Grundfragen von Erziehung, Bildung und Schule: Entwicklungen im Bildungssystem
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- Maja Gerburg Straub
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1 Grundfragen von Erziehung, Bildung und Schule: Entwicklungen im Bildungssystem Grundbegriffe I: Bildung Prof. Dr. Achim Leschinsky Redemanuskript zur Vorlesung Das hier zur Verfügung gestellte Manuskript ist nicht zitierfähig und ausschließlich zum Zweck der Lehre zu verwenden.
2 Die heutige Vorlesung gilt dem Begriff Bildung, weil er gewissermaßen den Kontrabass der Institution des Schulsystems, in dem Sie tätig sein werden, darstellt. Dieser Zusammenhang schließt nicht aus, dass ein gewisses Spannungsverhältnis zu der institutionalisierten Erziehung im Bildungswesen oder Schulsystem existiert. Die Bezeichnung Bildung und Bildungssystem tut dieser wechselseitigen Spannung keinen Abbruch. Aber viele Pädagogen sind überzeugt, dass sich die Verhältnisse in unserer Schule ändern müssen, und buchstabieren gerade auch mit dem Begriff der Bildung ihre Kritik an der Schule aus. Es ist aber ein wichtiger Unterschied, ob man dabei sagt, das Bildungswesen bzw. die Schule muss sich ändern und das leisten, was nach meiner begründeten Auffassung zum Begriff Bildung gehört, oder nur feststellt, dass die Schule bzw. das Bildungswesen sich zwar verändern muss, aber dies und jenes nicht wirklich leisten kann, auch wenn diese Tatsache kritikwürdig sein mag. Der Spielraum, der sich in beiden Fällen öffnet, ist offenbar unterschiedlich: während im ersten Fall unterstellt wird, dass die Schule gewissermaßen sich unbegrenzt ändern könne, um das mit Bildung Gemeinte auch zu erreichen, wird im zweiten Fall mit deutlich geringeren Möglichkeiten gerechnet; in gewisser Weise ist diese Auffassung etwas resignativ oder, wie die Kritiker im ersten Falle sagen würden, anpasserisch. Wie eingangs angedeutet, wird die heutige Vorlesung vier Abschnitte haben: Zunächst geht es darum, vier Dimensionen des Bildungsbegriffs zu benennen und drei davon in einem zweiten Abschnitt zu erläutern. Bevor der vierte Aspekt dargestellt wird, steht ein historischer Exkurs an auf eine entscheidende Person des Bildungsverständnisses, das wir noch heute haben: auf Wilhelm von Humboldt. Erst dann soll in einem abschließenden Teil die Erläuterung der vier Dimensionen erfolgen. Der Begriff der Bildung, der im Laufe der Zeiten unterschiedliche Färbungen und Definitionen angenommen hat, sich aber in der Form, wie er heute verwandt wird, gewissermaßen erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etablieren konnte, hat vier unterschiedliche Dimensionen. Sie sollen der Übersichtlichkeit wegen kurz genannt werden, bevor dazu genaue Ausführungen gemacht werden, die das Verständnis erleichtern sollen. Man spricht übrigens für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, in der sich gewissermaßen in den zentralen Grundbegriffen unser 2
3 heutiger Sprachgebrauch gebildet hat und auch der Begriff Bildung sich durchsetzen konnte, von der so genannten Sattelzeit. Die moderne Geschichtswissenschaft hat diese Zeitspanne etwa von 1750 bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts und ihre Bedeutung entdeckt; es existiert inzwischen ein großes mehrbändiges Lexikon der historisch-politischen Grundbegriffe, das auch einen umfangreichen Artikel zum Begriff Bildung enthält. Aus ihm habe ich weitgehend die vier Dimensionen gewonnen, die ich unterscheiden möchte: 1. der umfassende Charakter von Bildung, der sich nicht nur im Kognitiven erschöpft; 2. die Bedeutung der Sprache, die sowohl für den Prozess als auch das Ziel der Bildung entscheidende Bedeutung hat; 3. die Bedeutung der Selbsttätigkeit des Subjekts, wobei damit gleichzeitig die entscheidende Relevanz des Lebens, der Umgebung des Individuums für die Bildung genannt wird. Im Grunde handelt es sich hier um eine gewisse Polarität; auf jeden Fall ist damit die Unabschließbarkeit der Bildung gesetzt, die nicht etwa mit dem Besuch einer bestimmten Bildungsinstitution endet; 4. die Unterscheidung von spezieller Ausbildung oder Berufsbildung und allgemeiner Bildung. Letztere hat keine allgemein vorgegebenen Ziele, genauso wenig wie sie mit festen Anlagen oder Begabungen rechnet. Jetzt komme ich zum zweiten Teil der Vorlesung und erläutere die drei ersten Dimensionen. 1. Bildung umfasst nicht nur den Geist oder Kopf; sie arbeitet auch nicht nur über das Medium des Buches, das in der Schule im Vordergrund steht. Bildung hat vielmehr auch eine emotionale und praktische Seite; es geht, wie es in einem anderen Schlagwort heißt, das Pestalozzi, einem Pädagogen des 18. Jahrhunderts, in den Mund gelegt wird, um die Bildung von Kopf, Herz und Hand. Gerade hinsichtlich der Komplexität oder Mehrdimensionalität von Bildung gibt es immer wieder Anlass, die Einseitigkeit von dem, was in der Schule passiert, zu kritisieren und zu dem Bildungsbegriff, der doch die Methode und das Ziel des Bildungsprozesses benennen soll, in Gegensatz zu bringen. 3
