenpositionen leicht zugängliche Medien Beispiele für die Politisierung des Privaten: 1968er Studentenrevolte die zweite Frauenbewegung gegen den Paragraphen 218 (1971) Friedensbewegung Herausbildung neuer sozialer Bewegungen
10 3.2 Die politische Kultur in den beiden deutschen Staaten Deutsche Demokratische Republik post-nationalstaatliche Staatsbildung mit mangelnder politischer Eigenlegitimität, die diese kompensatorisch über die Konstruktion eines eigenen Nationenbegriffs abzustützen versucht normativ geschlossene und staatlich sanktionierte politische Ideologie zentralistisch-bürokratischen Herrschaftsorganisation keine freie öffentliche Meinung Die politische Kultur der DDR war stark von der traditionellen Vorstellung der Unterteilung in öffentliche und private Kultur geprägt geblieben.
11 3.2 Die politische Kultur in den beiden deutschen Staaten Lepsius' Zusammenfassung: In der BRD wurden private Interessen tendenziell politisiert, in der DDR wurden politische Interessen tendenziell privatisiert (Lepsius 1993: 203).
12 3.3 Über das Verhältnis von Nation und Staat innerhalb der beiden deutschen Staaten Drei Perspektiven bei der Problematik von Nation und Staat normative Perspektive: Legitimationsanspruch des Staates politische Perspektive: Institutionalisierung der Willensbildung und der Konfliktaustragung soziale Perspektive: Identifizierung des Staatsvolkes mit dem Staat
13 3.3 Über das Verhältnis von Nation und Staat innerhalb der beiden deutschen Staaten Bundesrepublik Deutschland Legitimationsanspruch des Staates (normative Perspektive) Ausübung des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes: funktionierender Parlamentarismus, hohe Wahlbeteiligung, Zustimmung der Eliten zum politischen System Inst. der Willensbildung/Konfliktaustragung (politische Perspektive): offen für die Formulierung, Artikulation und Repräsentation sozialer Interessen Identifizierung des Staatsvolkes mit dem Staat (soziale Perspektive): politisches Gemeinwesen mit relativ geringer nationaler Symbolik, nationaler Sinngebung und national-geschichtlicher Bewusstheit
14 3.3 Über das Verhältnis von Nation und Staat innerhalb der beiden deutschen Staaten Bundesrepublik Deutschland Lepsius' Schlussfolgerungen: Die BRD ist eine Staatsnation. Def.: Ein nominelles Staatsvolk identifiziert sich als Staatsnation, wenn die politische Ordnung sich selbst auf die Prinzipien der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und und der Sozialstaatlichkeit gründet und diese Prinzipien eine von der Bevölkerung anerkannte Wirksamkeit haben... (Lepsius 1993: 208). Das BRD-Staatsbürgertum beruht auf der Vorstellung der Zusammengehörigkeit, die sich auf die wirksam in Anspruch genommenen staatsbürgerlichen Gleichheitsrechte bezieht. Grundvoraussetzung: Abgrenzung durch Ausgrenzung Lepsius' Fazit: Die BRD ist der erste demokratisch konstituierte deutsche Staat, der auf dem Prinzip der staatsbürgerlichen Freiheitsrechte beruht.
