Shinichi Furuya Masse, Macht und Medium. Lettre
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- Martha Bachmeier
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2 Shinichi Furuya Masse, Macht und Medium Lettre
3 Shinichi Furuya promovierte an der Ruhr-Universität Bochum. Er lehrt und forscht als Senior Assistant Professor an der Tokyo University of Agriculture and Technology. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören moderne Literatur, Medientheorie und Massentheorie.
4 Shinichi Furuya Masse, Macht und Medium Elias Canetti gelesen mit Marshall McLuhan
5 Zugl.: Bochum, Univ., Diss., 2014 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN PDF-ISBN Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter:
6 Inhalt Einleitung 7 1. Masse und Macht in der Medientheorie 7 2. Canetti und McLuhan Die englischen Jahre 9 3. Zum Problem der Medien bei Canetti und zur aktuellen Forschungslage Körper, Medien und Anthropologie Die Blendung am Rande der Gutenberg-Galaxis Büchermensch, Blindheit und Bibliotheksbrand Masse und Bibliothek Der Gelehrte als Kommandant The Battle of the Books Prothesen und Bücher Eine (paranoische) Männerphantasie in der Bibliothek Akustische Problematik Canettis Ohr und Stimmen Akustisches bei Canetti Karl Kraus und Massenerlebnisse in Wien »Der akustische Raum«Die Stimmen von Marrakesch Canettis Medienstrategie Sein Hörwerk und das Radio als Massenmedium Masse und Macht Körper und Medien Zum Verhältnis von Massen und Medien in Masse und Macht Simultaneität der Massen im elektronischen Zeitalter Homogene und heterogene Koexistenz der Massen im globalen Dorf Zeitung Hetzmasse Fernsehen Mosaik und Tastsinn Überleben, Medien und Betroffenheit von Masse und Macht zu Die gerettete Zunge Exkurs: Methodischer Vergleich Anti-Spezialistentum bei Canetti und McLuhan »Medium«bei Canetti 153
7 3.9 Ausweitungen des Körpers oder die zwei Körper des Machthabers Ausweitungen des Körpers oder die Hand-Geburt der Technik Von Hand zu Hand: Canetti und McLuhan»Medien als Übersetzer« Hand, Zahl und Masse Masse und Macht in der digitalen»kontrollgesellschaft« Fazit 212 Literatur 215
8 Einleitung 1. MASSE UND MACHT IN DER MEDIENTHEORIE Die moderne Massengesellschaft setzt (elektronische) Medien voraus, um zerstreute Massen zu verbinden und sichtbar zu machen. Medien gehören auch zu den politischen und institutionellen Machttechniken, welche Massen verwalten und kontrollieren. Deswegen ist die Analyse der Medien unverzichtbar, wenn man die Verhältnisse zwischen Masse und Macht in der modernen Gesellschaft zum Gegenstand der Untersuchung machen will. Wie kann man in diesem Zusammenhang Elias Canettis Lebenswerk Masse und Macht von 1960 neu lesen? Ausgangspunkt seines Werkes ist das Problem der Berührung in der Masse, die man körperlich erlebt. Dagegen werden die durch Medien wie Zeitung, Rundfunk und Fernsehen verbundenen Massen von der Gegenwärtigkeit bzw. dem Erscheinen des Körpers völlig befreit. In diesen dispersen Publikumsmassen fühlt man keine physische Nähe und Dichte zwischen den vereinzelten Einzelnen, da man zur Verbindung nur Medien und Kanäle braucht. Während die dichte Masse, an die Canetti in erster Linie denkt, als körperlich, räumlich und sichtbar bestimmt erscheint, erweist sich die Masse der Medien als körperlos, verstreut und unsichtbar. Im Allgemeinen gilt die Behauptung, dass zumindest in hochindustrialisierten Ländern die Massen der Medien mehr Einfluss auf die Gesellschaft haben als vergleichsweise akute Menschenansammlungen, weil ohne Medien der Bestand der modernen Gesellschaft unmöglich wäre. Es ist demzufolge notwendig und darüber hinaus sehr aufschlussreich, die akute Menschenmenge und die zerstreute Masse der Medien im Zusammenhang zu betrachten.