4 Als Beispiel dafür kann die Kritik von Hartmut von Hentig genannt werden, der in einem Essay mit dem Titel Bildung von 1996 massive Vorwürfe gegen die öffentliche Schule vorbringt. In dem von ihm begründeten Bielefelder Projekt der Laborschule, die eine Alternativschule in staatlicher Trägerschaft darstellt, hat er ein Gegenmodell begründet, das freilich, wie in dem genannten Essay auch deutlich wird, von den dort tätigen Lehrkräften selber nur zum Teil richtig verstanden wurde. Hentig wirft der öffentlichen Schule vor, dass sie durch ihre Einseitigkeit und ihre gesellschaftlichen Funktionen bestenfalls Ausbildung, aber nicht allgemeine Bildung vermittle. Dafür nennt er sechs Maßstäbe, die durchweg Werthaltungen und politisches Verhalten betreffen [...]. Ich bin demgegenüber überzeugt, dass die in der Schule deutlich werdende starke Ausrichtung auf das Kognitive ihrer Struktur und Geschichte entspricht, also keine mehr oder weniger zufällige Fehlentwicklung bedeutet: man muss darüber nicht glücklich sein, aber wir müssen damit leben, so dass unsere Veränderungsmöglichkeiten und Verbesserungschancen der Schule nur begrenzt sind, wenngleich durchaus denkbar und nötig sind. 2. Die Bedeutung der Sprache für Bildung, wobei Mutter-, Alt- und Fremdsprachen angesprochen sind, verweist einerseits auf den historischen Zusammenhang der Genese des Bildungsbegriffs. Andererseits sind deutliche Entsprechungen in der Schule der Gegenwart festzustellen. Die Bildung, wie ich bereits zu Anfang gesagt habe, war ein Kind insbesondere der Aufklärungsphilosophie, mit deren Namen ich Sie an dieser Stelle nicht ermüden will: aber Kant und Hegel gehören auch dazu. Die Bedeutung der Sprache ist seinerzeit insbesondere von Herder herausgestellt worden. Nach Herders Auffassung lagen in der Sprache Elemente, die für die Erziehung zum Menschen in der Geschichte unabdingbar sind. Gerade auch in der Verschiedenheit der Sprachen hat er bildende Elemente erkannt. Es ist immer eine Aufgabe der Schule gewesen, von dieser Verschiedenheit einen Begriff zu vermitteln und in sie einzuführen. Ich will an dieser Stelle davon absehen, Belege aus der neueren Entwicklungspsychologie und der Philosophie zu suchen, um die Bedeutung der Sprache für die Entfaltung des Subjekts und seiner Fähigkeiten zu unterstreichen. Einen neuen Beleg dafür können Sie auch in der viel diskutierten PISA- Untersuchung sehen, die die Benachteiligung der Kinder mit so genanntem 4
5 Migrationshintergrund in der Schule und im Leben belegen. Zum Teil kann man sicher diese kritischen Befunde, die die Bedeutung der muttersprachlichen Bildung für den schulischen Bildungsprozess in Deutschland herausstellen, als Bestätigung unserer bundesdeutschen gesellschaftspolitischen Verengung interpretieren. Dass z. B. die Sprachen Südosteuropas, aus denen ja die früheren Gastarbeiter stammen, und kleinerer Länder überhaupt an der deutschen Schule kaum anerkannt werden, empfinden viele Kritiker als Skandal. Den Migrantenkindern (und ihren nachfolgenden Generationen) wird in der Untersuchung aber nicht etwa generell die Bildungsfähigkeit abgesprochen, die ihren Schulerfolg verhindert. Vielmehr wird die entscheidende Bedeutung der früh zu fördernden Sprachkompetenz und des deutschen Sprachverständnisses für den Bildungserfolg und den späteren Lebenserfolg betont. Der Zusammenhang ist kompliziert: vordergründig geht es um die ausreichende Beherrschung der deutschen Sprache, aber bei näherer Betrachtung verbindet sich jedoch mit der Kritik, dass die Kinder mit Migrationshintergrund in der deutschen Sprache versagen, noch mehr: nämlich die Feststellung, dass diese Kinder oft keine Sprache richtig beherrschen. Die deutsche Schule wird von Deutsch beherrscht und zu Hause wird in bestimmten Familien kein Deutsch und manchmal auch keine elaborierte Sprache gebraucht, da die Gastsprache nicht wirklich beherrscht wird, so dass die betreffenden Kinder ohne eine Grundvoraussetzung für ihren Bildungserfolg aufwachsen. Mit der Kritik, dass das bundesdeutsche Bildungssystem offenbar in unzureichender Weise für die gebotene Gleichberechtigung der Kinder mit Migrationshintergrund sorgt und nicht solche frühzeitigen