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- Inge Hertha Schenck
- vor 6 Jahren
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2 5 Inhalt 1. Leben und Persönlichkeit Vom Trauma zur Fantasie Die Erforschung der Vergangenheit Freie Assoziation, Träume und Übertragung Ich, Über-Ich und Es Aggression, Depression und Paranoia Witze und die Psychopathologie des Alltagslebens Kunst und Literatur Kultur und Religion Freud als Therapeut Psychoanalyse heute Die Anziehungskraft der Psychoanalyse Weiterführende Literatur Register
3 45 Kapitel 3 Die Erforschung der Vergangenheit Die frühkindliche Sexualentwicklung Freuds Abkehr von der Verführungstheorie änderte nichts an seiner Überzeugung, dass Neurosen mit einer Störung der sexuellen Funktion in Zusammenhang standen und ihren Ursprung in den frühesten Jahren der Kindheit hatten. Doch statt sich weiter auf traumatische Ereignisse zu konzentrieren, wandte er sich der Untersuchung der sexuellen und emotionalen Entwicklung von Kindern zu und vertrat die Theorie, dass die spätere Neurose durch eine Störung in der frühkindlichen Sexualentwicklung verursacht wurde. Er selbst schrieb: Ahnt uns so die Formel, dass die Neurotiker den infantilen Zustand ihrer Sexualität beibehalten haben oder auf ihn zurückversetzt worden sind, so wird sich unser Interesse dem Sexualleben des Kindes zuwenden, und wir werden das Spiel der Einflüsse verfolgen wollen, die den Entwicklungsprozess der kindlichen
4 46 Kapitel 3 Sexualität bis zum Ausgang in Perversion, Neurose oder normales Geschlechtsleben beherrschen. (Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie) In Einklang mit seiner Forderung, dass die psychologischen Prozesse wann immer möglich in Bezug auf ihre organischen Grundlagen beschrieben werden sollten, stellte Freud die körperlichen Lustzentren in den Mittelpunkt seiner Beschreibung der Phasen der frühkindlichen Sexualentwicklung und nicht etwa andere Aspekte wie Wahrnehmung, Kognition, Lernen oder Bindung. Im ersten Lebensjahr steht seiner Ansicht nach der Mund im Zentrum der Bedürfnisbefriedigung des Kleinkinds, weshalb er von der «oralen Phase» spricht. Zwischen dem Ende des ersten und dem dritten Lebensjahr übernimmt die Analregion diese Funktion. Auf diese folgt die «phallische Phase», in der die Klitoris beziehungsweise der Penis in den Mittelpunkt des libidinösen Geschehens und der Masturbationstätigkeit rückt, auch wenn das Kind zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu einer genitalen Befriedigung mit einem anderen Menschen in der Lage ist. Die abschließende «genitale Phase», in der das Individuum zu befriedigenden sexuellen Beziehungen mit Angehörigen des anderen Geschlechts in der Lage ist, wird erst nach der Pubertät erreicht, doch selbst in den reifsten Menschen sind immer Überreste der früheren Phasen der libidinösen Entwicklung erkennbar.
