KRISTALL UND WOLKE AUS STAHL UND GLAS

Transkript

1 REPORT 49 *Dipl.-Ing. Klaus Lother Musée des Confluences in Lyon als neues Science Center KRISTALL UND WOLKE AUS STAHL UND GLAS 1 Lyon glänzt mit einem neuartigen Science Center. Am 20. Dezember 2014 soll das futuristische Musée des Confluences am Zusammenfluss von Rhone und Saône eröffnet werden, in dem Ausstellungen die Wechselwirkungen von Natur- und Sozialwissenschaften beleuchten. * Dipl.-Ing. Klaus Lother, Geschäftsführer der Josef Gartner GmbH Auf einem Betonsockel mit einer Flanierfläche erheben sich zwei konstrastierende und komplexe Gebäudeformen: ein Kristall und eine Wolke. Diese freien Formen und die sich daraus ergebenden statischen und bauphysikalischen Anforderungen stellten höchste Ansprüche an den Stahlbau und die Glasfassade. Der Eingangsbereich in Form eines Kristalls besteht beispielsweise aus 32 unterschiedlich geneigten Teilflächen mit einer Neigung von bis zu 18 Prozent und einem 30 m hohen Trichter mit stark sphärisch gebogenen Scheiben. Diese Scheiben wurden in zwei Achsen gekrümmt, in Radien von unter 500 mm hergestellt und teils nur über Structural Glazing horizontal gehalten. Teile der primären und sekundären Stahlstruktur wurden über im Profil angebrachte Schrauben verbunden, um klaffende Verbindungen bei der komplexen Geometrie zu vermeiden. Um einige der freien geometrischen Formen baubar zu machen, wurden sie am 3D-Computermodell zusammen mit dem Architekten vom Fassadenbauer optimiert. So mussten über 160 Knoten, in denen sich die einzelnen Strahlstreben des Trichters treffen, individuell designt werden. Auch mussten neue Verbindungs- und Montagetechniken wie Stäbe mit zweiseitigen Kugelgelenken entwickelt werden, um Montagetoleranzen in alle Richtungen auszugleichen. Mehr als ein Naturkundemuseum: Musée des Confluences zeigt Querverbindungen verschiedener Wissenschaften Das Musée des Confluences will gesellschaftliche Zukunftsfragen in Dauer- und Wechselausstellungen aufgreifen. So sollen verschiedene Wissens-

