Frank Wedekind und die Sexualwissenschaft der frühen Moderne Struktur und Funktion erotischer Normverstöße
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- Luisa Beutel
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1 Anja Manneck, Literaturwissenschaftlerin (StR in), Frank Wedekind und die Sexualwissenschaft der frühen Moderne Struktur und Funktion erotischer Normverstöße Frank Wedekind ( ) gehört zu den meistgespielten Dramatikern der Frühen Moderne ( ). In dieser Zeit erwacht das Interesse für die menschliche Psyche und Sexualität, was zu einer Erweiterung des Personenbegriffs im literarischen System führt und gleichzeitig die Sexualwissenschaft und Psychologie als eigenständige Disziplinen etabliert. So sind auch in Wedekinds Texten sexuelle Diskurse allgegenwärtig. Parallelen zu den Theorien zeitgenössischer Sexualwissenschaftler, wie Freuds Ödipuskomplex, zeigen die Verankerung des sexualwissenschaftlichen Gedankenguts im kulturellen Kontext der Zeit. Zu nennen sind ferner bekannte Namen wie Richard von Krafft-Ebing und Magnus Hirschfeld. Die Liste ließe sich beliebig lang fortsetzen. Die Darstellung männlicher Sexualität gestaltet sich bei Wedekind partiell abweichend zum sexualwissenschaftlichen Diskurs. Freier wenden sich an Prostituierte auf der Suche nach geistiger Liebe statt nach Sex, Zuhälter halten den Beruf der Prostituierten für die eigentliche Befreiung der Frau, positiv bewertete Sexualität spielt sich außerhalb der Gesellschaft ab und liegt nicht in erster Linie im Sexualakt, sondern in den Machtstrukturen begründet. Erwachsene männliche Sexualität ist dabei von einer heteronormativen Geschlechterdichotomie geprägt und kann daher nicht (gänzlich) separiert betrachtet werden. Zunächst werde ich erotische Normverstöße für den literarischen Kontext definieren und ihre Funktion erläutern. Dann zeige ich die Verankerung des sexualwissenschaftlichen Gedankengutes im kulturhistorischen Kontext an der Kindertragödie Frühlings Erwachen aus dem Jahr 1891 auf. Während Frühlings Erwachen die gesellschaftliche Haltung spiegelt, beschäftigt sich Tod und Teufel aus dem Jahr 1906 mit der außergesellschaftlichen Existenz von Sexualität am Beispiel von Prostitution und Sadomasochismus. Auf dieses Stück gehe ich abschließend ein. Anstatt sich mit dem, was gemeinhin als Norm galt, zu beschäftigen, wurde diese meist ausgespart und ex negativo über die Normverstöße dargestellt. Während für Krafft-Ebing noch die Kongruenz von Geschlecht und Geschlechterrolle für ein normales Individuum notwendig war, beginnen seine Nachfolger hier zu differenzieren, wobei die Kategorisierung in typische Geschlechtscharaktere noch lange als Gerüst erhalten bleibt und so für Widersprüche in der Argumentation sorgt.
2 Krafft-Ebing definiert pervers = krank folgendermaßen: Als pervers muss bei gebotener Gelegenheit zu naturgemässer geschlechtlicher Befriedigung jede Aeusserung des Geschlechtstriebes erklärt werden, die nicht den Zwecken der Natur, i. e. der Fortpflanzung entspricht. 1 Sexualität ist also nur normal, wenn sie in den Dienst der Fortpflanzung gestellt wird, und bezieht sich damit auf heterosexuellen Geschlechtsverkehr mit der Einschränkung allerdings, dass die Möglichkeit dazu bestehen muss. Freud behält später den Begriff pervers bei, wobei nicht mehr zwangsläufig jeder perverse Akt gleichzeitig krank ist, das Krankhafte liegt für Freud in der Fixierung und der Ausschließlichkeit. Die Differenzierung in noch so abwegige erotischen Normverstöße, wie Nekrophilie oder Zopfabscheider, zeigt einerseits den Wunsch nach Beschäftigung mit der Sexualität, andererseits aber auch den fehlenden Mut, sich mit der tatsächlich gelebten Sexualität auseinandersetzen, wie Kinsey es Mitte des 20. Jahrhunderts tut. So gab es bis Ende des 18. Jahrhunderts nur die Opposition menschlich vs. viehisch und natürlich vs. unnatürlich, also die Abweichung von dem, was die Gesellschaft als normales Sexualverhalten betrachtete, und die Norm, wobei sich niemand für das interessierte, was wirklich hinter der Schlafzimmertür passierte. Diese Begrifflichkeiten