Das Christkind ist unterwegs

Transkript

1 Das Christkind ist unterwegs Nar rat ive Pre digt zur Christ ves per über Joh 3,16 Jörg Prahler Also hat Gott die Welt ge liebt, dass er sei nen ein ge bo re nen Sohn gab, da mit alle, die an ihn glau ben, nicht ver lo ren wer den, son dern das ewi ge Le ben haben. (Joh 3,16) Es ist kurz vor Weih nach ten Dies war das Jahr, wo Jens noch der Neue von Inka war. Nicht ihr Freund oder ihr Mann oder ein fach nur 101

2 Jens das soll te al les erst noch kom men. Kurz vor Weih nach ten 1993, üb ri gens auch das letz te Jahr, wo Jens und Inka ge trennt von ei nan der fei ern wür den, aber ganz so wich tig war das auch nicht. In je dem Fall war Jens noch eif rig be müht, bei der Fa mi lie Kleinschmidt ei nen gu ten Ein druck zu ma chen. Er half mit, den Baum auf den Stän der zu brin gen, und er kroch auf dem Dach bo den um her, um die Kis ten mit dem Weih nachts kram nach un ten zu ho len. Papa Kleinschmidt hat te es näm lich an der Hüf te, und die Frau en ekel ten sich vor den Spinnen. Drei Kis ten galt es da zu ber gen. Ein mal Ku geln und La met ta. Noch mal Ku geln und La met ta und dann eine Kis te mit der Weih nachtskrip pe und al lem mög li chen Zeug, das um Weih nach ten he rum bei den Kleinschmidts die Fensterbänke zierte. Den Baum zu schmü cken, ließ Papa Klein schmidt sich nicht nehmen trotz Hüf te. Da Jens mit sei ner Hilfs be reit schaft nicht lo cker ließ, durf te bes ser muss te er die Krip pe ent stau ben. Ei gens da für wur de er in den Hob by kel ler ge schickt, um ei nen Pin sel mit lan gen, weichen Borsten zu holen. Die Krip pe war ein Pracht stück und of fen sicht lich schon et li che Jah re alt. Der Stall war aus rich ti gen klei nen Bal ken zu sam men ge setzt; das Dach war aus Rei sig, mit Zwirn be fes tigt. Vor ne dran ein ge schweif ter Stern aus Gold blech. Die Krippenfiguren waren groß, offensichtlich handgeschnitzt, sorgfältig an ge malt und klar la ckiert. Hier und da wa ren sie ein we nig an gesto ßen, was ih rer Pracht aber kei nen Ab bruch tat. Eher mach te es sie noch ein we nig ed ler. Jens küm mer te sich um die hei li gen drei Kö ni ge aus dem Mor gen land und dann um de ren Ka me le. Er po lier te vier Hir ten auf und et li che Schafe. Besondere Sorgfalt widmete er einem wirklich hübschen Engel, der mit ei nem Draht von ei nem Ha ken im Dach des Stalls he rab baumel te. Und dann gab es da noch Jo sef, schon et was be tagt, mit ei nem Stab, gesenktem Blick und einer nachdenklichen Miene. Und Maria, an mu tig, rein und doch ir gend wie fesch und hübsch an zu se hen. Jede Fi gur, die Jens aus der Kis te nahm und vor sich tig mit dem Pin sel von Staub und klei nen Res ten von Holz wol le rei nig te, stell te er dann an ih ren an ge stamm ten Platz in und um den Stall von Beth le hem. 102