2 50 REPORT 1 Musee des Confluences mit Haupteingang im Kristall und Schiffsstegen zur Rhone. 2 Detail des Trichters im Eingang mit Ring am unteren Bildrand, der als Entwässerungsrinne dient. Das Wasser wird im Stahlprofil abgeführt. Auf dem Ring sitzen zwei Heizglasscheiben zum Abtauen von Schnee. 3 Freiformgeometrie und Trichter mit primärer und sekundärer Stahlkonstruktion, die über kleine Stäbe mit zweiseitigen Kugelgelenken verbunden ist. 4 Kristall mit primärer und sekundärer Stahlkonstruktion und CAD-Details. 5 Wolke des Musee des Confluences mit verglasten Flächen von der Rhoneseite m hoher Trichter im Eingang mit 32 unterschiedlich geneigten Teilflächen. Über eine Rolltreppe erschliessen sich Laufwege und Rampen um den Trichter. 7 Wolke von der Saoneseite aus betrachtet mit Edelstahlverkleidungen. 8 Vordach über dem Haupteingang. 9 Vordach des Haupteingangs mit Fensterfügeln im unteren Bildbereich. 10 Vordach des Haupteingangs mit rautenförmigen Fensterflügeln im schrägen Dachbereich. Fotos: Copyright by Karin Jobst 2 3 bereiche wie Technik, Biologie und Ethik zusammenfliessen. Mit dem Neubau können erstmals viele Exponate des 150 Jahre alten Naturkundemuseums der Stadt gezeigt werden, da bisher der Platz nur für rund fünf Prozent der Museumsschätze reichte. Diese Sammlung umfasst rund drei Millionen Objekte beispielsweise aus der Ethnologie, der Insektenkunde und der Technik. Mit moderner Technik sollen das gesamte Spektrum von Bio- und Geowissenschaften dargestellt und die Querverbindungen der verschiedenen Wissenschaften beleuchtet werden. Im Zentrum sollen zentrale Zukunftsfragen der Menschheit stehen. Über eine museale Präsentation hinaus sollen Besucher so angeregt werden, neue Zusammenhänge im Wissen unserer Zeit zu erschliessen. Architektur spiegelt das Museumskonzept und den Ort Aspekte wie Durchdringung und Veränderlichkeit, die für das Museumskonzept charakteristisch sind, spiegeln sich auch in der Architektur. Besucher können sich zwischen abgeschlossenen und offenen Ausstellungsflächen wie in einem mäandernden Flusslauf bewegen. Über unzählige Übergänge, Rampen und Ebenen können sie neue Wissensströme erschliessen. Der Name Confluences (Zusammenfluss) bezeichnet nicht nur die Querverbindungen der Wissenschaften, sondern auch den Ort des Museums: Es wurde auf einer Landzunge errichtet, wo Rhone und Saône in spitzem Winkel zusammenfliessen. Eine Stadtautobahn trennt das Gebiet vom alten Hafen Lyons, in dem gegenwärtig ein innerstädtisches Büro- und Wohngebiet entsteht. Den 2001 ausgeschriebenen Wettbewerb für das neue Museum, das vom Département du Rhône errichtet wird, gewann das Wiener Architekturbüro Coop Himmelb(l)au. Der Grundriss des Entwurfs von Wolf D. Prix orientiert sich an einem langgestreckten Dreieck, das die besondere Form der Landzunge aufgreift. Von dieser Halbinsel hebt das auf einem Quadratmeter grossen Grundstück auf Stützen errichtete Museum geradezu ab. Das 180 Meter lange, 90 Meter breite und bis zu 37 Meter hohe Gebäude verbindet auf komplexe Art zwei Bauteile: einen mit natürlichem Licht durchfluteten Kristall als Eingangshalle auf der Stadtseite und eine sich daran anschliessende Wolke. Auf einem gemeinsamen Sockel stehen sich das gläserne Atrium im Eingang mit Treppen, Rampen und Fahrstühlen und die geschlossene Wolkenformation gegenüber wie offene Gegenwart und verborgene Zukunft. Insgesamt bietet

3 REPORT 51 Primärkonstruktion mit Teilen der Sekundärkonstuktion Glasfuge Freiform-Bereich Glasfuge Normalbereich Pfosten 1 Primärstruktur 450 / 250 mm 2 Sekundärstruktur 180 / 80 3 Ausgleichsprofil 4 Auflageband EPDM 5 Aufschweissbolzen mit Gewindehülse, Beilagscheibe und Schraube 6 Aufschweissprofil 7 Spezialgewindehülse 8 Glasauflager 9 Verbundsicherheitsglas (VSG) 10 Silikonfuge 11 Spezial Glashalteprofil 4 das Museum eine Nutzfläche von Quadratmetern und eine Bruttogeschossfläche von Quadratmetern. Freiformgeometrien am 3D-Computermodell baubar machen Der architektonische Entwurf von Coop Himmelb(l)au stellte Fassadenbauer Gartner zunächst vor erhebliche Probleme. Die extrem weiche Gesamtstruktur des Gebäudes erforderte ein komplexes statisches System. Herausfordernd war vor allem die Freiformgeometrie des Dachs und der 30 Meter hohe Trichter im Eingangsfoyer, der schräg nach unten ins Gebäude fällt. Im Stahlbau waren starke Krümmungen und extrem kleine Radien gefordert. In der Entwicklungsphase hat Gartner deshalb vorgeschlagen, die Dachform an einigen Stellen zu korrigieren und zu starke Krümmungen zu vermeiden, ohne die Entwurfsidee zu verändern. Zusammen mit den Architekten hat Gartner insbesondere die Knotenpunkte der Stahlkonstruktion des Trichters optimiert. Am 3D-Computermodell haben Architekten und Gartner- Experten jeden einzelnen der 160 Knotenpunkte individuell designt. In den Knoten laufen jeweils