15 3.3 Über das Verhältnis von Nation und Staat innerhalb der beiden deutschen Staaten: Die Abgrenzung der BRD nach Osten Ich würde, so gern ich die beiden mitsammen sprechen sehe allmählich lern auch ich politische Vernunft, Kollege Schättle so gern ich die beiden zusammen sprechen sehe: Herrn Doktor Adenauer und Herrn Doktor Schumacher; nicht gerne hinterm Stacheldraht im Ural sich darüber unterhalten sehen, was sie hätten tun solln im Frühjahr Dieses Europa kann nicht neutral sein. Dieses Europa darf niemals aggressiv sein. Aber dieses Europa muss durch seine Stärke und durch die Stärke seiner Bundesgenossen jeden Angriff für den Angreifer zum Selbstmord machen. - Franz Josef Strauß in einer Bundestagsdebatte am 8. Februar 1952 über die Frage der Westbindung und des Verteidigungsbeitrags der Bundesrepublik Quelle:
16 3.3 Über das Verhältnis von Nation und Staat innerhalb der beiden deutschen Staaten Deutsche Demokratische Republik Legitimationsanspruch des Staates (normative Perspektive): durch den Anspruch der SED die Interessen der Arbeiterklasse zu verwirklichen, als ein sozialistischer Staat Inst. der Willensbildung/Konfliktaustragung (politische Perspektive): in hohen Maße geschlossen und nach dem Organisationsprinzip des so genannten demokratischen Zentralismus auf die bürokratische Parteiorganisation der SED beschränkt Identifizierung des Staatsvolkes mit dem Staat (soziale Perspektive): Identifizierung der Menschen in der DDR bezieht sich auf nationale Ordnungsvorstellungen ethnischer und kultureller Art, die gegenüber der politischen Ordnung relativ indifferent sind
17 3.3 Über das Verhältnis von Nation und Staat innerhalb der beiden deutschen Staaten Die Deutsche Demokratische Republik als Klassennation Problem: keine der drei Perspektiven verschafft dem DDR-Staat Legitimation Lösung: Legitimationschwäche des Regimes sollte über den ökonomischsozialpolitischen Versorgungsstand kompensiert werden. sekundäre Identitätskriterien: Stolz auf die höhere ökonomische Leistungsfähigkeit des Systems und das höhere Lebenshaltungsniveau der Bevölkerung gegenüber anderen Ostblockländern
18 3.3 Über das Verhältnis von Nation und Staat innerhalb der beiden deutschen Staaten: Die Schließung der DDR-Grenzen Annamarie Doherr: [...]Ich möchte eine Zusatzfrage stellen. Doherr, Frankfurter Rundschau. Herr Vorsitzender, bedeutet die Bildung einer freien Stadt Ihrer Meinung nach, dass die Staatsgrenze am Brandenburger Tor errichtet wird? Und sind Sie entschlossen, dieser Tatsache mit allen Konsequenzen Rechnung zu tragen? Walter Ulbricht: Ich verstehe Ihre Frage so, dass es Menschen in Westdeutschland gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR mobilisieren, um eine Mauer aufzurichten, ja? Ääh, mir ist nicht bekannt, dass [eine] solche Absicht besteht, da sich die Bauarbeiter in der Hauptstadt hauptsächlich mit Wohnungsbau beschäftigen, und ihre Arbeitskraft voll eingesetzt wird. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten Juni 1961, internationale Pressekonferenz: Mitschnitt des SFB Quellen:
19 3.3 Über das Verhältnis von Nation und Staat innerhalb der beiden deutschen Staaten Auch wenn in der DDR keineswegs alles schlecht ist, so ist es doch im Vergleich mit der Bundesrepublik im allgemeinen schlechter, und umgekehrt: Auch wenn in der Bundesrepublik keineswegs alles gut ist, so ist es doch im Vergleich zur DDR im allgemeinen besser (Lepsius 1993: 215). Während die Bundesrepublik für die DDR eine positive Vergleichsgesellschaft darstellt, ist die DDR für die Bundesrepublik eine negative Vergleichsgesellschaft (Lepsius 1993: 215). Die innenpolitische Funktion der Vergleichsgesellschaften DDR für die BRD: affirmativ und systemstabilisierend BRD für die DDR: entlegitimierend und destabilisierend Beispiele: Trivialkultur und Massenmedien
20 4. Diskussion der Ergebnisse Diskussionsanregungen: Was ist eigentlich deutsch? Was war westdeutsch? Was war ostdeutsch? Hat Lepsius den Untergang der DDR vorrausgesagt? Was für ein Land ist das wiedervereinigte Deutschland? Was ist von der DDR übrig geblieben? Leben wir noch in einer Staatsnation? Sind die einklagbaren Bürgerrechte bei zunehmender sozialer Ungleichheit noch bestimmend für die deutsche Staatsbürgerschaft?
Walter Ulbricht (Staatsratsvorsitzender der DDR) am 15. Juni 1961, zwei Monate vor dem Mauerbau. 24.02.2010 Florian Sachs 1
Ich verstehe Ihre Frage so: Dass es Menschen in Westdeutschland gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR mobilisieren, um eine Mauer aufzurichten, ja? Äh, mir ist nicht bekannt,
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