Euphrat und Tigris: Wiege der Zivilisation - und heute?

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2 Euphrat und Tigris: Wiege der Zivilisation - und heute? Die Geschichte menschlicher Kultur und Kunst beginnt im vorderasiatischen Zweistromland, wo der Mensch zum ersten Mal den Schritt hin zur Zivilisation und Kultivierung machte. Die Urbevölkerung zwischen Euphrat und Tigris lässt sich nur schwer archäologisch nachweisen, dennoch gilt als sicher, dass der älteste Beweis eines Dorflebens weit über das Jahr v. Chr. hinaus reicht und an der Küste des Euphrats zu finden war. In den darauf folgenden Jahrtausenden entwickelten sich viele Kulturen, denen zahlreiche Errungenschaften wie die Baukunst, Kanalisation oder Bewässerungsanlagen zugeschrieben werden. Das Volk der Sumerer tauchte als erstes historisch fassbares Volk um 3500 v. Chr. in Mesopotamien aus dem Dunkel der Geschichte auf. Es wanderte in Südmesopotamien ein und fand eine von Sümpfen überzogene Region vor, die regelmäßig von Euphrat und Tigris überflutet wurde. Mit besonderen Methoden der Trockenlegung gelang es den Sumerern, die Sümpfe zu entwässern und eine regulierte und kontrollierte Bewässerung des Landes zu erreichen. Damit machten sie den fruchtbaren Boden urbar und erlangten reiche Ernten - die Wiege der Zivilisation. Doch was ist aus der Region geworden? Wie sieht das Leben der Bewohner an den beiden berühmten und segensreichen Flüssen heute aus? Diesen Fragen wollten die beiden freiberuflichen Fotojournalisten Barbara Vetter und Vincent Heiland nachgehen. Sie machten sich im August 2002 auf den Weg zum Euphrat. Als wir auf unserer Jene-Jemen- Tour dieses Gebiet schon einmal berührten, haben uns die Unterdrückung der Kurden und das Schicksal der beiden Flüsse Euphrat und Tigris sehr bewegt. Nahe der syrischen Grenze stand seinerzeit die Fertigstellung des vorletzten Euphratstaudamms durch die Philipp-Holzmann AG kurz vor der Vollendung. Um den Euphrat der Gegenwart zu erkunden, entschieden wir uns für eine Reisekombination aus Fahrrad und Boot. Beide Fortbewegungsmittel sollten uns helfen, den Fluss möglichst hautnah zu erleben und mit den Menschen entlang des Euphrat in Kontakt zu kommen. Die Reise sollte von der Quelle bis zur Mündung am Persischen Golf führen. Doch die hinreichend bekannte Entwicklung im Irak begrente das Vorhaben. Die ersten 350 km von der Quelle bis zum Beginn der Schiffbarkeit" mussten mit dem Fahrrad bewältigt werden. Mit dem Boot, einem faltbaren Kanadier, in dem wir unsere Räder und das Gepäck verstauen konnten, wollten wir den Fluss dort bereisen, wo es kaum Straßen in dem schroff eingeschnittenen Tal gab. Dumlu Baba" - Die heilige Quelle Ausgangsort war das 1800 m hoch gelegene Erzurum, eine große Stadt weit im Osten der Türkei. Etwa 30 km von dort sprudelt in 3000 m Höhe aus

3 ^ Ein nicht alltägliches Gefährt Dumlu Baba", der Quelle des Karasu", wie der nördliche der beiden Quellflüsse genannt wird, das erste Euphratwasser. Nicht nur die kühlen Temperaturen in dieser Region fielen uns auf, sondern auch die täglichen Gewitter mit ihren ergiebigen Regenfallen. Kein Wunder also, dass aus den kargen Bergen aus allen Ritzen Wasser hervorsprudelt und dieser Landstrich die größte Wasserressource des gesamten Nahen Ostens bereithält. Wieder zurück in Erzurum folgten wir nun dem Oberlauf des Euphrat. Wir kamen gut voran, denn der Fluss wird auf rund 250 km von einer asphaltierten Strasse sowie einer eingleisigen Bahnstrecke begleitet. Danach führt die Asphaltstrasse weg vom reißenden Euphrat. Wir hatten geplant, hier auf den Fluss umsteigen. Doch der Euphrat war noch immer ein reißender Gebirgsfluss mit Angst einflössenden Kaskaden und turbulenten Wildwasserpassagen. Die Gipfel der umliegenden Berge maßen über 3000 m, das Tal schnitt sich immer schroffer in die Landschaft ein. So holperten wir mit Rad und Wagon" - unser Fahrradanhänger mit dem Boot darauf - weiter auf unbefestigten Wegen an Fluss und Schiene entlang. Wir hätten besser eine Von den Einheimischen wird die große Quelle gern besucht, um sich mit dem als heilig geltenden Wasser zu waschen, davon zu trinken und dort zu beten. Der Weg dorthin ist schroff, steil, felsig und mit einem bepackten Rad eher eine Tortur als ein genüssliches Anradeln. Fast einen Tag benötigten wir für die steinige Auffahrt. Die grünen Bergkuppen werden von den Nomaden für ihre großen Schafherden als Sommerweide genutzt. Der Mund" von Dumlu Baba ist ein Quellsee von etwa 7 m Durchmesser und wurde mehr oder weniger liebevoll mit Beton und Steinen eingefasst. Die Wassermenge, die etwas unterhalb herausschießt, ist sehr beachtlich. ^ Hasankeyf