4 52 REPORT 5 sechs Stahlstreben aus rechteckigen Hohlprofilen zusammen. Am Computer wurde dann für jeden Knoten die Richtung und Achse der Stossbleche bestimmt, um die Verschneidungen der Hohlprofile überhaupt erst zu ermöglichen und die Knoten eleganter zu gestalten. Kristall mit 32 geneigten Teilflächen und einem gläsernen 30 Meter hohen Trichter 6 Die Stahlkonstruktion des Eingangsfoyers mit seinen 32 unterschiedlich geneigten Teilflächen wurde aus rund 650 Tonnen Stahl gefertigt. Bei der Primärstruktur aus schwerem Stahlbau treffen sich die Systemlinien nicht in einem Punkt. Die Sekundärstruktur zeichnet sich durch verdeckte Schraubstösse mit Kopfplatten aus. Hätte man wie üblich Platte mit Platte verbunden, wären bei der komplexen Geometrie klaffende Verbindungen entstanden. Gartner hat deshalb eine elegante neue Lösung entwickelt. Die Schrauben befinden sich jetzt im Stahlrohr. Die Kopfplatte wurde wenige Millimeter zurückversetzt in das Rohr geschweisst. Verbunden sind die Stahlteile damit über die Rohrwandung, die auch den hohen Druck aufnimmt. Eine streng kontrollierte Vorspannsequenz von bis zu acht Schrauben sichert an der Stossstelle eine homogene Spannungsverteilung im Rohrquerschnitt. Nach Überlackierung der Rohrwandungen sind diese Stösse im fertigen Bauwerk nicht mehr sichtbar. Da solche Schraubverbindungen bisher nicht üblich sind und mit dem Musée des Confluences erstmals in Frankreich umgesetzt wurden, mussten mehrere unabhängige Institute und auch

5 REPORT 53 länge mehrfach hergestellt, in Form gebracht und warm gebogen werden. Erst dann konnten die Ränder auf das exakte Mass geschliffen und geschnitten werden, damit sie millimetergenau passen. Diese sphärisch gebogenen Glasscheiben werden im unteren Bereich des Trichters lediglich über eine Silikonverklebung (Structural Glazing) horizontal in Position gehalten. Neu entwickelte flächenbündige Lüftungs- und RWA-Flügel 7 Erstmals wurden auch flächenbündige Lüftungs- und RWA-Flügel entwickelt. Die rund 300 flächenbündigen 2,6 mal 1,5 Meter grossen Lüftungsflügel wurden im Gartner-Stahlbau im bayerischen Gundelfingen gefertigt und dort auf Dauerfunktion und Brandschutzsicherheit getestet. Sie wurden in elf unterschiedliche Geometrien vom Parallelogramm bis zum Dreieck hergestellt. Insbesondere die Schrägfassaden und die Dachkonstruktion mit bis zu 18 Prozent geneigten Flächen stellten besondere Anforderungen an die Belastbarkeit und Präzision der Kettenantriebe für die schweren Kipp- und Klappflügel. Die Primär- und Sekundärstahlstruktur wurde mit einer Glasfäche von 3500 Quadratmetern aus Verbundsicherheitsglas 2 8 / 10 / 12 Millimeter TVG mit 1,52 Millimeter PVB-Folie hergestellt. Die doppelt gekrümmten Gläser im Konus bestehen aus 2 8 Millimeter Float mit 1,52 mm PVB sowie aufgeklebten SG-Profilen zur Befestigung am bauseitigen Stahl. Ein Zwischendeckel aus beheiztem Glas sorgt für ein schnelles Abtauen von Schneeanhäufungen im Trichter. Dafür wurde Heizglas aus Millimeter ESG und 1,52 Millimeter PVB verwendet. der europäische Normenausschuss einbezogen werden. Inzwischen wurde diese Technik auch in die EN C 90, die aktuell gültige europäische Stahlbaunorm, aufgenommen. Für den Kristall mussten sphärisch gebogene Gläser mit einer Krümmung hergestellt werden, die technisch an die Grenze des Machbaren geht. Jede Scheibe ist in zwei Achsen gekrümmt. Die vier unteren Scheiben des Trichters im Kristall mussten beispielsweise mit Radien von unter 500 mm gefertigt werden, einer Krümmung, die mit der Krümmung von Cockpitscheiben eines Düsenjets vergleichbar ist. Dazu mussten die übergrossen Scheiben-Abwicklungen von bis 4,5 m Kanten- 8 Eine Wolke aus Edelstahl und argongefüllten Scheiben In der mit Edelstahl verkleideten Wolke sind elf Teilflächen verglast, die für einen natürlichen Lichteinfall in die Museumsräume sorgen. Diese Glasflächen mussten besondere akustische Anforderungen erfüllen. Daher sind alle Scheiben aus Isolierglas mit Argonfüllung und einer Stopray-Clearvision-Schicht gefertigt. Die Stahlblechplatten sind mit einem Pulverlack versehen. Dank des speziellen Metalliceffekts glänzen sie in der Sonne und spiegeln Licht und Farben der Umgebung. Auch wird so ein homogenes Erscheinungsbild des Museums erzeugt. Unter und auf der Wolke entstehen eine Brasserie, eine Boutique und der «Salle de Reception». Diese drei verglasten Aufenthaltsbereiche bestehen aus einer über 1000 Quadratmeter grossen