9 8 MASSE, MACHT UND MEDIUM Hier stellen sich die leitenden Fragen der vorliegenden Untersuchung: Wie hängt Canettis Massen- und Machttheorie mit der Analyse der Massengesellschaft und der Massenkultur zusammen? Wie kann Canettis Massen-Begriff im Hinblick auf die Massenmedien aktualisiert werden? Mit anderen Worten: Welchen Stellenwert nehmen nun in Canettis Werken Medien ein? Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Interpretation von Elias Canettis Werken in medientheoretischer Hinsicht. Dabei handelt es sich vor allem um den Rekurs auf den kanadischen Medientheoretiker Marshall McLuhan, der sich in seinem populärsten Werk Understanding Media. The Extensions of Man von 1964 ausführlich mit Canettis Masse und Macht auseinandergesetzt und Canettis Einsichten produktiv weiterentwickelt hat. In Masse und Macht behandelt Canetti zwar nicht explizit das Problem der elektronischen Massenmedien und Massenkommunikation; seine Schrift hat gleichwohl einen nicht unbedeutenden Einfluss auf den großen Medientheoretiker des 20. Jahrhunderts ausgeübt. Mit wenigen Ausnahmen ist dieser Einfluss Canettis auf McLuhan als einen Begründer der modernen Medientheorie weitgehend ignoriert worden. Auch jenseits von Masse und Macht ist das Medium von großer Bedeutung in Canettis Gesamtwerk, auch wenn er selbst sich zu diesem Thema nicht so häufig und direkt äußert wie über das Phänomen von Masse und Macht. Der Protagonist von Canettis einzigem Roman Die Blendung von 1935 stellt einen Büchermenschen dar, der zweifellos zu den Menschentypen der Gutenberg-Galaxis nach McLuhan gehört. Der Reisebericht Die Stimmen von Marrakesch von 1968 beschreibt dagegen die Welt der Oralkultur, die mit McLuhans Idee des akustischen Raums interpretiert werden kann. Meine Untersuchung geht davon aus, dass für das Verständnis und die neue Interpretation von Canettis Texten gerade die Thematisierung des Medialen unverzichtbar ist. Es gibt bis jetzt keine Analyse, die das Problem des Medialen bei Canetti zentral fokussiert und umfassend behandelt hätte. Die vorliegende Arbeit soll diesen Mangel der Canetti-Forschung aufheben und die erste systematische Erforschung des Themas Medium bei Canetti werden. Anhand der Canetti-Rezeption bei McLuhan und seiner Medientheorie soll nun der verborgene Zusammenhang zwischen Masse, Macht und Medium in Canettis Werken gründlich analysiert werden.
10 EINLEITUNG 9 2. CANETTI UND MCLUHAN DIE ENGLISCHEN JAHRE Canettis Masse und Macht erschien 1960 und ist zwei Jahre später ins Englische übersetzt worden. 1 Man kann die erste, weitgehende Rezeption von Masse und Macht in McLuhans Hauptwerk Understanding Media finden, das im Jahr 1964 veröffentlicht wurde. Es ist nicht leicht zu ermitteln, wie und wann genau McLuhan auf Canettis Masse und Macht gestoßen ist. Es ist aber nicht zufällig, dass Canetti, der lange in London lebte, zuerst im englischsprachigen Raum rezipiert wurde. Vermutlich kannte McLuhan Canettis Werk durch den Literaturkritiker George Steiner, der in seinen Texten mehrfach Canettis Werke genannt und auch über McLuhan geschrieben hat. 2 Da sich Canetti fast gewohnheitsmäßig von seinen zeitgenössischen Denkern distanzierte, kann nicht überraschen, dass er in den veröffentlichten Texten McLuhan und dessen Arbeit gar nicht erwähnt. Canetti muss jedoch mindestens sein Hauptwerk Understanding Media gekannt haben. In der Canetti-Bibliothek, die in der Zentralbibliothek Zürich als Nachlass aufbewahrt wird, sind fünf Bücher von McLuhan registriert. 3 Darunter findet sich auch die Erstaufgabe 1964 von Understanding Media, die vermutlich der Verlag Canetti dedizierte. Der jüdische Dichter und Nobelpreisträger 1981 Canetti war sechs Jahre älter als McLuhan, der 1911 in Kanada geboren wurde und später Medienwissenschaft an der Universität Toronto lehrte. Beide schienen sich persönlich nicht gekannt zu haben, auch nachdem sie weltweit berühmt ge- 1 Vgl. Canetti, Elias: Crowds and Power. Translated from the German by Carol Stewart. New York: Farrar, Straus and Giroux 1984 (1962). 