engten sich in den folgenden hundert Jahren immer mehr ein: normal vs. pervers/abnorm und lustvoll vs. lustlos. Abweichungen wurden zunehmend als krankhaft betrachtet, was dem Mensch die Verantwortung für sein Verhalten abnahm. Ein Normverstoß bedeutet im literarischen Kontext einen Verstoß gegen die vom Text präsentierte Norm. Dieser ist in der Frühen Moderne häufig erotischer Natur, kann aber auch sozial, juridisch, etc. sein und wird innerhalb des Literatursystems entsprechend bewertet oder sanktioniert. Die Norm kann von den Normen des kulturhistorischen Kontextes abweichen, muss es aber natürlich nicht. Es kann auch sein, dass der Text das Normsystem einer Gesellschaft präsentiert, dieses Normsystem aber klar abwertet oder ad absurdum führt. Dies ist bei Wedekind in der Regel der Fall. Die Funktion der Normverstöße variiert: Einerseits können Normverstöße sanktioniert werden und dienen dazu, das Scheitern einer Figur zu begründen. Andererseits können sie auch zur Aufwertung einer Figur dienen. Diese erreicht dann so genanntes emphatisches Leben, ein aufgewertetes Leben, das durch eine Grenzüberschreitung erreicht werden kann und positiv bewertet ist. Der Status der Figur verändert sich dann von L+/[-] zu L+/[+]. Häufig ist emphatisches Leben nur kurzzeitig und an einen semantischen Raum gebunden. 1 Krafft-Ebing (1997: 68).
3 Frühlings Erwachen gehört zu den bekanntesten Werken Wedekinds, wurde aber erst 15 Jahre nach seiner Entstehung in einer zensierten Fassung uraufgeführt. Das Kernproblem und Hauptthema des Stückes ist die fehlende sexuelle Aufklärung der pubertierenden Protagonisten. Die Hauptfiguren sind die 14-jährige Wendla Bergmann sowie die etwa gleichaltrigen Moritz Stiefel und Melchior Gabor. Zwischen der unaufgeklärten Wendla und Melchior kommt es zu zwei erotisch aufgeladenen Begegnungen in der Natur, bei der zweiten auch zum Geschlechtsverkehr. Wendla wird schwanger und stirbt an den Folgen eines Abortes. Melchior Gabor hat sich selbst aufgeklärt und klärt auch Moritz auf, der mit seiner erwachenden Sexualität nicht zurecht kommt. Als ihm auch noch das Sitzenbleiben droht, erschießt er sich. Während Melchior von seiner Mutter bestärkt wird, sich Informationen zur Fortpflanzung zu beschaffen, fragt sich Moritz, was eigentlich mit ihm los sei. Melchior verfasst die Aufklärungsschrift Der Beischlaf für ihn, die nach Moritz Suizid in seinem Besitz gefunden wird und für Melchiors Schulverweis sorgt. Bei den Mädchen, denen der Zugang zur Bildung verwehrt bleibt, ist die Unkenntnis noch deutlicher. Einzig Ilse, die als Malermodell in der Bohème verkehrt und ihren Lebensunterhalt vermutlich auch mit Prostitution verdient, präsentiert außerhalb der Gesellschaft positive und freie Sexualität. Die Kindertragödie endet also nicht weniger tragisch, nur weil ihre Protagonisten Kinder, heute würde man wohl Teenager sagen, sind. Wendla und Moritz verlieren ihr Leben, Melchior sein Urvertrauen, seinen besten Freund und sein Kind. Die in Frühlings Erwachen gezeigten erotischen Normverstöße sind vorehelicher Geschlechtsverkehr, Sadismus und Masochismus, Prostitution und Promiskuität, Onanie und Voyeurismus sowie männliche Homosexualität. Diese erotischen Normverstöße werden nur von der dargestellten Gesellschaft als solche gedacht der Text kennzeichnet sie klar als Spielarten einer erwachenden Sexualität; sie lassen sich überwiegend der Transitionsphase zuordnen. Dieses Experimentierverhalten wird besonders bei der Nebenfigur Hänschen deutlich. Hänschen wird einmal onanierend auf der Toilette gezeigt und einmal, als er mit Ernst in den herbstlichen Weinbergen sitzt und beide sich küssen. Seine Zukunftsvorstellungen erinnern an das Interieur eines zeitgenössischen Bordells. Wenn sich sein Sexualverhalten derart manifestiert, kann er als Opportunist betrachtet werden, der mitnimmt, was ihm die Sexualität an Genüssen bietet, und sich dabei nicht an gesellschaftliche Konventionen hält. Ob sein Verhalten allein der Transitionsphase zugeschrieben ist oder sich sein Sexualverhalten sich manifestiert, lässt der Text offen.