4 ^ Hoch über dem ursprünglichen Flußbett des Euphrat Draisine mitnehmen sollen, denn für das Gleis waren jede Menge Brücken und Tunnel in dieser traumhaften, aber äußerst unwegsamen Schlucht gebaut worden. Die Hitze und insgesamt 100kg Gepäck forderten ihren Tribut und wir kamen kaum voran. Der Keban-Stausee Wie an einer Perlenkette reihen sich die fünf großen Euphrat-Stauseen bis zur syrischen Grenze aneinander. Der Keban-Stausee ist der erste und älteste Stausee des Euphrats. Hier wird der tosende Fluss zum ersten Mal ausgebremst. Seit der Vollendung des Dammes 1975 ist das Tal mit Wasser gefüllt. Hier gingen dem Euphrat 80 km Fließstrecke verloren. Die reiche Sedimentfracht des erdfarbenen Flusses setzt sich nun im Stausee ab und im Sommer sind riesige Lehmbänke zu sehen. Fruchtbarer Boden, der am Mittel- und Unterlauf nicht mehr ankommen kann. See wirken grotesk. Der See ist ein Fremdkörper in dieser Landschaft. Doch das Landschaftsbild ist eher unwichtig gegenüber den vielen gewollten und ungewollten Auswirkungen, die mit den Euphrat-Stauseen verbunden sind. Mit der Durchfeuchtung des Bodens und dem stark gestiegenen Grundwasserspiegel kommt es zu gravierenden Hangerosionen. Baumpflanzaktionen sollen die Hänge stabilisieren, aber durch die enormen Schwankungen des Wasserspiegels von mehr als 5 Metern zwischen Winter und Sommer hat eine natürliche Ufervegetation keine Chance zu wurzeln. Der Staudamm wirkt als Sedimentfalle und die Lebensdauer des gigantischen Bauwerks von über 160 m Höhe und einer Bauzeit von rund 10 Jahren sinkt rapide. Zwei Tage lang paddelten wir durch nahezu unbesiedeltes Land, weit über dem ursprünglichen Flussniveau des Euphrat, der hier einst durch enge steile Schluchten strömte. Land und 46 ^ Pistazienplantage

5 Aufschwung Ost" in der Türkei Der Keban-Stausee ist Teil eines riesigen Staudammprojekts (GAP- Projekt) im Osten der Türkei. Die türkische Regierung will die enormen Wasserressourcen von Euphrat und Tigris für die eigene Stromerzeugung und Bewässerung nutzen. Gleichzeitig stellt die Kontrolle über die wichtigste Wasserressource im Nahen Osten ein wirksames politisches Druckmittel dar und ist eine gewaltige wirtschaftliche Bedrohung für die Anrainerstaaten Syrien und Irak. Vor über 30 Jahren wurde mit dem Bau von gigantischen Staudämmen und Wasserkraftwerken auf kurdischem Gebiet begonnen. Das Entwicklungsvorhaben ist äußerst umstritten. Auf der einen Seite versinken hunderte kurdische Dörfer und antike Stätten in den Fluten der legendären Flüsse, was Menschenrechtler wie Archäologen gleichermaßen auf die Barrikaden treibt. Andererseits hängt Syriens Wasserversorgung überwiegend vom Euphrat ab. Der Irak nutzt neben dem Wasser des Euphrats auch das des Tigris. Schon mehrfach hat die Türkei diesen Machtvorteil genutzt und seine Nachbarn - wortgetreu auf dem Trockenen sitzen lassen" füllte die Türkei ihren größten Stausee Atatürk Baraji (etwa eineinhalb mal so groß wie der Bodensee), wodurch sich der etwa eibgroße Euphrat einen Monat lang in ein kleines Rinnsal verwandelte. Eine Theorie besagt, dass man damit von Syrien die Herausgabe des Kurdenführers Öcalan" bewirken wollte. Doch auch innenpolitisch zeitigen die riesigen Stauseen ihre Wirkung, indem sie zur Lösung" des Kurdenproblems" beitragen. Durch die Flutung der Täler werden fast nur kurdische Dörfer und Städte entlang des Euphrat überschwemmt. Fruchtbare Nutzflächen und Gärten wurden zerstört, die Dörfer gingen unter und mit ihnen auch die Lebensgrundlagen. Einige Bauern haben zwar auf der Hochebene Ackerflächen erhalten, doch den Strom für die Pumpen, um diese unfruchtbaren Böden zu bewässern müssen sie, sofern sie können, aus eigener Tasche zahlen. Zuvor konnten sie mittels ihrer raffinierten Bewässerungskanäle und ihrer einfachen, aber wirkungsvollen Wasserräder ihre Felder kostenlos feucht halten. Entschädigungen gab es für die betroffene Bevölkerung kaum und wenn, dann zynisch wenig und verspätet. Dorfgemeinschaften lösten sich auf, die Menschen siedelten um und begannen irgendwo ein neues" Leben. Viele zogen in die Metropolen, verbrauchten dort schnell das schmale Entschädigungsgeld, blieben oft ohne Arbeit und endeten nicht selten in den Slums. Gleichzeitig wurden fremde, teils ausländische Arbeiter und Ingenieure, Polizisten und noch mehr Soldaten aus dem Westen der Türkei herangezogen, um die gigantischen Staudammprojekte zu errichten, zu unterhalten und zu bewachen. Die türkische Regierung räumt mittlerweile im Zusammenhang mit den Staudammprojekten Fehler ein. Die Zwangsumsiedlungen ohne ausreichende Entschädigung und der Untergang unerforschter antiker Stätten waren weltweit in die Kritik geraten. Auch ökologisch sind die Folgen der Umwandlung von rund 400 km fließendes in ein stehendes Gewässer noch nicht abzuschätzen. Erste Fälle von Malaria sind in der Harran-Ebene als Folge der intensiven Bewässerung aufgetreten. Die traditionellen Pistazien- ^ Absolute Lebensnotwendigkeit: die Bewässerung der Felder AV-TIPP MULTIVISION 3/