2 Vgl. Steiner, George:»On Reading Marshall McLuhan«, in: ders.: Language and Silence. Essays , London: Faber and Faber Dieser Artikel über McLuhan erschien 1963 und erwähnt auch Canettis Roman Die Blendung. Vgl. das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit. 3 Vgl. Zentralbibliothek Zürich Nachlass Elias Canetti ( ). Katalog der Londoner Bibliothek. Erstellt 2004 im Auftrag der Handschriften-Abteilung, überarbeitet 2012 von Alexa Renglli, S Dieser Katalog kann auf der Homepage der Zentralbibliothek Zürich heruntergeladen werden. ( zb.uzh.ch/spezialsammlungen/handschriftenabteilung/nachlaesse/einzeln-nach laesse/003210/index.html.de) (Zugriff: )
11 10 MASSE, MACHT UND MEDIUM worden waren. Aber in den 1930er Jahren waren beide zeitweilig in England tätig. Nach dem Anschluss Österreichs an das Dritte Reich 1938 emigrierten Elias und seine Frau Veza Canetti von Wien über Paris nach London, wo sie sich niederließen und auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiter wohnten. In seinem postum veröffentlichten Werk Party im Blitz. Die englischen Jahre hat Canetti sein Leben und seine Freundschaften in London skizziert. Er hatte zahlreiche Bekanntschaften mit englischen Schriftstellern, Intellektuellen und Künstlern. Von 1934 bis 1936 studierte McLuhan Anglistik in Cambridge, wo er auch später seine Dissertation über mittelalterliche Literatur einreichte. Er war damals von der literaturtheoretischen Strömung des New Criticism beeinflusst, die vor allem I. A. Richards und sein Schüler William Empson in Cambridge vertraten. 4 Empson war ein renommierter Literaturwissenschaftler, den auch Canetti kurz nach der Emigration in London kennenlernte und dessen Arbeit er hochschätzte. 5 Die englischen Jahre sind also ein gemeinsamer Hintergrund von Canetti und McLuhan. 3. ZUM PROBLEM DER MEDIEN BEI CANETTI UND ZUR AKTUELLEN FORSCHUNGSLAGE Es gibt einzelne Studien, die bereits Medien in Masse und Macht allerdings ohne Bezug auf McLuhan thematisieren. Die elektronische Masse 4 Vgl. Marchand, Philip: Marshall McLuhan. Botschafter der Medien. Biographie. Mit einem Vorwort von Neil Postman. Übersetzt von Martin Baltes/Fritz Böhler/Rainer Höltschl/Jürgen Reuß, Stuttgart: DVA 1999, S »Er hatte einen scharfen, immer aktiven, auf vielerlei übergreifenden literarischen Geist, an den Metaphysical Poets des frühen 17. Jahrhunderts geschult, aber auch in einer Cambridger Schule von Sprachsoziologen (I. A. Richards).«Canetti, Elias: Party im Blitz. Die englischen Jahre. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Kristian Wachinger. Mit einem Nachwort von Jeremy Adler, Frankfurt a.m.: Fischer 2005, S. 17. Vor allem Empsons Aufenthalt in Japan und China interessierte Canetti. Vgl. ebd., S. 19. James Joyce ist auch eine Schlüsselfigur, die Canetti und McLuhan verbindet. McLuhan beschäftigte sich als Anglist immer mit den Werken von Joyce. Canettis Grab in Zürich liegt neben dem von Joyce.
12 EINLEITUNG 11 von Eduardo Subirats und Unsichtbare Massen von Susanne Lüdemann haben den Zusammenhang zwischen Massen und Medien in Masse und Macht problematisiert. 6 Subirats ist zum ersten Mal den Publikumsmassen der elektronischen Medien mittels einiger Begriffe von Masse und Macht nachgegangen. Aber er hat die klassischen Medien der Zeitung und Zeitschrift, die Canetti selber unter der Kategorie der»hetzmasse«beiläufig behandelt, ganz übersehen. Es ist Lüdemann gelungen, die Unsichtbarkeit der Massen unter Berücksichtigung der Medien zu erhellen:»die Sichtbarkeit von Massen ist stets an Medien gebunden, d.h. an die Produktion von Imagines.