4 Moritz dagegen erweist sich als nicht lebensfähig. Er kann mit seiner Sexualität nicht umgehen, ebenso wenig wie er sich von den intuitiv aufgenommenen Gesellschaftsnormen lösen kann. Als ihm Ilse Sex anbietet, lehnt er ab, nur um dies wenig später zu bedauern. Statt Erotik wählt er den Tod und erschießt sich. Diese zwei Seiten der Medaille des Lebens finden sich in verschiedenen Kombinationen in den Wedekindschen Texten immer wieder. Melchior ergründet seine Sexualität mit naturwissenschaftlicher Herangehensweise und wird dann doch von ihr übermannt. Als Wendla von ihm wieder und wieder fordert, sie zu schlagen, kann er nicht mehr an sich halten und schlägt auf sie ein, sodass sie schreiend davon läuft. Der in ihm angelegte Sadismus zeigt sich bereits zuvor in einer Traumsequenz, in der Melchior träumt, er schlüge seinen Hund. Wendla dagegen imaginiert sich in Szenen, in denen sie leidet. Beim Zusammentreffen beider in der Natur, die hier als außergesellschaftlicher Raum fungiert, entlädt sich diese Spannung. Dass männlicher Sadismus passiv ist, wird hier erstmals angedeutet. Als es zwischen Wendla und Melchior zum Geschlechtsverkehr kommt, wird der Kontrollverlust, den beide erleiden, abermals deutlich. Ob diese Szene als Vergewaltigung gewertet werden kann, bleibt fraglich. Einerseits ist Melchior der Verantwortliche, da er im Gegensatz zu Wendla aufgeklärt ist, um die möglichen Konsequenzen weiß und gegen Wendlas anfängliche Abwehr handelt. Andererseits ist er ebenfalls ein Opfer, schließlich hat ihn die Gesellschaft den Umgang mit Sexualität nicht gelehrt, ihm dieses Wissen geradezu verweigert. Aus dieser Sequenz lässt sich ein für Wedekind grundlegendes Schema ableiten: Männliche Figuren sind, dem zeitgenössischen Gedankengut folgend, in der Regel sadistisch, weibliche Figuren als Pendant dazu masochistisch. Im Gegensatz zu den üblichen Geschlechterrollen sind männliche Figuren allerdings nicht aktiv, sondern passiv und benötigen die Präsentation des weiblichen Masochismus, um aktiviert zu werden. Der Sadomasochismus unterwandert, ebenso wie Homosexualität, die bürgerlichen Geschlechterrollen und ist daher nicht nur besonders häufig Gegenstand der Literatur, sondern auch der Forschung. Freud sieht im Sadomasochismus die Übersteigerung des jeweiligen Geschlechtscharakters, da es ihn in einer aktiven (Sadismus) und einer passiven (Masochismus) Variante gibt. Die Homosexualität dagegen führt die Geschlechtscharaktere ad absurdum. Dies zeigt sich beispielsweise im immer wiederkehrenden und bis heute erhaltenen Versuch, bei einem homosexuellen Paar einen Mann und eine Frau auszumachen.