5 Die Erforschung der Vergangenheit 47 In seiner ursprünglichen Darstellung der frühkindlichen Sexualentwicklung betont Freud die Autoerotik, also die Veränderungen, die im Körper des Kindes selbst und nicht in Beziehungen zu anderen Menschen stattfinden. Freud war der Ansicht, das Kleinkind sei in der oralen Phase vorübergehend an die Brust der Mutter gebunden, doch der orale Instinkt löse sich und werde über Tätigkeiten wie Daumenlutschen und Kauen befriedigt. Auch wenn sich Freud nach wie vor bewusst war, dass Störungen auch durch Traumata ausgelöst werden können, betrachtete er die Entwicklung des Kleinkindes als inneren Ablauf, der nur lose mit Interaktionen mit der Mutter und anderen Bezugspersonen in Zusammenhang stand. Erst gegen Ende seines Lebens erkannte Freud die zentrale Bedeutung der Mutter-Kind-Beziehung. Davor sah er die Rolle der Mutter lediglich darin, die Bedürfnisse des Kindes zu befriedigen, indem sie dem Kleinkind half, als bedrohlich empfundene Spannungen abzubauen. Dabei übersah er völlig, dass die Mutter emotional mit dem Kind interagiert und nicht nur Spannungen abbaut, sondern das Kind auch stimuliert und ihm Lernmöglichkeiten bietet. Freud sah die Sexualität des Kleinkindes als «polymorph pervers», das heißt, sie setzte sich aus diffusen Instinkten zusammen, die zunächst getrennt sind und sich später zum erwachsenen Sexualtrieb zusammen-
6 48 Kapitel 3 setzen. Zu diesen Instinkten gehören unter anderem sadistische und masochistische Impulse, homosexuelle Interessen, exhibitionistische und voyeuristische Neigungen und Fetischismus. Spuren dieser Perversionen lassen sich auch im normalen Erwachsenen entdecken, doch bei Neurotikern sind sie besonders ausgeprägt. Freud behauptete nun, neurotische Symptome seien die Folge der Verdrängung von perversen sexuellen Impulsen, die aus der frühesten Kindheit stammten. Aufgrund dieser frühen Verdrängung bleibe die Sexualität des Neurotikers teilweise unterentwickelt. Werde ein Instinkt oder mehrere überbetont, aber nicht unterdrückt, werde der Betroffene sexuell pervers, das heißt, er lebe seine perversen Triebe im wirklichen Leben aus. Neurotiker und Perverse seien daher in einer Frühphase der Sexualentwicklung fixiert, gingen aber auf unterschiedliche Weise mit dieser Fixierung um. Aus dieser Beobachtung zog Freud den bekannten Schluss: «Die Neurose ist sozusagen das Negativ der Perversion.» (Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie) Im ausgehenden 19. Jahrhundert interessierten sich zahlreiche Wissenschaftler für die Irrungen der menschlichen Sexualität, doch Freud war der einflussreichste und überzeugte die Fachwelt und die Öffentlichkeit, dass es sich bei sexuellen Perversionen um Störungen in der psychosexuellen Entwicklung handele, nicht um «Erbkrankheiten» oder Ausdruck einer
7 Die Erforschung der Vergangenheit 49 «Degeneration». Besonders betonte er dabei die Bisexualität von Männern und Frauen. Bei einigen Menschen hielten sich die Spuren von Frühphasen der psychosexuellen Entwicklung so hartnäckig, dass sie als «orale» oder «anale Persönlichkeiten» bezeichnet wurden. Freuds Schüler Karl Abraham beschäftigte sich vor allem mit den oralen Eigenschaften. Freud selbst konzentrierte sich auf die analen Merkmale, wie man aus der Beschreibung des einleitenden Kapitels in diesem Buch vermuten konnte. Am wenigsten Aufmerksamkeit erhielten phallische Züge; Rycroft beschrieb jedoch in seinem Wörterbuch der Psychoanalyse die phallische Persönlichkeit als einen Menschen, der Sexualverhalten als Zurschaustellung von Macht begreift, im Gegensatz zur genitalen Persönlichkeit, die es als Teilhabe an einer Beziehung versteht. Von den vielen beschriebenen oralen Eigenschaften wird am häufigsten ein Zusammenhang von Passivität, Abhängigkeit und Zweifeln an den eigenen Fähigkeiten genannt. Diese Eigenschaften finden sich oft in Menschen, die zu wiederkehrenden Phasen der Depression neigen. Einige Menschen mit diesen Persönlichkeitsmerkmalen neigen auch zu «oralen Gewohnheiten» wie Daumenlutschen, Überernährung und übermäßigem Genuss von Alkohol und Tabak,
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