Diversity als Frage der Unternehmenskultur Faire Chancen für Vielfalt
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- Sophie Goldschmidt
- vor 6 Jahren
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1 Diversity als Frage der Unternehmenskultur Faire Chancen für Vielfalt Rede Bundesministerin Frau Dr. Kristina Schröder auf der 9.November 2012 Berlin, Verlagshaus Der Tagesspiegel Dauer: Minuten Sehr geehrter Herr Casdorff, (Stephan-Andreas Casdorff, Chefredakteur des Tagesspiegel) Sehr geehrter Herr Maroldt, (Lorenz Maroldt, Chefredakteur des Tagesspiegel) sehr geehrte Frau Gräfin von Hardenberg, (Aletta Gräfin von Hardenberg, Geschäftsführerin Charta der Vielfalt) meine sehr verehrten Damen und Herren! 1
2 I. Sie haben gestern und heute schon einige Reden zum Thema Diversity gehört. Zum Mehrwert von Vielfalt wurde vermutlich schon alles gesagt wenn auch vielleicht nicht von jedem. Deshalb erlaube ich mir, etwas grundsätzlicher einzusteigen: Woran genau machen wir Vielfalt eigentlich fest? Kann man Vielfalt sehen? Oder umgekehrt gefragt: Wie sieht das Gegenteil von Vielfalt aus? Ist es schon ein Zeichen mangelnder Vielfalt, wenn die Belegschaft zu weiß, zu deutsch, zu männlich ist, wie ein Vorstandschef das einmal formuliert hat? (Peter Löscher, Siemens-Vorstandschef über das Siemens-Management) Nicht unbedingt. Denn auch weiße deutsche Männer sind nicht per se gleich. Sie mögen dieselbe Hautfarbe haben, dieselbe Nationalität und das gleiche Geschlecht aber ihre Persönlichkeiten, Werte, Ziele und Ideen können sehr verschieden sein. Nehmen wir zwei Männer, beide 35, in gleicher Position. 2
3 Der eine ist noch kinderlos, abends wartet zuhause niemand auf ihn, er ist mobil, flexibel und umfassend verfügbar, egal ob es um eine spontane Dienstreise nach Asien geht oder darum, mal eben ein Wochenende durchzuarbeiten, um eine deadline einzuhalten. Der andere ist vor ein paar Monaten zum zweiten Mal Vater geworden. Seine Frau, ebenso gut ausgebildet wie er, will nicht zu lange im Beruf aussetzen. Überstunden abends und am Wochenende oder die ganze Woche unterwegs sein, das passt nicht zu dem Familienleben, das die beiden sich vorstellen. Dieser Mann wünscht sich, zumindest solange die Kinder klein sind, mehr Zeit für Familie und vor allem Zeitsouveränität, um im Familienalltag flexibel zu sein, zum Beispiel, wenn die Kinder krank sind und er sich mit seiner Frau beim Zuhausebleiben abwechselt. Zwei ganz unterschiedliche Männer also. Die Frage ist: 3
4 Wird die Leistung des einen ebenso geschätzt wie die des anderen? Haben beide die gleichen Aufstiegschancen? Oder wird nur Kandidat Nummer 1 befördert, während Kandidat Nummer 2 sich Sprüche von Kollegen und Vorgesetzten anhören muss, wenn er um vier zum Laternenumzug der Kinder geht, und dafür abends, wenn die Kinder im Bett sind, von zuhause aus weiter arbeitet? Auch darüber müssen wir reden, wenn wir über Vielfalt reden: über die Vielfalt unterschiedlicher Lebensentwürfe und Lebenssituationen und die Frage, ob es dafür Raum gibt in unserer Arbeitswelt. Denn Diversity heißt ja nicht, eine Monokultur um einzelne Exoten zu ergänzen, nur damit das Bild ein bisschen bunter ist. Diversity ist eine Frage der Unternehmenskultur: Welche Aufstiegs- und Karrierewege gibt es, wie wird Leistung und Erfolg definiert? 4