kompensatorischen Sprachmöglichkeiten schafft, verbinden sich verschiedene Veränderungsvorschläge, von denen einer der vorgezogene Grundschulbesuch und der damit verbundene frühere Beginn des Sprachenunterrichts ist. Man geht davon aus, dass auf diese Weise in der Schule selbst eine Grundlage geschaffen wird für den späteren Bildungs- und Lebenserfolg, wie er durch die Vermittlung von Sprachkompetenz in bürgerlichen Elternhäusern erfolgt. In der Geschichte des deutschen Schulwesens hat es immer wieder Vorstöße gegeben, das in der Schule, erst recht für die höherwertigen Bildungsgänge, bestehende Gewicht der Fremdsprachen zu mindern, bis heute ist es aber dabei geblieben, dass in Deutschland zwei Fremdsprachen für den Erwerb des Abiturs 5
6 gefordert werden. Das herausragende Gewicht, das in der Vergangenheit gerade den alten Sprachen zukam, war in der Idee begründet, dass auf diese Weise am ehesten sowohl, was die Inhalte als auch was die grammatikalische Struktur der Sprache betrifft für die Bildung der Schicht gesorgt wird, die dereinst zur Steuerung der Gesellschaft berufen wird. Hier zeigt sich erneut die Vermittlung von Sprachen und Sprachkompetenz überhaupt; denn dies ist die Grundlage eines erfolgreichen Bildungsprozesses seit Humboldt. 3. Zur Bildung gehört das Gebot der Selbsttätigkeit, aber es steht unleugbar in Spannung zu dem Prinzip, dass das Leben bzw. die Umgebung, die der Einzelne selbständig erforscht und verarbeitet, einen prägenden Einfluss auf den Einzelnen hat. Selbsttätigkeit und Selbständigkeit durchdringen sich; wer selbstständig ist, kann auch selber aktiv sein; nur mit einem solchen Subjekt, das also nicht zur Passivität neigt wie beispielsweise oft in der Schule verlangt, arbeitet die Bildungstheorie. Um die Spannung zwischen selbstständigen und selbsttätigem Subjekt und Umwelt, die in der Pädagogik immer wiederkehrt, genauer zu veranschaulichen, muss man die Klassiker der Pädagogik durchgehen. Deutlich wird das Prinzip bereits bei Jean-Jacques Rousseau, der für seinen Emile eine gesonderte Umwelt (einen pädagogischen Garten) außerhalb der Gesellschaft konstruiert und arrangiert, in der Emile sich nur mit den Sachen auseinandersetzt, aber persönliche Kontakte abgesehen von den Gesprächen mit dem Erzieher vermeidet, weil ihn Gefühle und Leidenschaften ungünstig beeinflussen könnten. Das Prinzip der so genannten negativen Erziehung gebietet zwar, dass der Erzieher von direkten Einwirkungen auf Emile absieht und Emile selbst muss kritisch und selbstständig bleiben, aber wenn man genauer hinsieht, ist das, was Emile selbstständig erfahren kann, durch den Erzieher zuvor arrangiert. Ähnlich verhält es sich in gewisser Weise bei dem wohl bekanntesten Bildungsroman Deutschlands, dem Wilhelm Meister von Goethe: auch Wilhelm Meister macht seine Lebenserfahrungen, für die insbesondere Shakespeare und das Theater wichtig sind, selbstständig und ohne Einwirkung eines Erziehers oder gar den Besuch einer Schule. Aber im Hintergrund, der auch Wilhelm Meister selbst erst später deutlich wird, steht die so genannte Turmgesellschaft, die für Wilhelm Meister erst das Leben 6
7 und die darin möglichen Erfahrungen definiert. Jedoch bleibt, dass diese Erfahrungen und die Verarbeitung durch das Subjekt in der Tat nicht von außen vorgegeben werden können, wenngleich die Selbstständigkeit des zu bildenden Individuums nicht so groß ist wie gedacht, sondern sich in einem umgrenzten Rahmen bewegt. Das Problem kehrt wieder in verschiedenen pädagogischen Gegenentwürfen und Utopien der Folgezeit; auch die Reformpädagogik zahlt gewissermaßen einen Tribut an diese Vorstellung. Zwar ist die Interaktion von den Schülern zum Lehrer durch Einebnung aller Autoritätsverhältnisse gekennzeichnet, aber der Erzieher kontrolliert letztlich alle Lebensbeziehungen seiner Schüler. Um es ironisch zu wenden: es gibt neuerdings einen kleinen Sketch, wo ein Mensch fragt: Wo geht es hier zum Bahnhof? Verschiedene Berufsgruppen antworten, darunter der Pädagoge. Der sagt: Ich weiß natürlich, wo der Bahnhof ist. Aber ich denke, dass es besser für Dich ist, wenn Du es selbst herausfindest. Bevor wir wie angekündigt zur 4. Dimension des Bildungsbegriffs kommen, machen wir einen kleinen Exkurs auf die Lebensumstände Wilhelm von Humboldts, der wie kein Zweiter in Deutschland auf die Vorstellung der Bildung gewirkt hat und insbesondere den 4. Aspekt, den ich aufgezählt habe, eingeführt hat. Es geht im Folgenden darum, dass in einer Art Exkurs einige wichtige Fakten zum Leben von Wilhelm von Humboldt vermittelt werden, bevor der 4. Aspekt des Bildungsbegriffs