3 So merk te er so fort, dass et was fehl te. Der Kar ton war bis auf die Holzwol le leer und aus ge packt, aber ei ner fehl te. Je sus war nicht da. Ma ria und Jo sef starr ten auf ei nen Punkt im Stall, an dem kei ne Krip pe stand. Die drei hei li gen Kö ni ge bo ten Gold, Weih rauch und Myr re ei nem leeren Fleck in dem En semb le dar. Und auch die Hir ten be te ten an dachtsvoll ein gro ßes Nichts an. Nur der En gel schweb te un ge rührt über al lem. Jens tas te te noch ein mal den gan zen Kar ton mit der Holz wol le durch, such te, spür te, fand je doch nichts. Ei ni ger ma ßen rat los ging er zu Herrn Klein schmidt. Der mach te so wie so grad eine Pau se.»ich glau be, ich kann das Christ kind nicht fin den«, sag te Jens.»Hm«, sag te Herr Kleinschmidt,»das Christ kind ist un ter wegs.«jens muss te ziem lich be lämmert ge guckt ha ben:»da ist mein Va ter dran schuld«, sag te Herr Kleinschmidt er klä rend.»ach, setz dich hin und nimm dir n Bier.«Und dann fing Va ter Klein schmidt an zu er zäh len. Die Krip pe war ein altes Familienerbstück. Sein Opa Wilhelm, also Inkas Uropa, hatte die Krip pe, den Stall und alle Fi gu ren ir gend wann in den 1920er Jah ren kom plett mit Christ kind und al lem sel ber ge baut. Und ge nau pünktlich zu die sem Weih nach ten, als die Krip pe ein ge weiht wer den soll te, muss te In kas Opas Hein rich, also Herrn Klein schmidts Va ter, mit einem ent zün de ten Blind darm ins Kran ken haus. Fünf Jah re war er da alt. Nun wur de da mals im Kran ken haus streng auf die Be suchs zei ten geach tet. Pünkt lich um sechs abends muss ten alle Be su cher raus, und wenn die Welt un ter ging. Egal ob sie ih ren fünf jäh ri gen Sohn be su chen woll ten. Egal, ob Hei lig abend war oder nicht. Als nun der Hei lig abend kam, war es für die Fa mi lie be son ders schwer. Na tür lich woll te der klei ne Hein rich zu Hau se sein, den Weih nachtsbaum se hen und so wei ter und so fort. Aber sei ne El tern hat ten vorge sorgt: Er be kam Weih nachts stol len und ei nen bun ten Tel ler an sein Bett ge stellt. Und die klei ne, neu ge schnitz te Krip pe aus dem Stall von Bethlehem mit dem Jesuskind drin.»da hast du das Wich tigs te von Weih nach ten. Den Je sus. Der ist bei dir. Der passt auf dich auf«, sag te sein Va ter. Und ob gleich die Trä nen flos sen, war es doch ein ge wis ser Trost. Und es ent sprach ja auch der Weihnachtsbotschaft in gewisser Weise: Jesus war zu den Menschen ge kom men, sie zu ret ten und zu be wah ren. Trös ten konn te er auch. Und er sprach un ent wegt von Got tes gro ßer Lie be. Das soll te Hein rich durch die Hei li ge Nacht brin gen. Tat es dann auch. 103

4 Noch zwei Wo chen muss te der Jun ge auf der Sta ti on lie gen. Es war längst Januar, als die Eltern seine Sachen zusammenpackten, um ihn mit nach Hau se zu neh men.»wo ist denn der Je sus?«, frag te Wil helm Klein schmidt, als sie bei na he alles zusammengetragen hatten.»das Christkind ist unterwegs«sagte Hein rich ein we nig schuld be wusst. Und die sen Satz muss te er er klä ren. Da war näm lich ein Jun ge ge we sen, Ri chard Kor ittke, auch im Kranken haus, der hat te die gan ze Nacht vor Heim weh wei nen müs sen, da habe Hein rich ihm das Christ kind aus ge lie hen, ge gen die größ te Not. Aber er wür de es wie der be kom men, ganz be stimmt. Lei der war Richard Kor ittke vor vier Ta gen ent las sen wor den. Wil helm Klein schmidt be kam sehr erns te Au gen, woll te mit sei nem frisch ge sun de ten Kind aber auch nicht all zu stren ge sein. Aber sie ließen sich von ei ner Kran ken schwes ter die Ad res se ge ben, und schon am nächs ten Tag fuhr der Va ter mit dem Fahr rad und dem Soh nemann auf dem Ge päck trä ger durch die gan ze Stadt dort hin, wo die Korittkes wohnten. Der Ri chard war ein bläss li cher Jun ge mit schie fen Zäh nen und mit ab ste hen den Oh ren. Es war ihm sicht lich pein lich, aber auch er hat te das Christkind schon weitergegeben. Eine alte Frau aus seiner Straße hat te so sehr Rotz und Was ser ge heult, weil ihr Sohn sie aus Nien burg mit in den Ruhr pott neh men woll te, wo er Ar beit hat te, sie aber kei ne Menschenseele kannte. Da hatte der Richard gedacht, das Christkind könn te auch gut der al ten Frau zur Sei te ste hen. Da war es weg, das Christ kind, auf wei ter Rei se. Und der alte Wil helm Klein schmidt sag te kein Wort, und der klei ne Hein rich blieb auch besser still. Und sie fuh ren wie der bei de mit dem Fahr rad zu rück nach Hau se ohne Christ kind. Beim nächs ten Weih nach ten fehl te die Krip pe mit dem Christ kind im Stall. Der alte Wil helm hat te sich aus pu rem Trotz ge wei gert, eine neue zu schnit zen. Soll te der Jun ge doch auf den lee ren Platz in der Mit te schauen und ein schlechtes Gewissen dabei bekommen. Heinrich und sei ne Mut ter aber mach ten aus der Not eine Tu gend und dach ten sich Ge schich ten aus, wo das Christ kind jetzt un ter wegs sein könn te, um Gu tes zu tun für arme Men schen. Und der Ge dan ke ge fiel ih nen richtig gut. 104