5 Gilt Anders-sein, das Abweichen von der Norm, als störender Sand im Getriebe des Arbeitsalltags? Haben nur diejenigen eine Chance, die in ein festes und statisches Raster passen bzw. sich anpassen? Oder lassen umgekehrt die Arbeitsbedingungen sich flexibel an die unterschiedlichen Stärken, Bedürfnisse und Lebenssituationen von Menschen anpassen? II. Fest steht, dass der demografische Wandel und der damit verbundene Mangel an Fachkräften viele Unternehmen dazu bewegt, sich mit den eigenen Arbeitsbedingungen und der eigenen Unternehmenskultur auseinander zu setzen. Wir sehen das am Beispiel der Diskussion über mehr Frauen in Führungspositionen. Dazu haben wir im Bundesfamilienministerium gerade erst ein hochinteressantes Projekt abgeschlossen. Unternehmenskulturen verändern 5
6 Karrierebrüche vermeiden, so der Titel. Es dabei ging um die Frage, woran es liegt, dass die Frauen in vielen Unternehmen salopp gesprochen auf der Strecke bleiben. Die Fraunhofer-Gesellschaft hat das Phänomen der Karrierebrüche für uns in 9 großen deutschen Unternehmen wissenschaftlich untersucht und dazu Interviews mit über 200 Führungskräften geführt. Das Ergebnis lautet kurz gefasst: Auf die Unternehmenskultur kommt es an! Nur wo Vielfalt als Ressource verstanden wird, haben Frauen faire Chancen. Die Untersuchung zeigt, wie Unternehmenskulturen Frauen auf ganz unterschiedliche Weise ausbremsen: Da gibt es die offene Hochleistungskultur, in der extreme Leistungsorientierung und hohe Flexibilitätsanforderungen dazu führen, dass Menschen mit Fürsorgeverantwortung als Low-Performer gelten und Zeit für Familie zur Karrierehürde wird. 6
7 Da gibt es die konformistische Formalkultur, in der Verhaltensweisen und Perspektiven von Frauen als unpassend und als Ausdruck von Schwäche wahrgenommen werden. Es gibt die konservative Ausschlusskultur, in der sehr traditionelle Rollenvorstellungen herrschen und die Verantwortung der Frau vor allem häuslichen Bereich gesehen wird. Die vierte Monokultur, die die Wissenschaftler ausgemacht haben, ist die veränderungsorientierte Bewahrungskultur : Hier gibt man sich zwar verbal aufgeschlossen und fördert Innovation und Veränderung, scheitert aber an der Umsetzung, weil es nicht gelingt, die Führungskräfte mitzunehmen und insbesondere Männer für Gleichstellungsziele zu gewinnen. Diese vier Arten der Monokultur blockieren nicht nur die Chancen von Frauen. Sie blockieren zum Beispiel auch die Chancen von Männern, die nicht in die Hochleistungskultur passen, weil sie ihre Kinder auch während der Woche mal wach sehen wollen. 7
8 Sie blockieren die Chance von Menschen, die nicht konform gehen mit eingespielten Verhaltensweisen, zum Beispiel, weil sie einen anderen kulturellen Hintergrund haben. Sie blockieren die Chancen von Menschen, die nicht in die übliche Vorstellung von Leistung und Erfolg passen, sei es, weil sie älter sind, oder weil sie eine Behinderung haben. Deshalb ist unser Projekt mit der Fraunhofer-Gesellschaft nicht nur unter gleichstellungspolitischen Aspekten interessant. Faire Chancen erfordern ganz allgemein eine Unternehmenskultur, die offen ist für Vielfalt: für eine Vielfalt von Lebensentwürfen, Lebenssituationen, Lebensphasen und Lebensweisen. So empfiehlt der Abschlussbericht zum Projekt den Unternehmen, sich eine Reihe von Fragen zu stellen, die sich gar nicht auf das Geschlecht beschränken: Adressieren Diversity-Maßnahmen nur die Exoten? Gilt Vielfalt als Ressource oder als Irritation? Was sind die Erfolgsfaktoren für eine Karriere und welche Voraussetzungen braucht man, um sie zu erfüllen? 8
9 Wie transparent sind Stellenbesetzungsprozesse? Wie lebensphasenorientiert ist das Personalmanagement? III. Ich will auf die einzelnen Punkte gar nicht näher eingehen. Und ich will auch gar nicht näher darauf eingehen, warum es so wichtig ist, für mehr Vielfalt zu sorgen. Davon muss ich hier, denke ich, niemanden überzeugen. Stattdessen will ich mich auf die politischen Schlussfolgerungen konzentrieren, und zwar das wird Sie jetzt nicht wundern am Beispiel der Gleichstellungspolitik, auch wenn das Thema faire Chancen für beide Geschlechter natürlich nur ein Aspekt von Diversity ist. Aber die Frage, die sich hier stellt, lässt sich auch auf andere Dimensionen von Diversity übertragen. Diese Frage lautet: Wenn es so entscheidend auf die Unternehmenskultur ankommt, wie unser Projekt mit Fraunhofer-Gesellschaft gezeigt hat, wo kann man dann überhaupt politisch ansetzen? 9