«7 Ein kleiner Essay Masse, Medium und Macht von Robert Menasse befragt auch die Beobachtbarkeit der Massen und die Medienproblematik in Masse und Macht. 8 Der Titel und der Ausgangspunkt seines Essays haben mit unserer Analyse viel zu tun, aber in seinem Versuch fehlen leider medientheoretische Überlegungen. Was die Problematik der Massen und Medien in Masse und Macht betrifft, hat die Gesellschaft für Masse und Macht-Forschung in Wien 1998 ein internationales Symposium über das Thema Masse und Macht im globalen Dorf veranstaltet und die Ergebnisse als Sammelband veröffentlicht. Bemerkenswert ist, dass Eric McLuhan, der Sohn McLuhans, in seinem Beitrag die»elektrische Masse«aufgrund von Einsichten in Masse und 6 Subirats, Eduardo:»Die elektronische Masse«(Übersetzt von Curt Meyer- Clason/Rudolf von Bitter), in: Michael Krüger (Hg.), Einladung zur Verwandlung. Essays zu Elias Canettis Masse und Macht, München/Wien: Carl Hanser 1995, S ; Lüdemann, Susanne:»Unsichtbare Massen«, in: Inge Münz- Koenen/Wolfgang Schäffner (Hg.), Masse und Medium. Verschiebungen in der Ordnung des Wissens und der Ort der Literatur 1800/2000, Berlin: Akademie Verlag 2002, S Ebd., S Menasse, Robert: Masse, Medium und Macht, in: ders.: Erklär mir Österreich. Essays zur österreichischen Geschichte. Frankfurt a.m.: Suhrkamp 2000, S
13 12 MASSE, MACHT UND MEDIUM Macht untersucht. 9 Sein Versuch ist sehr aufschlussreich, auch wenn er auf die Canetti-Rezeption bei seinem Vater nicht direkt eingegangen ist. Peter Friedrichs Dissertation Die Rebellion der Masse im Textsystem. Die Sprache der Gegenwissenschaft in Elias Canettis Masse und Macht, die die prekäre Beziehung zwischen Schreibverfahren und Themenkomplexen in Masse und Macht mit Foucaults Begriff der Gegenwissenschaft charakterisiert, spielt nicht nur in der neueren Canetti-Forschung eine führende Rolle, 10 Friedrichs umfassende Arbeit ist auch für die vorliegende Untersuchung von großer Bedeutung. Sie ist fast die einzige Forschungsliteratur, die Canettis Einfluss auf McLuhan konkret berücksichtigt. 11 Er bedenkt auch die Möglichkeit, dass Canettis Schreibweise und Denkmethode moderne Medientheoretiker wie McLuhan beeinflusst haben könnte. 12 Es gibt noch einen außergewöhnlichen Literaturwissenschaftler und Soziologen, der die große Tragweite von Masse und Macht sehr früh erkannt hat: Klaus Theweleit bezieht sich in seiner Studie Männerphantasien von 1977/78 über die faschistische Mentalität explizit auf Canettis Massen- und Machttheorie. In einem neueren Artikel über Canetti stellt er ferner die Gültigkeit des Massen-Begriffs in Frage und beruft sich auf McLuhan, Deleuze und Guattari, die ebenfalls Masse und Macht mehrmals erwähnt haben. 13 Theweleit hat nicht nur über Canettis Masse und Macht geschrieben, son- 9 McLuhan, Eric:»Die Anatomie der elektrischen Masse«(Übersetzt von Liesl Körbler), in: John Pattillo-Hess/Mario R. Smole (Hg.), Masse und Macht im globalen Dorf, Wien: Löcker 1999, S Vgl. Lüdemann, Susanne: Vorwort, in: dies. (Hg.), Der Überlebende und sein Doppel. Kulturwissenschaftliche Analysen zum Werk Elias Canettis. Freiburg i. Br., u. a.: Rombach 2008, S. 13f. 11 Ausführlich dazu vgl. das dritte Kapitel der vorliegenden Arbeit. 12 Vgl. Friedrich, Peter: Die Rebellion der Masse im Textsystem. Die Sprache der Gegenwissenschaft in Elias Canettis Masse und Macht, München: Wilhelm Fink 1999, S Über einen methodischen Vergleich bei Canetti und McLuhan vgl. 3.7 der vorliegenden Arbeit. 13 Theweleit, Klaus: Canettis Masse-Begriff: Verschwinden der Masse? Masse & Serie, in: ders.: Ghosts. Drei leicht inkorrekte Vorträge, Frankfurt a.m.: Stroemfeld/Roter Stern 1998, S Vgl. auch das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit.