5 So kam es, dass auch im nächs ten Jahr und auch da nach über haupt kein neu es Je sus kind mehr ge schnitzt wur de. Es war ja nicht ein fach nicht da, son dern der klei ne Je sus war bloß un ter wegs un ter den Men schen, um hier und da sein gu tes Werk zu ver rich ten. Ei nen zwei ten Je sus hinter her zu schnit zen wäre ih nen fast wie ein Ver rat vor ge kom men. Und nun, so vie le Jah re spä ter saß Jens, der Neue von Inka, zu sam men mit Va ter Klein schmidt vor dem Stall die ser Fa mi lie, in dem aus gu ten Grün den die Krip pe fehl te, und es schien ihm al les sehr ver nünf tig und über alle Ma ßen weih nacht lich zu sein. Und Va ter Klein schmidt dach te noch:»viel leicht ist In kas Neu er doch gar nicht so ein ol ler Stie sel wie der Letzte.«Und wie der gin gen die Jah re ins Land. Jens und Inka ha ben in zwi schen ge hei ra tet und sage und schrei be drei Kin der zu stan de ge bracht. Sie woh nen in ei nem Dorf dicht bei It ze hoe. In zwi schen fei ern sie sel ber Hei lig abend in ih rer ei ge nen Woh nung, Jens darf be stim men, wie der Baum zu schmü cken ist. Und Va ter und Mut ter Klein schmidt kom men an Weih nach ten zu Be such. Und den Stall von Beth le hem, den ohne Krippe, haben sie auch heraus gerückt, allein der Enkelkinder wegen. Doch noch ist erst Sep tem ber, und an Weih nach ten denkt da noch keiner. Viel mehr geht Jens mit den bei den Klei nen und der Gro ßen ein biss chen hin und her im Park, weil dort ein Floh markt ist. Die Kin der wan deln ihr Er spar tes um in CDs, Com pu ter spie le, alte Puz zles und in Di no sau ri er. Und Jens stellt sich vor, wie sie nach her alle eine Pommes es sen. Da sieht er so ne ben bei an ei nem Stand zwi schen al lem Plun der eine schöne alte, handgeschnitzte Krippe mit einem niedlichen Jesuskind. Ein sam und al lein steht sie da, ohne die sonst bei Krip pen kin dern zu er war ten de Ge sell schaft. Und pas sen, pas sen wür de sie ge nau von der Mach art und vom Al ter und von der Grö ße!»Entschuldigen Sie, wo haben Sie diese Krippenfigur her? Was wissen Sie da rü ber?«fragt er die Händ le rin. Und er ist da bei sehr auf ge regt und er könn te fast wet ten, dass die ses Je sus kind aus Es sen kommt oder meinetwegen Gelsenkirchen aus dem Nachlass einer alten Frau, die von ih rem Sohn ge nö tigt wur de weg zu zie hen aus Nien burg vor vielen, vie len Jah ren. Und die da rü ber un glück lich war und doch ge trös tet wurde Doch die Händ le rin sagt nur:»kei ne Ah nung, aber für vier Euro können Sie das Christ kind det al let sel ber fra gen!«105