10 Welche politischen Maßnahmen bewirken die notwendigen Veränderungen in der Arbeits- und Unternehmenskultur? Die erste gleichstellungspolitische Schlussfolgerung aus dem Projekt Unternehmenskulturen verändern Karrierebrüche vermeiden lautet: Eine starre Frauenquote, mit der der Staat den Unternehmen den Frauenanteil für Spitzengremien vorschreibt, greift in puncto Vielfalt zu kurz. Das liegt schon einmal daran, dass solche Quoten verfassungsrechtlich sauber allenfalls für Aufsichtsräte möglich sind. An der Unternehmenskultur wird es aber nicht viel ändern, wenn man nur die Besetzung des Kontrollgremiums verändert. Im Gegenteil: Personalverantwortliche in den Unternehmen können das Thema unter Verweis auf drei oder vier Frauen im Aufsichtsrat bequem für abgehakt erklären. Es gibt aber noch einen zweiten Grund, warum starre Quoten nicht das richtige Mittel sind, um die Unternehmenskultur zu verändern. 10
11 Das hat mit der bereits angesprochenen Hochleistungskultur zu tun: einer Kultur, die so formulieren es die Wissenschaftler geprägt ist durch ein hohes Maß an Offenheit, Flexibilität und extremer Leistungsorientierung. Hier wird eine (temporäre) Einschränkung von Leistungsfähigkeit und Flexibilität beispielsweise durch Fürsorgeverantwortung für Kinder zur kaum überwindbaren Karrierehürde. (S. 8) Solange sich an dieser Kultur, in der Leistung mit uneingeschränkter Verfügbarkeit gleichgesetzt wird, nichts ändert, erreicht eine starre Frauenquote nur eines: Diejenigen Frauen, die nach oben kommen, damit eine staatlich vorgegebene Quote erfüllt ist, können nur Frauen sein, die sich an diese Kultur anpassen. Albert Einstein hat einen dazu sehr gut passenden Satz geprägt: Um tadelloses Mitglied einer Schafherde sein zu können, muss man vor allem ein Schaf sein. Gleichberechtigte Aufstiegschancen im Beruf für alle Frauen und Männer erreicht man so nicht. 11
12 Gleichberechtigte Aufstiegschancen für alle Frauen und Männer erreichen wir nur dann, wenn die Kultur und die Strukturen in unserer Arbeitswelt, die bisher weitgehend auf Menschen ohne familiäre Fürsorgeaufgaben zugeschnitten sind, anschlussfähig werden an eine Vielfalt von Lebensentwürfen! IV. Das lässt sich natürlich nicht einfach staatlich verordnen. Wenn sich die Arbeits- und Unternehmenskultur ändern soll, dann müssen wir die Diskussion darüber in die Unternehmen selbst tragen. Das ist die zweite Schlussfolgerung aus unserer Untersuchung zur Monokultur im Management. Die Diskussionen in die Unternehmen selbst tragen genau darum geht es bei der Flexi-Quote, die ich vorgeschlagen habe, um die Aufstiegschancen von Frauen zu verbessern. Die Flexi-Quote ist eine Quote, deren Höhe Unternehmen erstens selbst bestimmen und zweitens öffentlich machen. 12
13 Veröffentlichung sorgt für Transparenz, und Transparenz bedeutet Druck: Denn wenn Ziele öffentlich werden, müssen es Ziele sein, zu denen Unternehmen stehen können vor der eigenen Belegschaft, vor einer kritischen Presse, vor der interessierten Öffentlichkeit und insbesondere vor potentiellen Nachwuchskräften. Die notwendige Verständigung auf diese Ziele wiederum setzt unternehmensintern Diskussionen in Gang, was sich mit Blick auf faire Chancen für Frauen ändern muss. Hinter einem individuellen Ziel stehen dann auch individuelle Lösungen und Strategien und zwar abhängig von den Ausgangsbedingungen, von der Zusammensetzung der Belegschaft und vom Geschäftsmodell des einzelnen Unternehmens. Damit bin ich bei einer dritten politischen Schlussfolgerung, die für die Gleichstellung der Geschlechter wie für Diversity insgesamt gilt: 13