näher erläutert wird. An den Anfang der Ausführungen über Wilhelm von Humboldt sind jedoch einige Bemerkungen zu stellen, die Sie wenigstens kurz über die Preußische Bildungsreform zum Beginn des 19. Jahrhunderts informieren sollen. In dieser Reform hatte Wilhelm von Humboldt, auch wenn seine eigentliche Amtstätigkeit dabei kurz war, prägenden Einfluss; für die Bildungsvorstellungen, die professionelle Erziehungswissenschaftler haben, gilt die Bedeutung von Humboldt bis heute. Es würde zweifellos viel zu weit führen, wenn an dieser Stelle etwas über die Nationenbildung in Deutschland bzw. Preußen erzählt würde. Aber Sie sollten wissen, dass erst nach der Wende zum 19. Jahrhundert in Preußen eine einheitliche staatliche Verwaltungsspitze für das Schulsystem in Preußen geschaffen wurde. Dies 7
8 geschah nach der Niederlage Preußens gegen Napoleon bei Jena und Auerstädt 1806, als durch verschiedene Reformen das marode Preußen zu einem modernisierungsfähigen Staat umgeschaffen wurde. Ein bedeutender Teil dieser Reformen man kann vielleicht sogar sagen die Spitze war die so genannte Preußische Bildungsreform, die maßgeblich von Humboldts Vorstellungen geprägt wurde. Die staatliche Verwaltungszuständigkeit für die Schule und das Bildungswesen in Preußen wurde erst 1809 mit der so genannten Sektion oder dem Departement für Unterricht und Kultus geschaffen. Dieses Departement war zwar noch kein Ministerium, sondern nur eine Abteilung des Innenministeriums, aber dort waren zum ersten Mal alle Kompetenzen in Bildungs-, aber auch in Religionsfragen für das gesamte Preußen gebündelt. Religion und Klerus hatten im absolutistischen Staat eine besondere Rolle, weil der König formell gleichzeitig oberster Bischof war, insofern lag es nahe, dass in dem Departement des Innenministeriums, das Humboldt für einige Zeit geleitet hat, die beiden Sachbereiche Bildung und Religion zusammengefasst waren. Wilhelm von Humboldt verdankte seine Berufung auf die von ihm weitgehend ungeliebte Stelle, die freilich durch den königlichen Befehl aufgewertet war (Humboldt war schließlich Beamter), übrigens seiner Stellung zur Religion; denn er galt weder als Orthodoxer oder Reaktionär bzw. als allzu progressiver Reformator. [Wenn Sie sich irgendwann einmal gefragt haben, warum das Kultusministerium eigentlich Kultusministerium heißt und nicht Kulturministerium wie in einigen neuen Bundesländern, gewissermaßen in Nachfolge der gottlosen DDR, dann finden Sie in dieser Tradition die Antwort: der Bildungsbereich hatte von jeher zu den geistlichen Angelegenheiten gehört, und so wurden denn beide in einer staatlichen Verwaltungseinheit zusammengefasst.] Erst 1817 ist ein eigenes Kultusministerium geschaffen worden, das noch bis zum Ende des Ersten Weltkriegs für beide Bereiche geistliche Angelegenheiten und Bildung zuständig war. Erst danach, als der preußische König und deutsche Kaiser seine Stellung als oberster Bischof verloren hatte, hörte diese Verbindung von Religion und Schule formell auf, auch wenn sie aus sachpolitischen Gründen viel länger dauerte. Aber dies ist ein weites Feld... 8
9 Soweit ein kurzer Abriss der preußischen Reform. Jetzt etwas über die Person Wilhelm von Humboldts, bevor ich sein Reformwerk darstelle. Er wurde 1767 geboren, übrigens in Tegel. Man kann das Schloss, in dem er geboren wurde und später auch längere Zeit lebte, bis heute besichtigen. Es gehört der Humboldtschen Familie, auch wenn sie nicht mehr diesen Namen führt, bis heute. Wenn Sie sich die Zeit für einen Besuch nehmen, können Sie sich einen sinnlichen Eindruck vom Charakter der preußischen Zeit verschaffen: das Gebäude ist klein, und die fehlende äußere Pracht wird durch aufwendige Malereien ersetzt, die in dem Gebäude mehr vortäuschen, als es selbst darstellt. Daran wird die Verbindung von Anspruch und Askese sehr deutlich, die für das Preußen dieser Zeit sehr typisch war. Allerdings hat Alexander von Humboldt dieses Schloss provokant als Schloss Langeweile bezeichnet, wohl deswegen, weil er die Erziehung seiner Zeit und das Bildungssystem seiner Zeit in Preußen damit karikieren wollte. Wilhelm von Humboldt ist der ältere von zwei Brüdern, den zwei Jahre jüngeren Alexander kennen sie auch seine Statue steht im Vorhof dieser Universität, die übrigens erst 1949 Humboldt-Universität statt nach dem damals regierenden preußischen König Friedrich-Wilhelm-Universität hieß, auch wenn sie 1810 auf Initiative von Wilhelm von Humboldt gegründet worden ist. Dieser jüngere Bruder gehört also ebenfalls zu den Namensgebern dieser Universität. Alexander ist bekannt geworden als Naturforscher