6 54 REPORT 9 10 Stahl-Glas-Konstruktion mit zum Teil stark geneigten Teilflächen. Alle Isolierglasscheiben enthalten eine Argonfüllung und eine Planibel- Energy-Schicht. Montage mit Kugelgelenken und Vormontage im Werk Um die Montage auf der Baustelle zu beschleunigen und die Montagekosten zu reduzieren, wurde die Stahlkonstruktion weitgehend verschraubt und weist nur wenige Schweissnähte auf. Zur Verbindung der primären und sekundären Stahlkonstruktion entwickelte Gartner zweiseitige Kugelgelenke. Mit diesem Sondervorschlag konnten Montagetoleranzen in alle Richtungen ausgeglichen werden. Ohne diese von den Architekten nicht vorgesehene Lösung wäre die komplexe Konstruktion nicht baubar gewesen. Der komplette 30 Meter hohe Trichter im Eingangsbereich wurde im Werk vormontiert. Auf die Baustelle in Lyon wurde keine Stahlverbindung geliefert, die vorher im Werk nicht geprüft und montiert war. So war gesichert, dass die Verbindung passt, und auf der Baustelle konnte schneller montiert werden. Verantwortlich für die Montage auf der Baustelle war Permasteelisa France, eine Gesellschaft der Permasteelisa- Gruppe, der Muttergesellschaft von Gartner. Permasteelisa France ist auch Hauptauftragnehmer beim Musée des Confluences. Für den Transport auf die Baustelle waren zahlreiche Sondertransporte nötig, da die grössten Stahlteile bis zu 4 Meter breit, 4 Meter hoch und 18 Meter lang waren. Die vorgefertigten Glasscheiben wurde in einem Lager in Lyon zwischengelagert und dann abschnittsweise auf die Baustelle geholt. Fazit: Komplexe Formen aus Stahl und Glas baubar machen Das Musée des Confluences ist ein herausragendes Beispiel für eine dekonstruktivistische Architektur, die sowohl das Museumskonzept wie die besondere Lage auf einer Landzunge aufgreift. Die sehr komplexen freien Formen des Gebäudes stellten höchste Anforderungen an die Planung und die Technik. So musste der Entwurf zunächst in enger Zusammenarbeit mit den Architekten am 3D-Computermodell baubar gemacht werden. Auch mussten zahlreiche neue technischen Lösungen im Stahl- und Glasbau und in der Montage entwickelt werden, um diese komplizierte Konstruktion aus Stahl und Glas zu bauen. Vergleichbar ist das Musée des Confluences mit der BMW Welt in München ebenfalls ein Entwurf von Coop Himmelb(l)au mit einer Gartner- Fassade. Nur ist der Entwurf des Museums noch vor der BMW Welt entstanden und noch komplexer. Zudem erfüllt das Museum die ökologischen Kriterien der Association de La Haute Qualité Environmentale (HQE) vom Bauverfahren bis zur Integration in die natürliche Umgebung. Bautafel Bauherr: Département du Rhône Planung: Coop Himmelb(l)bau Wolf D. Prix & Partner, Wien, Mag art Archive & Publications Generalunternehmer: Vinci Construction France Fassadenberatung: Van Santen VS-A Group, Lille Beratende Ingenieure: Coyne et Bellier, Lyon Fassade: Josef Gartner GmbH, Gundelfingen