14 Wir brauchen politische Lösungen, die der Unterschiedlichkeit der Ausgangsbedingungen in den Unternehmen gerecht werden. Die Ursachen für Karrierebrüche von Menschen, die in welcher Hinsicht auch immer nicht der Norm entsprechen, sind von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich! Unterschiedlich müssen deshalb auch die Lösungsansätze sein. Um es am Beispiel des Frauenanteils in Führungspositionen zu erklären: Ein Maschinenbau-Unternehmen mit nur zehn Prozent Frauenanteil in der gesamten Belegschaft und vielen Ingenieuren braucht andere Veränderungen als beispielsweise eine Bank, in der Frauen über die Hälfte der Belegschaft stellen und in der Berufsgruppen dominieren, in denen es genügend Frauen gibt. Deshalb ist es mir so wichtig, dass wir nicht alle Unternehmen über einen Kamm scheren, sondern Veränderungsdruck im einzelnen Unternehmen erzeugen. 14
15 Wenn Unternehmen sich selbst mit der Flexi-Quote ein Ziel geben, an dem sie sich messen lassen müssen dann werden Personalverantwortliche nicht nur darüber diskutieren, was machbar ist. Sie werden auch darüber diskutieren, was mit Blick auf den öffentlichen Druck bei diesem Thema notwendig ist, und wie sie ein ambitioniertes Ziel erreichen können. Und selbstverständlich werden sie in diesem Zusammenhang auch kritisch die Ursachen für Karrierebrüche im eigenen Unternehmen analysieren. Anders geht es ja gar nicht, wenn man sich selbst ein ambitioniertes Ziel geben und das dann auch erreichen will. V. Eine vierte politische Schlussfolgerung, meine Damen und Herren, betrifft die Wirksamkeit der Maßnahmen, die in vielen Unternehmen unter dem Stichwort Frauenförderung laufen. 15
16 Die breite Mehrheit der Unternehmen ist da ja sehr gut aufgestellt: Broschüren und Websites weisen ein umfassendes Angebot familienfreundlicher Arbeitsbedingungen auf, von Eltern-Kind-Zimmern über Telearbeit bis zu verschiedenen Zeitmodellen. Unser Unternehmensnetzwerk Erfolgsfaktor Familie hat mittlerweile Mitgliedsunternehmen, die eine beeindruckende Vielfalt familienfreundlicher Maßnahmen vorweisen können. Das Projekt Unternehmenskulturen verändern Karrierebrüche vermeiden zeigt, dass solche Angebote für sich genommen noch nicht ausreichen. Es muss zur Unternehmenskultur gehören, sie auch in Anspruch zu nehmen. Die ausgefeiltesten Arbeitszeitmodelle nützen nichts, wenn sie im Unternehmen als Karrierebremse verrufen sind wenn sie also nur dazu da sind, das berufliche Abstellgleis ein bisschen hübscher zu machen. 16
17 Aus Studien wissen wir, dass viele auch männliche Führungskräfte zwar sehr interessiert sind an familienbewussten Arbeitszeiten. Sie nehmen entsprechende Angebote ihres Arbeitgebers aber nicht in Anspruch, aus Angst vor negativen Folgen für die Karriere. Es muss im Unternehmen also klar sein, dass Zeit für familiäre Fürsorge nicht mit eingeschränkten Aufstiegschancen bezahlt werden muss! Deshalb, meine Damen und Herren, geben wir uns als Ministerium nicht mit der bloßen Existenz einzelner Maßnahmen zufrieden. Wir wollen die Unternehmen bei der Entwicklung einer familienbewussten Arbeitskultur unterstützen. Vor eineinhalb Jahren haben Bundesregierung, Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften dazu die Charta familienbewusste Arbeitszeiten unterzeichnet. Wir arbeiten gemeinsam an einer Arbeitskultur des Respekts vor familiärer Verantwortung. 17