und Expeditionsreisender. Man kann darüber streiten, wer von den beiden Brüdern eigentlich der größere und bedeutendere gewesen ist, jedenfalls in der deutschen Geschichte ist Wilhelm von Humboldt sicher einflussreicher gewesen, während Alexander in Frankreich stark gewirkt hat seine Schriften sind bezeichnenderweise auf Französisch erschienen und erst vor relativ kurzer Zeit ins Deutsche übersetzt worden. Im Sommer dieses Jahres ist mit großem Aufwand im Rahmen der von Enzensberger herausgegebenen Anderen Bibliotheken ein Teil dieser Schriften erschienen. Die Humboldt-Brüder sind mit ihrem Hauslehrer den Namen von Campe werden Sie möglicherweise auch schon gehört haben, auch ein bekannter Pädagoge für längere Zeit nach Paris gereist und erlebten dort 1789 den Ausbruch der Revolution mit. In der Folgezeit hat Wilhelm von Humboldt als Privatmann in Tegel, in Spanien und Paris gelebt. Erst 1801 trat er in den preußischen Staatsdienst ein, und zwar auf einen Posten, der politisch nicht sehr bedeutsam war: er wurde preußischer Botschafter beim Vatikan in Rom und blieb dies bis Sein Interesse galt der Philosophie bzw. Philologie und 9
10 Linguistik. Auf Veranlassung des Freiherrn vom und zum Stein, der für die preußische Erneuerung nach der Niederlage sehr bedeutsam war, ist Humboldt dann vom König dazu ausersehen worden, die Führung der neuen Sektion für Unterricht und Kultus zu übernehmen, die er von Frühjahr 1809 bis Sommer 1810 innehatte. Er hat als ein politischer Außenseiter ein Außenseiter aber auch, was das Gebiet der Schule angeht dieses Amt sehr initiativreich geführt; in der kurzen Zeit seines amtlichen Wirkens hat er eine ganze Reihe wichtiger Akte angestoßen, die z. T. erst nach seinem Ausscheiden aus dem Amt realisiert worden sind. Sein Ausscheiden im Jahre 1810 formell aufgrund der ihm vorenthaltenen Befugnisse lag vor allem daran, dass er von vornherein große Distanz zu diesem Amt gehabt hatte. Er wäre sehr viel lieber im diplomatischen Dienst, vor allem Botschafter in Rom, geblieben, wo er seinen Studien hatte nachgehen können ging er dann wieder in den diplomatischen Dienst zurück und war von 1810 bis 1815 preußischer Gesandter in Österreich. In dieser Eigenschaft hat er auch am Wiener Kongress teilgenommen, der eine Neuordnung Europas nach der endgültigen Niederlage Napoleons 1815 brachte. Später war Humboldt dann noch einmal in das Ministerium eingetreten, aber wiederum nur für kurze Zeit. Von 1820, wo er aus dem Staatsdienst endgültig ausschied, bis zu seinem Tode 1835 hat er auf dem väterlichen Schloss in Tegel gelebt, während sein Bruder sich in Südamerika bzw. in Frankreich aufhielt und das gesamte Erbe für seine Forschungen und die Veröffentlichung der Ergebnisse verbrauchte. Alexander musste dann seine Tage als Vorleser des impertinenten Königs Friedrich Wilhelm IV. beschließen dieses Schicksal muss für Alexander schrecklich gewesen sein. Soweit zur Person Wilhelm von Humboldts, der gewissermaßen als Outsider in das bedeutende Amt gelangt war bedeutend für die weitere Entwicklung der deutschen Bildungsgeschichte, weniger von der realen Stellung her, die Wilhelm von Humboldt innerhalb der preußischen Regierung als Geheimer Staatsrat im Innenministerium hatte. Die Franzosen standen noch in Preußen, als Wilhelm von Humboldt sein Amt antrat. Er führte die Amtsgeschäfte zunächst also in Tilsit bzw. Memel, wohin sich der preußische König nach dem Zusammenbruch Preußens zurückgezogen hatte. Humboldts Amtszeit begann also in Ostpreußen und führte ihn erst später nach Berlin. Die ersten Überlegungen, die Humboldt über die Bildungs- und Schulreform anstellte, sind deshalb aus der Auseinandersetzung mit der dortigen Situation 10
11 entstanden. Ostpreußen hatte einen so genannten deutschen Teil, mit der Hauptstadt Königsberg, und einen litauischen Teil in beiden hatte es schon vor Humboldts Amtsantritt Reforminitiativen gegeben, zu denen Humboldt nach seinem Amtsantritt Stellung nahm. Bekannt geworden sind der so genannte Königsberger Schulplan und der Litauische Schulplan. Humboldts Stellungnahmen enthalten in konzentriertester Form die wesentlichen Elemente der neuhumanistischen Bildungsreform, die ja nicht nur die oben genannten und erläuterten Dimensionen, sondern auch die vierte, nämlich die Trennung von Spezial- und Allgemeinbildung, enthalten hat. Deshalb halte ich es für sinnvoll, Ihnen eine längere Passage aus dem Litauischen Schulplan von 1809 vorzulesen; damit komme ich zum dritten Abschnitt der heutigen Vorlesung. 