5 Noch deutlicher lässt sich diese Unvereinbarkeit von positiver Sexualität und der Gesellschaft an Tod und Teufel (Totentanz) aus dem Jahr 1906 zeigen. Die unverheiratete Frauenrechtlerin Elfriede von Malchus, Mitglied des Internationalen Vereins zur Bekämpfung des Mädchenhandels, kommt in ein Bordell, um Lisiska, ehemaliges Hausmädchen im Hause der Malchus, zu befreien. Dort trifft Elfriede auf Marquis Casti Piani, den Zuhälter, der ihr eine andere Sicht auf Prostitution erklärt: So könnten Frauen finanziell unabhängig agieren und müssten sich außerdem nicht mehr vor unehelicher Mutterschaft fürchten. Um seine These zu beweisen, lässt er Elfriede das Gespräch zwischen Herrn König, einem Freier, und Lisiska mit anhören. Dieses Gespräch bringt allerdings nicht nur für Elfriede, sondern auch für Casti Piani eine unerwartete Wendung: Lisiska erklärt Herrn König, der unschuldig und sexuell unerfahren zu sein scheint, dass sie von ihm geschlagen werden will und dies nicht nur ihr, sondern auch ihm Lustgewinn bringt. Casti Pianis Betrachtungen zur weiblichen Sexualität und damit sein Weltbild werden so zunichte gemacht er erschießt sich. Für Herrn König und Elfriede kommt Lisiskas Vorstellung aber einer Offenbarung gleich: Für beide bietet sich die Möglichkeit, Lisiskas Weltbild zu übernehmen. Die Figuren lassen sich wieder in männlich, passiv, sadistisch vs. weiblich, aktiv, masochistisch einteilen. Dies hängt mit der Zugehörigkeit einer Figur zu einem Raum und dem Status ihres Lebens zusammen: Innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft fristen sowohl Elfriede als auch Herr König ein unbefriedigtes Dasein. Beide begehen eine für sie legitimierte Grenzüberschreitung, indem sie das Bordell betreten. Für den Freier Herrn König handelt sich es sich bei der Grenze zwischen den Räumen Gesellschaft und Nicht-Gesellschaft um eine Grenze, die zunächst ohne Konsequenzen überschritten werden kann. Elfriede ist in ihrer Mission, Lisiska zu retten, unterwegs. Damit ist ihre Grenzüberschreitung legitmiert. Beide Figuren führten bis dato ein nicht-emphatisches, also ein nicht-aufgewertetes Leben. Während für Elfriede die Position Casti Pianis als Vorbereitung auf Lisiskas Haltung notwendig war, um Lisiskas Position überhaupt anzuhören, genügt für Herrn König Lisiskas Forderung nach Schlägen. Das zeigt auch die Loslösung des erotischen Lustgewinns vom reinen Sexualakt hin zum Ausleben von Machtstrukturen. Wenn der sadomasochistische Akt zwischen Herrn König und Lisiska vollzogen wird, erreichen beide emphatisches Leben. Lisiska wünscht sich jedoch nicht nur Schläge, sondern sogar dadurch zu sterben. Daraus ergibt sich eine Variante des Lustmordes. Zunächst wird beim Lustmord von der Lust des Täters ausgegangen. Diese liegt hier aber nicht in erster Linie vor und stellt damit eine Sonderrolle im Literatursystem der Frühen Moderne dar. Es wird nicht nur ein
6 emphatisches Leben möglich, durch die richtige Todesart ist für weibliche Figuren sogar ein emphatischer Tod als maximales emphatisches Leben möglich. Viele der beschriebenen Strukturen lassen sich auf andere Texte Wedekinds übertragen. Es zeigen sich asexuelle oder wenigstens sexuell unerfahrene Freier, häufig Künstler, auf der Suche nach geistiger Liebe, die auf masochistische Prostituierte treffen. Dabei spielt das Bordellmilieu eine wiederkehrende Rolle. Die männlichen Figuren werden dezidiert nicht als Wollüstlinge" dargestellt, sondern erst durch gebetsmühlenartige Forderungen und Erklärungen in ihre sadistische Rolle gedrängt. Dass Liebe und Leiden, Eros und Thanatos bei Wedekind zusammengehören, zeigen zudem die verschiedenen Lustmord- Variationen. In Lulu, dem zweiten sehr bekannten Text Wedekinds, tritt sogar der historische Serienmörder Jack the Ripper auf die Bühne, um die Protagonistin zu töten. Das Genießen des Lustmordes durch das vermeintliche Opfer sucht aber im Literatursystem der Frühen Moderne seines gleichen. Literatur (Auswahl): - Wedekind, Frank ( ): Werke. Kritische Studienausgabe in acht Bänden mit fünf Doppelbänden. Hrsg. unter der Leitung von Elke Austermühl/Rolf Kieser/ Hartmut Vinçon. Darmstadt: Verlag Jürgen Häusser. - Freud, Sigmund ( ): Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie [ ]. Einleitung von Reimut Reiche. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch. - Krafft-Ebing, Richard von (1997): Psychopathia sexualis. Mit besonderer Berücksichtigung der konträren Sexualempfindung [ ]. München: Matthes & Seitz. - Weininger, Otto (1980): Geschlecht und Charakter[1903]. München: Matthes & Seitz. - Sigusch, Volkmar (2008): Geschichte der Sexualwissenschaft. Frankfurt/Main: Campus- Verlag. - Wünsch, Marianne (1990): Regeln erotischer Beziehungen in Erzähltexten der Frühen Moderne und ihr theoretischer Status. S In: SPIEL. Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft, 9,1 Frankfurt am Main, Berlin, Bern, [u. a.], Wien: Lang.
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