18 Arbeitszeiten sind Taktgeber im Alltag berufstätiger Frauen und Männer und ihrer Familien. Respekt vor familiärer Verantwortung bedeutet, diesen Takt so zu gestalten, dass er mit dem Rhythmus des Familienlebens harmoniert. Wie das im betrieblichen Alltag funktionieren kann, was das für die Tarifpolitik bedeutet, und wie sich das in Betriebsvereinbarungen konkretisieren lässt, darüber wird seit Unterzeichnung der Charta intensiv diskutiert und beraten zum Beispiel in unseren Dialogkreisen Arbeitszeitkultur. Dabei geht es um individuelle und praxistaugliche Konzepte, und zwar nicht nur für eine moderne Arbeitszeitgestaltung, sondern auch für eine Veränderung der Unternehmenskultur: Wie kommen wir weg von der Präsenzkultur, hin zu einer Kultur, in der Leistung am Ergebnis gemessen wird? Was ist notwendig, damit auch Führungskräfte Beruf und Familie vereinbaren können? Ich bin immer wieder begeistert von den guten Ideen, die in vielen Betrieben in den letzten Jahren umgesetzt wurden: 18
19 Da gibt es Unternehmen, die sich ein verbindliches Regelwerk gegeben haben, an das sich alle halten: keine Besprechungstermine außerhalb gesicherter Kinderbetreuungszeiten, und Anrufe am Wochenende nur in äußersten Notfällen. Für Führungskräfte gibt es in einigen Unternehmen Tandembörsen, die bei der Suche von Partnern für geteilte Führungspositionen helfen. Dass auch ein Flächentarifvertrag Raum für mehr Vielfalt schaffen kann, beweist der Tarifvertrag Nordostchemie, den die Tarifparteien Ende 2011 unterzeichnet haben: Er gibt Beschäftigten in der nordostdeutschen Chemieindustrie den Freiraum, ihre Arbeitszeiten während des Berufslebens ohne drastische Gehaltseinbußen phasenweise zu verringern. Es ist das erste Mal, dass ein Flächentarifvertrag lebensphasenorientierte Arbeitszeit zusichert. Durch solche Tarifverträge gewinnt es noch einmal deutlich an Akzeptanz, sich Zeit für familiäre Fürsorgeaufgaben zu nehmen. 19
20 Und genau diese Akzeptanz brauchen wir als Teil einer auf Vielfalt ausgerichteten Arbeits- und Unternehmenskultur, meine Damen und Herren! Dabei ist Veränderungsdruck von außen unverzichtbar. Gerade weil die Unternehmenskultur etwas ist, was sich nur sehr schwer und mit viel gutem Willen verändern lässt, braucht es öffentlichen Druck, um Veränderungen in Gang zu setzen. Deshalb will ich in der Gleichstellungspolitik auch eine gesetzliche Lösung, die alle börsennotierten und voll mitbestimmungspflichtigen Unternehmen verpflichtet, sich eine Flexi-Quote für Vorstände und Aufsichtsräte zu geben. Darüber hinaus tragen wir das Thema faire Chancen mit unseren Regionalen Bündnissen für Chancengleichheit auch in die Fläche gerade auch in mittelständische Unternehmen. In diesen Bündnissen wird unternehmensbergreifend an betriebsindividuellen Zielvereinbarungen gearbeitet. Beteiligt sind unter anderem auch Bürgermeister, Landräte und Verbände 20
21 VI. Ich bin überzeugt, meine Damen und Herren: Veränderungen in der Unternehmenskultur, die wir im Rahmen der Gleichstellungs- und Familienpolitik anstoßen, nutzen nicht nur Frauen. Sie eröffnen neue Gestaltungsspielräume und Perspektiven für alle Beschäftigten, und sie helfen den Unternehmen, Mitarbeiter zu gewinnen, zu halten und zu motivieren. Dafür gibt es sehr überzeugende Beispiele. Ein schwäbischer Maschinenbauer beispielsweise gibt allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Möglichkeit, die eigene Arbeitszeit je nach Lebensphase und Lebenssituation für sich selbst festzulegen. (Maschinenbauer Trumpf) Da gab es zuerst Widerstand Stichwort veränderungsorientierte Bewahrungskultur : Abteilungsleiter klagten, sie könnten so nicht planen. Gefragt nach der Zahl ihrer unbesetzten Stellen verstummten die Zweifler dann aber relativ schnell. Ein Teilzeit-Ingenieur ist eben besser als gar keiner. 21