4. Die Frage über die Zulässigkeit abgesonderter Bürger- oder Realschulen scheint weitläufig und schwierig zu erörtern [ ] Alle Schulen aber, deren sich nicht ein einzelner Stand, sondern die ganze Nation oder der Staat für diese annimmt, müssen nur allgemeine Menschenbildung bezwecken. Was das Bedürfnis des Lebens oder eines einzelnen seiner Gewerbe erheischt, muß abgesondert, und nach vollendetem allgemeinen Unterricht erworben werden. Wird beides vermischt, so wird die Bildung unrein, und man erhält weder vollständige Menschen, noch vollständige Bürger einzelner Klassen. Denn beide Bildungen die allgemeine und die specielle werden durch verschiedene Grundsätze geleitet. Durch die allgemeine sollen die Kräfte, d. h. der Mensch selbst gestärkt, geläutert und geregelt werden; durch die specielle soll er nur Fertigkeiten zur Anwendung erhalten. Für jene ist also jede Kenntniß, jede Fertigkeit, die nicht durch vollständige Einsicht der streng aufgezählten Gründe, oder durch Erhebung zu einer allgemeingültigen Anschauung (wie die mathematische und ästethische) die Denk- und Einbildungskraft und durch beide das Gemüth erhöht, todt und unfruchtbar. Für diese muss man sich sehr oft auf in ihren Gründen unverstandene Resultate beschränken, weil die Fertigkeit da seyn muss, und Zeit oder Talent zur Einsicht fehlt. So bei unwissenschaftlichen Chirurgen, vielen Fabrikanten [im damaligen Sprachgebrauch waren das z. T. Arbeiter] u. s. f. Ein Hauptzweck der allgemeinen Bildung ist, so vorzubereiten, daß nur für wenige Gewerbe noch unverstandene, und also nie auf den Menschen zurückwirkende Fertigkeit übrigbleibe. 11
12 Die Organisation der Schulen bekümmert sich daher um keine Kaste, kein einzelnes Gewerbe, allein auch nicht um die gelehrte ein Fehler der vorigen Zeit, wo dem Sprachunterricht der übrige geopfert, und auch dieser mehr der Qualität, als Quantität nach zum äußeren Bedarf (in Erlangung der Fertigkeit des Exponirens und Schreibens) nicht zur wahren Bildung (in Kenntniß der Sprache und des Alterthums) getrieben wurde. Der allgemeine Schulunterricht geht auf den Menschen überhaupt, und zwar als gymnastischer, ästhetischer, didaktischer und in dieser letzteren Hinsicht wieder [ ] nur durch die Form der Sprache rein, sonst immer historisch-philosophisch ist, und historischer auf die Hauptfunktionen seines Wesens. Dieser gesammte Unterricht kennt daher auch nur Ein und dasselbe Fundament. Denn der gemeinste Tagelöhner, und der am feinsten Ausgebildete muß in seinem Gemüth ursprünglich gleich gestimmt werden, wenn jener nicht unter der Menschwürde roh, und dieser nicht unter der Menschenkraft sentimental, chimärisch, und verschroben werden soll. [ ] Sind diese Grundsätze richtig und kommt man nun von ihnen auf die verschiedenen Gattungen der Schulen (Specialschulen immer ganz abgesondert), so ist wieder das erste und wichtigste Princip der Einheit und Continuität des Unterrichts in seinen natürlich Stadien [ ] Als natürliche Stadien aber kann ich nur anerkennen: den Elementarunterricht den Schulunterricht den Universitätsunterricht. Der Elementarunterricht umfaßt bloß die Bezeichnung der Ideen nach allen Arten, und ihre erste und ursprüngliche Classification, kann aber, ohne Nachtheil, in dem Stoff zu dieser Form in Natur- und Erdkenntniß mehr oder minder Gegenstände mit aufnehmen. Er macht es erst möglich, eigentlich Dinge zu lernen, und einem Lehrer zu folgen. Der Schulunterricht führt den Schüler nun in Mathematik, Sprach- und Geschichtskenntniß bis zu dem Punkte wo es unnütz seyn würde, ihn noch ferner an einen Lehrer und eigentlichen Unterricht zu binden, er macht ihn nach und nach vom Lehrer frei, bringt ihm aber alles bei, was ein Lehrer beibringen kann. Der Universität ist vorbehalten, was nur der Mensch durch und in sich selbst finden kann, die Einsicht in die reine Wissenschaft. Zu diesem Selbst-Actus im 12
13 eigentlichsten Verstand ist nothwendig Freiheit, und hülfreich Einsamkeit, und aus diesen beiden Punkten fließt zugleich die ganze äußere Organisation der Universitäten. Das Kollegienhören ist nur Nebensache, das Wesentliche, daß man in enger Gemeinschaft mit Gleichgestimmten und Gleichaltrigen, und dem Bewußtseyn, daß es am gleichen Ort eine Zahl schon vollendet Gebildeter gebe, die sich nur der Erhöhung und Verbreitung der Wissenschaft widmen, eine Reihe von Jahren sich und der Wissenschaft lebe. Übersieht man diese Laufbahn von den ersten Elementen bis zum Abgang von der Universität, so findet man, daß, von der intellectuellen Seite betrachtet, der höchste Grundsatz der Schulbehörde (den man aber selten aussprechen muß) der ist: die tiefste und reinste Ansicht der Wissenschaft an sich hervorzubringen, indem man