6 Und Jens zahlt den Preis und steckt sich den klei nen Je sus in die Tasche, und für ihn ist das ein gro ßer Au gen blick.»da wird Inka aber Au gen ma chen, dies Jahr Weih nach ten.«und froh ge launt geht er mit sei nen drei Kin dern zur Im biss bu de rü ber. Und er fragt sich: Soll ich ihr das gleich er zäh len, oder soll das Weih nach ten ne Über ra schung wer den, dass das Christ kind wie der da ist? Und wie er da so steht mit sei ner Pommes und sich al les aus malt, da hört er ne ben bei, was die Im biss frau da mit ei ner Be kann ten zu bespre chen hat. Dass das ihr letz tes Wo chen en de ist. Dass ihr ge kün digt wur de. Und dass ihr nur noch zum Heu len ist, weil das Geld an al len Ecken und En den fehlt. Und wenn sie die Mie te nicht zah len kann am liebs ten wür de sie in Sack hau en oder du weißt schon was. Und ir gend wie kann Jens nicht fas sen, was da ge ra de pas siert, und er langt in sei ne Ta sche und holt den klei nen Je sus raus und stellt ihn vor sich auf den Tre sen.»ent schul di gen Sie, wenn ich mich ein mi sche, aber ich will ih nen mal die Ge schich te von die ser Krip pen fi gur er zählen.«und er holt weit aus und er zählt al les, was er weiß so lan ge, bis schließ lich die Kin der quen geln. Wil helm Klein schmidt, Hein rich, Richard Kor ittke und die alte Frau, die in das Ruhr ge biet zie hen muss te, wer weiß wie vie le an de re Men schen noch, die in Ängs ten und Nö ten wa ren. Alle ge trös tet, wie der auf ge rich tet von die sem Je sus, der zu und mit den Men schen un ter wegs ist. Wenn es denn die glei che Krip pen fi gur ist wie da mals! Aber im Prin zip ist es völ lig wurscht, ist eh mehr sym bo lisch zu ver ste hen die se Fi gur, meint er. Je sus nicht, denn der ist echt und wirk lich und wahr haf tig. Und der ist doch in echt die Ga ran tie da für, dass es im mer noch ei nen letz ten Halt und eine letz te Hoff nung gibt. Und ei nen Gott, der kei nen Menschen auf gibt, egal wie das Le ben so spielt. Und dass man doch bes ser glau ben soll und hof fen und kämp fen, als in den Sack zu hau en. Und am Schluss sagt er: Wenn sie ihn nicht für ei nen komp let ten Spin ner hal ten wür de und wenn ihr das ir gend wie hel fen wür de, dann wür de er ihr jetzt die sen klei nen Je sus schen ken. So zur Er in ne rung an das Ge spräch. Und als Hoff nung, dass es wei ter geht, weil Gott es weitergehen lässt. Und sie lä chelt ver le gen, auch ein we nig un gläu big. Und dann steckt 106

7 sie den klei nen Je sus in ihre Kit tel ta sche und Jens braucht sei ne Pommes nicht zu be zah len. Und erst spä ter im Auto wird ihm klar, was er da ge ra de ge re det hat. Und es ist mehr ein Ge fühl als ein kla rer Ge dan ke, dass ge ra de eben Je sus da ge we sen ist. Und nun ist er wie der un ter wegs und das ist ein zutiefst befriedigendes Gefühl.»Wen er wohl als nächstes besuchen wird?«jens hat kei ne Ah nung, und mög lich ist al les. Also hat Gott die Welt ge liebt, dass er sei nen ein ge bo re nen Sohn gab, da mit alle, die an ihn glau ben, nicht ver lo ren wer den, son dern das ewi ge Le ben ha ben.