6 plantagen, die nur unter einem heißen und trockenen Klima gedeihen, zeigen erste Anzeichen von Pilzbefall. Stauseespringen" mit Fahrrad und Boot Nach fünf Tagen auf hoher See" erreichten wir den Keban-Staudamm. Dieser wurde an einer Engstelle zwischen zwei Gebirgszügen gesetzt, dort wo sich vorher die beiden Quellflüsse des Euphrats vereinten. Das Boot wurde zusammengepackt, auf dem Hänger verstaut und wir traten mal wieder kräftig in die Pedale, denn das Bauwerk und sein Umfeld sind militärisches Sperrgebiet, das wir deshalb weiträumig umfahren mussten. Unsere Reise wurde zum Stauseespringen" mit Boot und Fahrrad. Wir folgten also den weiteren Kunstseen, die in ihrer Entstehung immer jünger werden. Beim Birecik-Stausee lag die Flutung noch keine 1,5 Jahre zurück. Wir passierten Dörfer, welche durch die Wasserlinie in der Horizontalen halbiert waren. Ein Angler stand auf dem Dach seines Hauses. Wir legten im 1. Stockwerk an und waren auf dem Flachdach. Dieser Besitzer erhielt keine Entschädigung. Für die Wasserbehörde gilt das Haus als verschont geblieben und somit bewohnbar. Auch der Markt und die Moschee sind dauerhaft Land unter". Ausgestorbene Geisterdörfer am totenstillen Wasser des Euphrats. Ähnliche Großprojekte wie am Euphrat ^ Höhlenwohnung in Hasankeyf werden in naher Zukunft auch den Tigris heimsuchen. Der Fortschritt heißt Strom und Bewässerung. Hasankeyf am Tigris Inzwischen sind wir vom Euphrat nach Diyabakir am Tigris geradelt. Die Millionenmetropole gilt als die Hauptstadt der Kurden. Südlich wird Erdöl gefördert, wichtiger in Zukunft wird auch hier der Rohstoff Wasser sein. Unweit liegt die Kleinstadt Hasankeyf mit 3500 Einwohnern. Die Stadt hat eine einmalige historische Vergangenheit mit unerforschten archäologischen Schätzen. Es gibt hier noch etliche alte Höhlenwohnungen, manche sogar mit Kühlschrank und Fernseher. Hasankeyf rückt zunehmend in den Mittelpunkt internationaler Proteste, denn der Ort soll dem 135 m hohen Illisu-Staudamm zum Opfer fallen. Auf dem Weg in den Ort trafen wir viermal, wie durch einen übermächtigen Zufall gesteuert, denselben gut gekleideten Herrn mit Ankara-Autokennzeichen. Vermutlich ein Agent zur Beobachtung westlicher Journalisten. Der Campingplatz im touristisch frequentierten Hasankeyf war bereits wegen Terror" geschlossen, so die offizielle Begründung. Die Bewohner plagt große Unsicherheit, denn keiner weiß, wann das Wasser kommt. Wen wundert es, dass sich die Einwohnerzahl stetig reduziert, was den Regierungsplänen nur entgegenkommt. Wir freuen uns auf den Staudamm, weil unsere Regierung es will", steht zynisch auf einem Banner über der Hauptstrasse des Ortes. Es wäre ein Wunder, wenn die internationalen Proteste die fortgeschrittenen Bauarbeiten am Illisu-Staudamm noch stoppen könnten. Hasankeyf, ein Ort. dessen Geschichte und Zukunft in den Fluten versinken wird. Bald! ^ Höhlenwohnung mit TV und Kühlschrank 48 Barbara Vetter und Vincent Heiland AV-TIPP MULTIVISION 3/2003