die ganze Nation möglichst, mit Beibehaltung aller individuellen Verschiedenheiten, auf den Weg bringt, der, weiter verfolgt, zu ihr führt, und zu dem Punkte, wo sie und ihre Resultate nach Verschiedenheit der Talente und Lagen, verschieden geahndet, begriffen, angeschaut, und geübt werden können, und also den Einzelnen durch die Begeisterung, die durch reine Gesammtstimmung geweckt wird, zu Hülfe kommt [...] aus: Humboldt, W. v. Bildung und Sprache, Schöningh, Paderborn Ich will Ihre Aufmerksamkeit zunächst auf das Prinzip der Trennung von allgemeiner und Spezialbildung lenken, das bis zu unserem heutigen Schulwesen, mit der Trennung zwischen allgemeinen und Berufsschulen, erhalten geblieben ist. Zweck der Allgemeinbildung ist die Vorbereitung auf das Leben, die generelle Menschenbildung, während die Spezialschulen genauere Fertigkeiten und Kenntnisse für die Berufsausübung im Erwachsenenleben vermitteln sollen. Humboldt führt hier also eine Trennung ein, die bis zu diesem Zeitpunkt im Schulwesen durchaus nicht selbstverständlich war. Humboldt fand in Preußen nicht nur eine Unmasse von Lateinschulen vor, aus denen erst mit der Preußischen Reform Gymnasien gemacht werden mussten, was wiederum mit einer gewaltigen Verminderung ihrer Zahl verbunden war. Es existierten seinerzeit auch viele Bürgerschulen, die für diejenigen bestimmt waren, die nicht studieren wollten oder konnten, sondern ins praktische Berufsleben strebten. Dazu will ich anschließend noch etwas sagen; es kommt mir aber hier darauf an, dass viele Reformer in der Zeit vor Humboldt diese Trennung zwischen allgemeiner und Spezialbildung nicht 13
14 gemacht haben. Beispiel ist hier neben vielen anderen, den so genannten Philanthropen, etwa Rochow, der als Vater der preußischen Volksschule bezeichnet wird. Auch bei ihm ist zwar zu erkennen, dass er auf Menschen-, d. h. auf Allgemeinbildung abzielt, aber er schreckt keineswegs davor zurück, in seine Schulbücher sein Kinderfreund war bis ans Ende des 19. Jahrhunderts verbreitet auch Inhalte und Kenntnisse mit aufzunehmen, die für die Berufsausübung der Bauern im späten Erwachsenenleben wichtig sind ich nenne nicht nur die Geschichten über den Blitz, sondern auch die naturwissenschaftlichen und agrarökonomischen Inhalte, die in Rochows Lesebüchern eine prominente Rolle spielen. Ich will noch einmal kurz auf die Differenz zwischen Bürgerschulen und Gelehrtenschulen zurückblenden, weil dies eine große Bedeutung für die weitere Schulentwicklung in Deutschland hat. Für Humboldt wie für seine Zeitgenossen insgesamt war es ein großes Problem, den idealen Schulaufbau Elementarschulen, Gelehrtenschulen, Universitäten in der Realität durchzusetzen. Es gab damals die so genannten Bürgerschulen, die wie ich schon erwähnt habe für diejenigen gedacht waren, die nicht zur Universität strebten und auch die Gelehrtenschulen nicht bis zum Ende hatten wahrnehmen können oder wollen, sondern früher ins praktische Berufsleben eintraten und deshalb auch andere Erwartungen an die Schule hatten. Die Ziele dieser Bürgerschulen reichten über die der Elementarschule hinaus und sprachen eine andere Schicht an als diese. Humboldt argumentiert nun, diese Bürgerschulen stünden den Spezialschulen sehr nah, d. h. sie seien immer in Gefahr, mit dem Blick auf spätere Berufsziele das menschliche Maß an Bildung zu verkürzen. Humboldt war skeptisch gegen diese Bürgerschulen und bemühte sich, sie in sein ideales Stufenmodell zu integrieren. Aber das ganze 19. Jahrhundert ist von dem Problem gekennzeichnet, diesem Interesse der Bürger an der Schule Rechnung zu tragen, sowohl was die Institutionen und die Gliederung als auch was die Inhalte, die z. T. als Realien bezeichnet wurden, angeht. Andere wichtige Punkte aus dem Humboldtschen Text, auf die ich Sie noch einmal hinweisen möchte, habe ich der Sache nach bei den ersten drei Dimensionen des Begriffes Bildung genannt. Aber ich denke, für die Veranschaulichung ist der Humboldtsche Text hilfreich. Zum einen geht es um die Inhalte der allgemeinen 14