22 Offenheit für eine Vielfalt von Lebenssituationen und Lebensentwürfen hat sich für das Unternehmen ausgezahlt: Die Zahl der Bewerber ist um 50 Prozent gestiegen. Wenn Spezialisten sich bewerben und nach einer 3-Tage- Woche fragen, sucht die Personalabteilung die zu diesem Wunsch passende Position. Die Vielfalt der Lebensentwürfe ist vom Problem zur gelebten Unternehmenskultur geworden, weil der Mehrwert für alle Beteiligten offensichtlich ist. Genau diesen Wandel brauchen wir in den Unternehmen, und zwar ganz grundsätzlich und nicht nur bezogen auf Frauen in Führungspositionen. Auch für die Diversity-Dimension Alter gibt es Vorbilder: Als ein deutscher Automobilhersteller (gemeint ist BMW, Quelle: Umweltdialog) vor ein paar Jahren beschloss, den Bau einer neuen Produktionslinie auf eine immer älter werdende Belegschaft auszurichten, machte man sich nicht nur Gedanken über Prozesse und Strukturen. Es ging auch um die Frage der Unternehmenskultur: Welche Rolle spielen die Älteren in unserem Werk? 22
23 Gelten ältere Beschäftigte als weniger leistungsstark? Oder sehen wir in ihnen Fachleute und produktive Mitarbeiter? Man wollte bewusst kein Schon- oder Senioren-Band für die Älteren. Ziel war es, sich auch mit dieser Fertigungsstrecke dem Wettbewerb stellen zu können. Das ist gelungen! Die schöne Nebenwirkung: Durch Arbeitsbedingungen, die ihren speziellen Bedürfnissen Rechnung tragen, tragen Ältere nicht mehr das Stigma der weniger Leistungsstarken. Und genau darum geht es: Um die gemeinsame Überzeugung, dass eine Unternehmenskultur der Vielfalt individuelle Stärken zur Geltung bringt, Unternehmen also stärker macht und damit einen ökonomischen Mehrwert hat. VII. Meine Damen und Herren, ich will es bei diesen Beispielen bewenden lassen. Sie zeigen zwei Dinge: 23
24 Erstens: Man kann Diversity mit einer Summe aus Programmen für verschiedene Zielgruppen erreichen. Der Erfolg ist aber ungewiss, wenn dahinter keine Unternehmenskultur steht, in der Vielfalt ausdrücklich als erwünscht gilt. Zweitens: Vielfalt ist mehr, als Männer und Frauen, Alt und Jung, Deutsch und International. Vielfalt verläuft kreuz und quer zu diesen Unterscheidungen. Deshalb lässt Vielfalt sich auch nicht unbedingt in Zahlen abbilden. 40% Frauen plus 10% Migranten plus 20 % Homosexuelle plus 12% Muslime plus 8% Menschen mit Behinderung ist gleich Vielfalt diese Gleichung wäre absurd. Ist es nicht so, dass wir erst dann von gelebter Diversity sprechen können, wenn diese Unterschiede kein Thema mehr sind? 24
25 Bundeskanzlerin Angela Merkel hat hier letztes Jahr einen Diversity-Preis bekommen. Sie habe maßgeblich dazu beigetragen, hieß es, dass über Frauen in Führungspositionen in der Politik nicht mehr diskutiert wird. Wir können diese Argumentation noch weiter führen: Wir haben einen Vizekanzler mit vietnamesischen Wurzeln. Wir haben einen Außenminister, dessen Lebenspartnerschaft mit einem Mann keine Rolle spielt. Wir haben einen Finanzminister, dessen Rollstuhl kein Thema ist. Wir haben mit mir eine Ministerin, die während der Amtszeit ein Kind bekommen hat und trotzdem Ministerin bleiben konnte. Und wir haben im Kabinett auch das ist Vielfalt! sogar drei Bayern gut integriert! Was aber das Beste ist: Diese Vielfalt wird gar nicht groß thematisiert. Das zeigt, dass wir hierzulande in den Köpfen vielleicht schon weiter sind, als manche Diversity-Diskussion es vermuten lässt. 25
26 Und das, meine Damen und Herren, ist doch vielleicht ganz ermutigend für uns alle, die wir in Politik und Wirtschaft daran arbeiten, der Vielfalt in unserer Gesellschaft und in unserer Arbeitswelt mehr Raum zu geben! 26
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