14 EINLEITUNG 13 dern Canettis Einsichten kritisch aufgenommen und mit Masse und Macht seine eigenen Gedanken entwickelt. In meiner Arbeit soll dementsprechend die Rezeptionsgeschichte von Masse und Macht beachtet werden. Während die oben genannten Forschungen sich auf Masse und Macht konzentrierten, werden in der vorliegenden Untersuchung auch Canettis literarische Werke wie der Roman Die Blendung und der Reisebericht Die Stimmen von Marrakesch unter Berücksichtigung von seinen anderen Essays und Aufzeichnungen mit McLuhans Medientheorie analysiert. Hier sollen auch biographische Informationen umfassend herangezogen werden, um Canettis Einstellung und Verhältnis zu Medien zu beleuchten. Im Jahr 2005, also zu Canettis 100. Geburtsjahr, erschien die umfangreiche Biographie von Sven Hanuschek, die zum ersten Mal Canettis literarische Nachlässe in Zürich systematisch und gründlich auswertete. Diese Biographie hat auch viele Hinweise dazu geliefert, wie Canetti in seinem literarischen und privaten Leben mit neueren Medien wie Radio, Kino, Fernsehen und Computer umgegangen ist. Zudem hat Canetti zeitgenössische Ereignisse wie den Vietnamkrieg in den Medien aufmerksam verfolgt und in seinen letzten Jahren auch Interesse für die Computer-Technologie gezeigt. 14 Im literarischen Bereich hat er das Medium des Radios für seine Autorenlesungen genutzt und im Jahr 1968 sogar eine Fernsehsendung über sich zugelassen KÖRPER, MEDIEN UND ANTHROPOLOGIE Die vorliegende Untersuchung besteht aus drei Hauptteilen. Im ersten Kapitel wird Canettis erster und einziger Roman Die Blendung im Kontext der Gutenberg-Galaxis von McLuhan interpretiert. In diesem Kapitel handelt es sich darum zu zeigen, wie der»büchermensch«und seine Bibliothek mit dem Phänomen Masse und Macht zusammenhängen. Der Romanheld Peter Kien, der Büchermensch, gewinnt seine Macht durch seine Bibliothek als Büchermasse. Die Blendung kann als ein Roman gelesen werden, der ein 14 Hanuschek, Sven: Elias Canetti. Biographie, München/Wien: Carl Hanser 2005, S Ebd., S. 517.
15 14 MASSE, MACHT UND MEDIUM Schicksal des typographisch geprägten Augenmenschen thematisiert, der mit der Erfindung der Drucktechnologie von Gutenberg zu tun hat. Das zweite Kapitel setzt sich mit der akustischen Problematik bei Canetti auseinander. Dabei wird vor allem sein Reisebericht Die Stimmen von Marrakesch analysiert, in dem das akustische Erlebnis von fremden Stimmen im Zentrum steht. Canettis Aufzeichnungen nach einer Reise, die den Aufenthalt in Marrakesch anhand akustischer Eindrücke memorieren, können als eine literarische Wiedergabe des»akustischen Raumes«(McLuhan) gedeutet werden. In diesem Kapitel wird nicht nur das Werk Die Stimmen von Marrakesch im Hinblick auf die Medientheorie McLuhans analysiert, sondern auch die Beziehung zwischen Canetti und Karl Kraus untersucht. Für Canetti war Kraus ein Machthaber, der seine Publikumsmasse mit seinen Vorlesungen faszinieren konnte, zugleich aber ein Vorbild, indem er verstand, durch Stimmen die Hörerschaft zu bezaubern. Anders als Kraus hat Canetti vielfach audiovisuelle Medien benutzt, um sein Werk und seine Stimmen auf Kassette oder CD aufzunehmen. Außerdem wurden die meisten Werke im Radio als Massenmedium gesendet. Canettis Werk bleibt somit auch in der Repräsentation durch Canettis eigene Stimme erhalten. Das zweite Kapitel geht schließlich auf die Bedeutung von Massenmedien wie die des Radios für Canetti ein. Die Hauptaufgabe des dritten Kapitels besteht darin, die Canetti- Rezeption bei McLuhan in Bezug auf die Ausweitungen des Körpers durch Medientechnik nachzuvollziehen und Canettis Masse und Macht mit Mc- Luhans Medientheorie umfassend zu vergleichen. 16 Masse und Macht ist eine wichtige Quelle für McLuhans Medientheorie, in der bestimmte Medientechniken, die auch menschliche Tätigkeiten im Zusammenhang mit der 16 Was die McLuhan-Forschung angeht, beruht die vorliegende Untersuchung hauptsächlich auf Diskussionen und Ergebnissen der Medienwissenschaften im deutschsprachigen Raum. Zur neueren McLuhan-Forschung gehören: Derrick de Kerckhove/Martina Leeker/Kerstin Schmidt (Hg.), McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert. Bielefeld: transcript 2008; Bohrer, Clemens: Babel oder Pfingsten? Elektronische Medien in der Perspektive von Marshall McLuhan, Stuttgart: Schwabenverlag 2009; Grampp, Sven: Marshall McLuhan. Eine Einführung, Konstanz/München: UVK Diese Forschungen sind für meine Analyse nützlich, auch wenn in ihnen sich keine Erwähnung Canettis findet.
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