15 Bildung. Humboldt kritisiert an der bisherigen Schule, sie opfere dem Sprachunterricht alles Übrige, und auch bei diesem gehe es mehr um Quantität als um Qualität. Was ihm dagegen wichtig erscheint, ist die Schulung des Verstandes und die Kenntnis der Ideen und Begriffe. Bei der Sprache geht es für ihn nicht so sehr um die Vermittlung konkreter Inhalte und Kenntnisse, sondern es kommt ihm auf die Kenntnis der Form, die Auseinandersetzung mit der Form der Sprache an, die er für alle menschliche Verstandestätigkeit für grundlegend hält. Nach Humboldts Überzeugung bieten gerade die alten, toten Sprachen aufgrund ihrer Fremdheit und Abgeschlossenheit die Möglichkeit, jenseits aller praktischer Fertigkeiten die Aufmerksamkeit für die Form zu wecken, die Humboldt für das entscheidende Medium der zu vermittelnden Menschenbildung hält. Natürlich war für Humboldt die Antike auch aus inhaltlichen Gründen bedeutsam. Sie verkörperte gewissermaßen das historische Ideal der Menschenbildung und in gewisser Weise kam auch ein nationalistisches Motiv ihm zu Hilfe. Denn die Ablösung von der Dominanz der französischen Sprache, die gerade bisher die Bildung der höheren Stände geprägt hatte, konnte sich in Zeiten der Franzosenherrschaft in Preußen natürlich gut Gehör verschaffen. Man kann auch sagen, es kommt Humboldt mehr auf das Prinzip formaler als das materialer Bildung an, das heißt die Schulung der Verstandeskräfte steht weit vor der Vermittlung konkreter Inhalte bzw. den diesen Feldern zugrunde liegenden Wertprämissen. Auch diese Idee der formalen Bildung ist eine Kategorie, die in Schule und Pädagogik bis heute eine große Rolle spielt. Und man könnte sich fragen, welchen Platz der moderne Sprachunterricht, der sich zunehmend auf die Vermittlung konkreter Sprachfertigkeit im Gegensatz zur Vermittlung grammatikalischen oder linguistischen Verständnisses konzentriert, im Rahmen der Humboldtschen Überlegungen fände. Zum anderen ist ein Punkt, auf den ich Sie aufmerksam machen will, der, dass Humboldt in seinem Plan die Stufen eines Bildungssystems umreißt, das von der Elementarschule bis zur Universität reicht. Es geht ihm darum, die verschiedenen Institutionen der Schule und Bildung auf ein gemeinsames Prinzip zu gründen und für die Einheit des Bildungsprozesses zu sorgen, der in der Elementarschule beginnt und je nach den individuellen Fähigkeiten bis in die Universität führen kann. Der provozierende Satz von dem Tagelöhner, der auch die alten Sprachen lernen soll, enthält u. a. den Anspruch, Bildung wirklich allgemein zugänglich zu machen, 15
16 ausschließlich nach menschlichen Gesichtspunkten, nicht nach solchen der materiellen Stellung und Zielsetzung. Es hat lange gedauert (nämlich bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts), bis diesem Prinzip, dass das Bildungsprogramm der verschiedenen Schularten von Anfang bis Ende vom gleichen Prinzip, nämlich der Wissenschaftlichkeit (zumindest in der Zielperspektive) beherrscht sein soll, im deutschen Schulwesen Genüge getan war und sich durchsetzen konnte. Bis heute sind allerdings deutliche Gegenbewegungen erkennbar. Das macht es so wichtig, dass Sie als künftige Pädagogen etwas von Bildung hören. Nachdem ich ausführlich die einzelnen Gehalte besprochen habe, die im Bildungsbegriff anklingen, will ich an dieser Stelle ganz zum Schluss kurz etwas über die zeithistorische Bedeutung des Bildungsbegriffs sagen. Der Bildungsbegriff, wie ich bereits eingangs erklärt habe, war zwar historisch alt (d. h. auch in der Antike und im Mittelalter findet er sich), aber er konnte sich im heutigen Verständnis erst seit dem 18. Jahrhundert durchsetzen und trägt gewissermaßen emanzipatorische Bedeutungen in sich. Der Bezug zur Französischen Revolution mit ihren Postulaten der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ist unverkennbar und hat das Verständnis von Bildung bzw. die Parteinahme für oder gegen Bildung immer bestimmt. Erklärte Gegner der mit Bildung gemeinten Inhalte ich erinnere an die Überschreitung fest bestimmter Standesgrenzen, aber auch die Infragestellung von Begabungsschranken findet man im Lager der zahlreichen historischen Revolutionsgegner. Und natürlich war es in Deutschland nicht einfach, die egalitären Inhalte von Bildung festzuhalten. Denn in Deutschland bestand bekanntlich bis zum Ende des I. Weltkrieges keine Demokratie. In derartigen politischen Ordnungen erschöpft sich das Ziel der Bildung in der Vermittlung von Verständigkeit für die Wirtschaftsverhältnisse und die gesellschaftliche Herrschaftsordnung. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff Bildungswesen sich erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts durchsetzte. Aber man hatte schon früh und seitdem durchgängig damit zu tun, dass eben dieses Bildungswesen ganz im Gegensatz zu dem emphatischen Begriff Bildung Ungleichheit erzeugte: die unterschiedlichen Schularten und abschlüsse sorgen bis heute für verschiedene Lebenschancen. Und das ist zum Teil auch ihr Zweck. Auch dieses gehört zu dem Unterschied zwischen Bildung und Schule, der in dieser Vorlesung eine maßgebliche Rolle spielt. 16
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